Ich bin am Meer. Spüre den Sand unter meinem Körper und starre in die Ferne. Die Wellen kommen näher, bis zu meinen Füßen und ziehen sich dann wieder zurück. Ich betrachte den grauen Himmel und die Wolken, die immer weiterziehen.
Auf einmal habe ich das Gefühl nicht mehr atmen zu können, keine Luft mehr zu kriegen.
Die Welt fühlt sich falsch an. Es fühlt sich falsch an hier am Strand zu sitzen. Der Schmerz in meinem Herzen verteilt sich auf Arme und Beine, nimmt meinen Kopf und meine Gedanken für sich ein.
Nachts kann ich nicht schlafen. Ständig schrecke ich wieder von meinem Bett hoch mit geöffnetem Mund, weil ich wieder kurz davor bin loszuschreien. Doch ich halte es immer zurück.
In meinem Kopf fühlt es sich düster an. Wie in einer wirren Schattenwelt. Es fällt mir schwer die Gedanken zu ordnen. Nur eine Erinnerung ist klar in meinem Kopf. Von Anfang bis Ende. Der Moment, den ich immer wieder vor mir sehe. Der mich in den Nächten wachhält und mir den Schlaf raubt. Von neuem überfluten mich die Erinnerungen.
Die Sonne schien. Lou und ich rannten durch die Straßen. Lou war viel weiter vor mir, denn Lou rannte immer schneller als ich. Auch wenn ich jedes Mal vergeblich versuchte sie einzuholen. Letztendlich hielt Lou doch immer wieder an und wartete grinsend an der nächsten Straßenecke auf mich. Doch heute war dem nicht so. Meine Füße sprinteten durch die Hitze und ich keuchte völlig außer Atem. Was vermutlich daran lag, dass Lou und ich uns vorher gestritten hatten. Denn sie hatte sich heute in der Pause zu den Rauchern aus unserer Klasse gestellt.
Man fand sie immer auf der anderen Seite des Schulhofes in eine Qualmwolke gehüllt. Sie waren unscheinbar, denn sie redeten weder in der Pause noch im Unterricht. Dann standen wir also da. In Rauch und Qualm und Zigaretten. Es roch widerlich, aber ich verkniff es mir trotzdem die Luft anzuhalten.
Lou hatte mir vorher nicht erklärt was sie von ihnen wollte. Ich hörte es erst jetzt, als sie fragte: „Kann ich eine Kippe?“ Jemand von ihnen brummte und reichte ihr wortlos eine Zigarette. Lou nahm sie schnell und rauchte einen Zug. Dann gab sie sie zurück ohne mich anzuschauen. Das alles dauerte nur ein paar Sekunden und ich stand mit fassungslosem Gesichtsausdruck da. Danach kamen die Worte unkontrolliert aus meinem Mund heraus. Und es waren keine netten. Ich verstand Lou einfach nicht.
Jetzt lief sie vor mir weg und der Abstand wurde immer größer. Ich war nie sportlich gewesen.
Da kam die große Straße, über die die Autos immer so schnell fuhren, so wie heute auch. Lou rannte einfach weiter herüber und ich blieb erschöpft stehen, weil die Ampel schon wieder rot wurde. Und so sah ich alles genau mit an.
Wie das grau Auto nicht anhielt, einfach weiterfuhr und den Menschen übersah, der da auf der Straße lief. Wie Lou das Auto erblickte und vor Schock plötzlich stehen blieb. Und dann trafen sie aufeinander. Lou sackte in sich zusammen, wie eine Puppe, die fallen gelassen wird. Augenblicklich stoppte das Auto. Um Lou herum breitet sich Blut aus. Menschen stiegen aus ihren Autos und kamen hingerannt. Jemand rief den Krankenwagen. Und ich stand einfach nur da, starrte auf Lou. Und dann wurde auch für mich alles schwarz. Wie ein Licht, das auf einmal ausgeschaltet wird.
Alle sagen mir dass es okay ist. Ich muss den Schock erst mal verarbeiten. Ich muss Zeit bekommen dieses Ereignis hinter mir zu lassen. Aber das kann ich nicht. Wie soll man so etwas denn hinter sich lassen? Die Anderen haben keine Ahnung, weder meine anderen paar Freunde, noch meine Eltern. Sie waren nicht dabei, sie haben nicht Lous erschrockenen Blick gesehen, als ihr klar wurde, dass es kein Zurück mehr geben würde, dass ihr Schicksal schon besiegelt war.
Wie soll ich damit klarkommen?
Gerade jetzt, da sie im Krankenhaus liegt und ihre Nahrung über Schläuche bekommt. Jetzt da sie im Koma liegt. Ich fange an zu zittern. Keiner weiß wie es ist.
Eine seltsame Melodie dringt in mein Ohr. Die Stimme, von der sie gesungen wird, klingt unnatürlich hoch. Ist es überhaupt eine Stimme? Ich kann nichts sehen und spüre auch nicht wirklich etwas.
Die Melodie erfüllt meine ganzen Gedanken.
Ich fühle eine Schwere in mir die mich zurück ins Dunkel zieht. Sie verspricht Sicherheit. Irgendwie denke ich, dass es sich so anfühlen muss zu schweben.
Ich öffne die weiße Tür, um in einen genauso weißen, sterilen Raum zu treten. Wieder fange ich an zu zittern. Das tue ich mittlerweile ziemlich oft. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Die besorgte Hand meiner Mutter.
„Es ist alles gut.“ Versucht sie mich zu beruhigen. Ist es nicht. Es ist nicht gut. Ich vermeide sie anzuschauen, als ich die Hand abschüttle. Dann gehe ich auf wackligen Beinen weiter in den Raum hinein. Am Ende ist ein kleines Fenster. Und ein Bett. Ich presse die Lippen zusammen.
Dort liegt Lou, unter einer Decke, die so wirkt, als solle sie lebendig darunter begraben werden. Mit schmalen Schläuchen, die an ihrem Körper überall in die Haut gehen. Auf dem kleinen Tisch neben ihr liegen Blumensträuße in Vasen und Karten. Aber warum? Was hat es für einen Sinn ihr Geschenke und Karten auf den Tisch zu legen, wenn sie sie doch sowieso nie sehen wird?
Der ganze Besuch ist sinnlos. Sie kann mich jetzt ja auch nicht sehen. Alles ist sinnlos.
In diesem Moment breche ich in Tränen aus. Sie laufen mir das Gesicht herunter. Ich halte mir die Hand vor den Mund um meine Schluchzer zu stoppen. Aber sie hören nicht auf.
Ich bin nicht traurig. Ich bin wütend auf mich selbst. Weil ich diesen bescheuerten Streit angefangen habe. Deshalb ist Lou schneller gerannt als sonst und deshalb hat sie nicht angehalten. Deshalb wurde sie vom Auto erwischt.
Der Schmerz auf dieses Wissen ist unerträglich. Ich bin Schuld. Nachdem mich die Erkenntnis getroffen hat, kann ich es einfach nicht länger in diesem Raum aushalten. Ich wende mich ab und renne.
Aber ich weiß, dass ich niemals so schnell wie Lou sein werde.
Etwas reißt mich aus dem Nichts. Aus dem friedlichen, geborgenem Zustand, in dem ich fast nicht denken muss. Ich fühle mich unruhig. Hin und wieder meine ich Schreie zu hören, aber ich kann sie nicht zuordnen. Das einzige, was ich jetzt sehe, ist ein merkwürdiges, waberndes Grau. Die Farbe erinnert mich an etwas. Aber ich kann den Gedanken nicht festhalten, und genauso schnell wie er gekommen ist, entgleitet er mir wieder.
Ich komme nicht mehr. Ich kann nicht in dieses Krankenhaus. Mit diesen Gedanken verbringe ich meine nächsten Tage, während ich und meinem Zimmer liege. Und aus Tagen werden Wochen.
Sie sagen ich muss hingehen. Ich darf mich nicht weiter verkriechen.
Dann stehe ich wieder in dem weißen, kahlen Raum. Reglos, während die Tür sich hinter mir schließt. Sie liegt genauso da wie noch vor ein paar Monaten. Ich weiß nicht mehr wie lange es her ist. Aber ich mache keine Anstalten zu reden oder näher zu ihrem Bett zu treten.
Warum auch? Sie hört mich nicht.
Ich habe irgendetwas vergessen. Aber ich weiß nicht was es war. Also bemühe ich mich nicht weiter darum die Erinnerung hervorzuholen. Denn ich bin mir sicher, dass es keine schöne war.
Ich stehe immer noch da und weiß nicht was ich tun soll. Schließlich sage ich doch etwas, weil ich mich sonst noch schlechter fühlen würde. Und weil es von mir erwartet wird. Dabei habe ich sie schon längst aufgegeben. „Wach auf. Bitte Lou.“ Sofort verstumme ich wieder, weil es sich so falsch anhört, weil es so sinnlos ist. Am liebsten würde ich wieder weinen.
Aber auch das ist sinnlos. Also schlucke ich die Tränen herunter. Während der Schmerz mich von innen zerstört.
Mir kommt es vor als würde ich die meiste Zeit nicht bei Bewusstsein sein, denn die ständig habe ich das Gefühl aus dem Nichts aufzutauchen. Als hätte ich vorher gar nicht existiert. Selbst wenn, weiß ich nicht wirklich wo ich bin. Und was ich hier mache.
Ich komme zum dritten Mal. Und mittlerweile ist ein Jahr vergangen. Alle fragen sich, warum ich Lou so selten besuche. Meine Eltern haben mich dazu gezwungen eine Therapie zu machen. Aber ich sage dort niemals etwas. Auch in der Schule schweige ich. Und wenn mich jemand etwas fragt, antworte ich nicht. Sie haben alle gesagt, dass ich Zeit bekommen muss, dass Ereignis hinter mir zu lassen. Aber ich kann es nicht hinter mir lassen. Ein Jahr ist vergangen und ich kann mich immer noch an den Moment erinnern, in dem die Reifen quietschten, in dem Lou hinfielt und sich die Blutlache ausbreitete. An alles. Und es tut immer noch genauso weh wie in dem Moment.
Das Ereignis macht mich kaputt. Genauso wie es mich kaputt macht Lou zu sehen.
Deshalb komme ich nur wenn sie es sagen. Auch dort rede ich nicht. Mittlerweile ist mir vieles klar geworden.
Nicht nur mit Lou zu sprechen, ist sinnlos, ihr zu sagen, dass sie zurückkommen soll, sondern das Leben ist sinnlos. Alles. Die Welt der Menschen ist klein und wenn wir alle einmal tot sein werden, wird das nichts ändern.
Wir haben nicht die Macht irgendetwas zu beeinflussen.
So sitze ich schweigend auf dem Plastikstuhl, den sie neben das Bett gestellt haben, und schaue aus dem winzigen Fenster.
Ich sehe verschwommen, aber ich sehe etwas. Immerhin. Ein Mädchen, das vor mir auf einem Stuhl sitzt. Da löst sich das Bild auch schon wieder auf. Ins Schwarz.
Seit meinem letzten Besuch sind wieder mehrere Monate vergangen. Aber ich will nicht mehr hingehen. Es bringt einfach nichts.
Ich sitze auf dem Boden und halte den kalten, scharfen Gegenstand in der Hand. Schnell führe ich ihn zu meinem Arm. Und der Scherz, sowie das Blut kommen. Erleichtert lockert sich mein ganzer Körper, wie befreit von der Ablenkung. Ich schließe die Augen und versuche das Gefühl festzuhalten. Doch so schnell wie der lichte Moment gekommen ist, ist er auch schon wieder weg. In diesem Moment klopft es an der Tür. Ich habe angeschlossen. Die Klinge verschwindet in meiner Schublade. Dann öffne ich die Tür. Dort steht meine Mutter. Ihre blauen Augen sehen ausdruckslos aus. Sie lächelt nicht mehr besonders oft. Ihr schmaler Mund öffnet sich und sie beginnt auf mich einzureden. Die Worte prallen an mir ab. Ich starre auf den Boden und warte darauf, dass sie weggeht. Aber das tut sie nicht. Sie nimmt mich mit sich.
Nach einiger Zeit merke ich, dass ich in einem Auto sitze. Und ich habe keine Ahnung, was vorher passiert ist. Leblos starren meine Augen nach draußen auf die vorbeiziehende Landschaft, nehmen sie gar nicht wirklich war.
Irgendwas ist heute anders. Ich fühle mich müde und erschöpft.
Wir gehen wieder in den weißen Raum. Immer noch reden sie, reden und reden. Auf einmal begreife ich es. Die Maschinen werden abgestellt. Lou wird nie wieder aufwachen. Sie wird tot sein. Es wird zuende gehen.
Ich atme. Noch. Dann kommt die Dunkelheit wieder und zieht mich in ihre Tiefen. Ich sterbe.
Auf einmal habe ich das Gefühl nicht mehr atmen zu können, keine Luft mehr zu kriegen.
Die Welt fühlt sich falsch an. Es fühlt sich falsch an hier am Strand zu sitzen. Der Schmerz in meinem Herzen verteilt sich auf Arme und Beine, nimmt meinen Kopf und meine Gedanken für sich ein.
Nachts kann ich nicht schlafen. Ständig schrecke ich wieder von meinem Bett hoch mit geöffnetem Mund, weil ich wieder kurz davor bin loszuschreien. Doch ich halte es immer zurück.
In meinem Kopf fühlt es sich düster an. Wie in einer wirren Schattenwelt. Es fällt mir schwer die Gedanken zu ordnen. Nur eine Erinnerung ist klar in meinem Kopf. Von Anfang bis Ende. Der Moment, den ich immer wieder vor mir sehe. Der mich in den Nächten wachhält und mir den Schlaf raubt. Von neuem überfluten mich die Erinnerungen.
Die Sonne schien. Lou und ich rannten durch die Straßen. Lou war viel weiter vor mir, denn Lou rannte immer schneller als ich. Auch wenn ich jedes Mal vergeblich versuchte sie einzuholen. Letztendlich hielt Lou doch immer wieder an und wartete grinsend an der nächsten Straßenecke auf mich. Doch heute war dem nicht so. Meine Füße sprinteten durch die Hitze und ich keuchte völlig außer Atem. Was vermutlich daran lag, dass Lou und ich uns vorher gestritten hatten. Denn sie hatte sich heute in der Pause zu den Rauchern aus unserer Klasse gestellt.
Man fand sie immer auf der anderen Seite des Schulhofes in eine Qualmwolke gehüllt. Sie waren unscheinbar, denn sie redeten weder in der Pause noch im Unterricht. Dann standen wir also da. In Rauch und Qualm und Zigaretten. Es roch widerlich, aber ich verkniff es mir trotzdem die Luft anzuhalten.
Lou hatte mir vorher nicht erklärt was sie von ihnen wollte. Ich hörte es erst jetzt, als sie fragte: „Kann ich eine Kippe?“ Jemand von ihnen brummte und reichte ihr wortlos eine Zigarette. Lou nahm sie schnell und rauchte einen Zug. Dann gab sie sie zurück ohne mich anzuschauen. Das alles dauerte nur ein paar Sekunden und ich stand mit fassungslosem Gesichtsausdruck da. Danach kamen die Worte unkontrolliert aus meinem Mund heraus. Und es waren keine netten. Ich verstand Lou einfach nicht.
Jetzt lief sie vor mir weg und der Abstand wurde immer größer. Ich war nie sportlich gewesen.
Da kam die große Straße, über die die Autos immer so schnell fuhren, so wie heute auch. Lou rannte einfach weiter herüber und ich blieb erschöpft stehen, weil die Ampel schon wieder rot wurde. Und so sah ich alles genau mit an.
Wie das grau Auto nicht anhielt, einfach weiterfuhr und den Menschen übersah, der da auf der Straße lief. Wie Lou das Auto erblickte und vor Schock plötzlich stehen blieb. Und dann trafen sie aufeinander. Lou sackte in sich zusammen, wie eine Puppe, die fallen gelassen wird. Augenblicklich stoppte das Auto. Um Lou herum breitet sich Blut aus. Menschen stiegen aus ihren Autos und kamen hingerannt. Jemand rief den Krankenwagen. Und ich stand einfach nur da, starrte auf Lou. Und dann wurde auch für mich alles schwarz. Wie ein Licht, das auf einmal ausgeschaltet wird.
Alle sagen mir dass es okay ist. Ich muss den Schock erst mal verarbeiten. Ich muss Zeit bekommen dieses Ereignis hinter mir zu lassen. Aber das kann ich nicht. Wie soll man so etwas denn hinter sich lassen? Die Anderen haben keine Ahnung, weder meine anderen paar Freunde, noch meine Eltern. Sie waren nicht dabei, sie haben nicht Lous erschrockenen Blick gesehen, als ihr klar wurde, dass es kein Zurück mehr geben würde, dass ihr Schicksal schon besiegelt war.
Wie soll ich damit klarkommen?
Gerade jetzt, da sie im Krankenhaus liegt und ihre Nahrung über Schläuche bekommt. Jetzt da sie im Koma liegt. Ich fange an zu zittern. Keiner weiß wie es ist.
Eine seltsame Melodie dringt in mein Ohr. Die Stimme, von der sie gesungen wird, klingt unnatürlich hoch. Ist es überhaupt eine Stimme? Ich kann nichts sehen und spüre auch nicht wirklich etwas.
Die Melodie erfüllt meine ganzen Gedanken.
Ich fühle eine Schwere in mir die mich zurück ins Dunkel zieht. Sie verspricht Sicherheit. Irgendwie denke ich, dass es sich so anfühlen muss zu schweben.
Ich öffne die weiße Tür, um in einen genauso weißen, sterilen Raum zu treten. Wieder fange ich an zu zittern. Das tue ich mittlerweile ziemlich oft. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Die besorgte Hand meiner Mutter.
„Es ist alles gut.“ Versucht sie mich zu beruhigen. Ist es nicht. Es ist nicht gut. Ich vermeide sie anzuschauen, als ich die Hand abschüttle. Dann gehe ich auf wackligen Beinen weiter in den Raum hinein. Am Ende ist ein kleines Fenster. Und ein Bett. Ich presse die Lippen zusammen.
Dort liegt Lou, unter einer Decke, die so wirkt, als solle sie lebendig darunter begraben werden. Mit schmalen Schläuchen, die an ihrem Körper überall in die Haut gehen. Auf dem kleinen Tisch neben ihr liegen Blumensträuße in Vasen und Karten. Aber warum? Was hat es für einen Sinn ihr Geschenke und Karten auf den Tisch zu legen, wenn sie sie doch sowieso nie sehen wird?
Der ganze Besuch ist sinnlos. Sie kann mich jetzt ja auch nicht sehen. Alles ist sinnlos.
In diesem Moment breche ich in Tränen aus. Sie laufen mir das Gesicht herunter. Ich halte mir die Hand vor den Mund um meine Schluchzer zu stoppen. Aber sie hören nicht auf.
Ich bin nicht traurig. Ich bin wütend auf mich selbst. Weil ich diesen bescheuerten Streit angefangen habe. Deshalb ist Lou schneller gerannt als sonst und deshalb hat sie nicht angehalten. Deshalb wurde sie vom Auto erwischt.
Der Schmerz auf dieses Wissen ist unerträglich. Ich bin Schuld. Nachdem mich die Erkenntnis getroffen hat, kann ich es einfach nicht länger in diesem Raum aushalten. Ich wende mich ab und renne.
Aber ich weiß, dass ich niemals so schnell wie Lou sein werde.
Etwas reißt mich aus dem Nichts. Aus dem friedlichen, geborgenem Zustand, in dem ich fast nicht denken muss. Ich fühle mich unruhig. Hin und wieder meine ich Schreie zu hören, aber ich kann sie nicht zuordnen. Das einzige, was ich jetzt sehe, ist ein merkwürdiges, waberndes Grau. Die Farbe erinnert mich an etwas. Aber ich kann den Gedanken nicht festhalten, und genauso schnell wie er gekommen ist, entgleitet er mir wieder.
Ich komme nicht mehr. Ich kann nicht in dieses Krankenhaus. Mit diesen Gedanken verbringe ich meine nächsten Tage, während ich und meinem Zimmer liege. Und aus Tagen werden Wochen.
Sie sagen ich muss hingehen. Ich darf mich nicht weiter verkriechen.
Dann stehe ich wieder in dem weißen, kahlen Raum. Reglos, während die Tür sich hinter mir schließt. Sie liegt genauso da wie noch vor ein paar Monaten. Ich weiß nicht mehr wie lange es her ist. Aber ich mache keine Anstalten zu reden oder näher zu ihrem Bett zu treten.
Warum auch? Sie hört mich nicht.
Ich habe irgendetwas vergessen. Aber ich weiß nicht was es war. Also bemühe ich mich nicht weiter darum die Erinnerung hervorzuholen. Denn ich bin mir sicher, dass es keine schöne war.
Ich stehe immer noch da und weiß nicht was ich tun soll. Schließlich sage ich doch etwas, weil ich mich sonst noch schlechter fühlen würde. Und weil es von mir erwartet wird. Dabei habe ich sie schon längst aufgegeben. „Wach auf. Bitte Lou.“ Sofort verstumme ich wieder, weil es sich so falsch anhört, weil es so sinnlos ist. Am liebsten würde ich wieder weinen.
Aber auch das ist sinnlos. Also schlucke ich die Tränen herunter. Während der Schmerz mich von innen zerstört.
Mir kommt es vor als würde ich die meiste Zeit nicht bei Bewusstsein sein, denn die ständig habe ich das Gefühl aus dem Nichts aufzutauchen. Als hätte ich vorher gar nicht existiert. Selbst wenn, weiß ich nicht wirklich wo ich bin. Und was ich hier mache.
Ich komme zum dritten Mal. Und mittlerweile ist ein Jahr vergangen. Alle fragen sich, warum ich Lou so selten besuche. Meine Eltern haben mich dazu gezwungen eine Therapie zu machen. Aber ich sage dort niemals etwas. Auch in der Schule schweige ich. Und wenn mich jemand etwas fragt, antworte ich nicht. Sie haben alle gesagt, dass ich Zeit bekommen muss, dass Ereignis hinter mir zu lassen. Aber ich kann es nicht hinter mir lassen. Ein Jahr ist vergangen und ich kann mich immer noch an den Moment erinnern, in dem die Reifen quietschten, in dem Lou hinfielt und sich die Blutlache ausbreitete. An alles. Und es tut immer noch genauso weh wie in dem Moment.
Das Ereignis macht mich kaputt. Genauso wie es mich kaputt macht Lou zu sehen.
Deshalb komme ich nur wenn sie es sagen. Auch dort rede ich nicht. Mittlerweile ist mir vieles klar geworden.
Nicht nur mit Lou zu sprechen, ist sinnlos, ihr zu sagen, dass sie zurückkommen soll, sondern das Leben ist sinnlos. Alles. Die Welt der Menschen ist klein und wenn wir alle einmal tot sein werden, wird das nichts ändern.
Wir haben nicht die Macht irgendetwas zu beeinflussen.
So sitze ich schweigend auf dem Plastikstuhl, den sie neben das Bett gestellt haben, und schaue aus dem winzigen Fenster.
Ich sehe verschwommen, aber ich sehe etwas. Immerhin. Ein Mädchen, das vor mir auf einem Stuhl sitzt. Da löst sich das Bild auch schon wieder auf. Ins Schwarz.
Seit meinem letzten Besuch sind wieder mehrere Monate vergangen. Aber ich will nicht mehr hingehen. Es bringt einfach nichts.
Ich sitze auf dem Boden und halte den kalten, scharfen Gegenstand in der Hand. Schnell führe ich ihn zu meinem Arm. Und der Scherz, sowie das Blut kommen. Erleichtert lockert sich mein ganzer Körper, wie befreit von der Ablenkung. Ich schließe die Augen und versuche das Gefühl festzuhalten. Doch so schnell wie der lichte Moment gekommen ist, ist er auch schon wieder weg. In diesem Moment klopft es an der Tür. Ich habe angeschlossen. Die Klinge verschwindet in meiner Schublade. Dann öffne ich die Tür. Dort steht meine Mutter. Ihre blauen Augen sehen ausdruckslos aus. Sie lächelt nicht mehr besonders oft. Ihr schmaler Mund öffnet sich und sie beginnt auf mich einzureden. Die Worte prallen an mir ab. Ich starre auf den Boden und warte darauf, dass sie weggeht. Aber das tut sie nicht. Sie nimmt mich mit sich.
Nach einiger Zeit merke ich, dass ich in einem Auto sitze. Und ich habe keine Ahnung, was vorher passiert ist. Leblos starren meine Augen nach draußen auf die vorbeiziehende Landschaft, nehmen sie gar nicht wirklich war.
Irgendwas ist heute anders. Ich fühle mich müde und erschöpft.
Wir gehen wieder in den weißen Raum. Immer noch reden sie, reden und reden. Auf einmal begreife ich es. Die Maschinen werden abgestellt. Lou wird nie wieder aufwachen. Sie wird tot sein. Es wird zuende gehen.
Ich atme. Noch. Dann kommt die Dunkelheit wieder und zieht mich in ihre Tiefen. Ich sterbe.