Liebe und andere Peinlichkeiten

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Anonym

Gast
Liebe und andere Peinlichkeiten

Ich bin ein Versager.
Alles, was ich anfasse, geht schief und nichts, was ich beginne, bringe ich jemals zu Ende. Schon gar nicht zu einem guten. Ich bin der traurige Beweis einer mißglückten Schwangerschaftsverhütung und einer durchzechten Nacht seitens meiner Mutter und meinem Erzeuger und nichts von dem, was mir bis zu diesem Tag geschah, konnte mich bisher vom Gegenteil überzeugen. So wie heute war es schon immer.
Mein Vater, der von dem Kuckucksei nichts ahnte, war auf Grund seiner eigenen Komplexe schon seit meiner Geburt der festen Überzeugung, dass ich nichts taugte. Ich konnte nicht. Aus Prinzip.
Leider war ich auch keine Zierde. Was Schönheit und deren Gegenteil betraf, so lernte ich schnell. Es lag sozusagen in der Natur der Tatsache, denn ich kam ganz ohne Haare auf die Welt, dafür jedoch mit zwei schielenden Augen, die in exakt aufeinander abgestimmtem Winkel auf meinen Nasenrücken zeigten. Ein paar mitfühlende Ärzte versuchten, diesen Schaden bald nach meiner Geburt zu richten. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, doch ich war dazu verdammt, für die nächsten Jahre Brillen mit abwechselnd zugeklebten Gläsern zu tragen, die mir mehr Spott einbrachten, als ich vertrug. Ich hasste sie aus ganzem Herzen und ließ einige davon heimlich verschwinden. Einmal verbuddelte ich sie im Sandkasten auf dem Spielplatz, ein anderes Mal versenkte ich sie bei einer Dampferfahrt in der Elbe. Doch es sollte mir alles nichts nützen. Der Ersatz war schnell besorgt, beklebt und auf meine Nase gesetzt.
Beim dritten Versuch erwischte mich mein Vater, als ich sie gerade in die Tiefen unseres Mülleimers versenkt hatte. Da er mich ohne Brille sah, roch er den Braten sofort. Wortlos kniete er nieder und wühlte mit schaufelnden Händen zwischen Damenbinden, Zigarettenasche und Wurstpelle. Aus Verlegenheit angelte ich mir verstohlen einen Apfel und versuchte, beim Abbeißen so wenig Geräusch wie möglich zu verursachen. Da mein Vater ein Choleriker erster Güte war, hatte ich Grund, das Ende seiner Suche zu fürchten, doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Ich presste die ganze Welt in den Apfel zwischen meinen Händen und bemühte mich, nicht daran zu denken. Doch da baumelte der Beweis meiner Tat bereits vor meinen Augen. Im selben Moment zerplatze die Ohrfeige an meinem Schädel, dass mir die Mütze vom Kopf flog. Schweigend ging er aus der Küche. Er redete drei Tage nicht mit mir.
Meine Mutter nahm ihren Erziehungsauftrag noch ernster. Sie warnte mich eindringlich vor Bakterien auf öffentlichen Toiletten, die mir dort in Scharen auflauerten. Eckenpisser rangierten bei ihr gleich nach dem Schwarzen Mann. Der Umstand, dass beide im selben Atemzug genannt wurden, ließ mich Zeit meiner Kindheit einen ängstlichen Bogen um sie machen. Sie wusch mich bis zu meinem zehnten Lebensjahr selbst, da sie meinen Ansprüchen an Reinlichkeit nicht traute und suchte in der Öffentlichkeit mit Spucke und feuchtem Finger meine Wangen nach vermeintlichem Schmutz ab.
Als ich zehn Jahre alt wurde, ließen meine Eltern sich scheiden und mein Vater verschwand spurlos. Die Psychose meiner Mutter nahm bedenkliche Züge an. Zwanghaft begann sie damit, alles zu zählen, was sie sah. Sie errechnete die Summen und Quersummen von Autoschildern, Hausnummern und Preisschildern und begann damit, die Zahlen in gute und böse einzuteilen. Das Fernsehprogramm war ihr natürlicher Feind, da es ihr täglich die Richtigkeit ihrer bösen Vorahnungen bestätigte. An ungeraden Tagen ging sie nicht mehr aus dem Haus und alles, was keine geraden Beträge hatte, durfte nicht mehr eingekauft werden. Da ich an einem 17. geboren wurde, schloss mich das nicht aus und sie mied mich bis zu dem Tag, an dem sie in die Nervenheilanstalt eingewiesen wurde.
So kam ich zu meinen Großeltern. Mein Großvater war ein vertrocknetes kleines Männlein, das einen absoluten Herrschaftsanspruch pflegte. Davon überzeugte er seine Umwelt mit furchterregenden Wutausbrüchen und strafte jede Art von Mißachtung seiner Hoheit mit lautem Gebrüll und einer ausufernden Gewalt an leblosen Dingen. Meine Großmutter sparte sich jede Bemerkung darüber. Sie war ein ebenso anspruchsvolles, aber weitaus friedfertigeres Wesen. Ihre Werte hießen Sauberkeit, Rechtschaffenheit und Bescheidenheit. Als vierten Hausgenossen gab es einen grünen Wellensittich, den Großvater abgöttisch liebte. Er hätschelte das Tierchen und ließ es aus seinem Mund die zerkauten Brotkrümel picken. Der Vogel wurde elf Jahre alt und langweilte sich nie. Als er starb, sah ich meinen Großvater zum ersten und einzigen Mal weinen. Seine Frau lebte noch fünf Jahre länger.
Doch für mich war die Zeit gekommen, über die Liebe nachzudenken. Ich verlor mein Herz an eine blonde Englischlehrerin und ihre braunen Augen. Mein Benehmen ihr gegenüber war blamabel, denn ich war von Sinnen. Ich klebte an ihr wie ein Hündchen, das schwanzwedelnd um Aufmerksamkeit bettelt und streunte abends vor ihrer Haustür auf und ab. Sie hatte eine Affaire mit unserem Physiklehrer und ich hasste ihn dafür, dass er sie unglücklich machte. In meinen Träumen rettete ich sie auf alle erdenklichen Arten aus dieser Misere. Für mich verstand es sich von selbst, dass man für so viel Heldenmut nur geliebt werden konnte. Ich verfolgte sie hartnäckig drei Jahre lang, doch es sollte mir nichts nützen. Sie wollte nicht gerettet werden.
Auch später war Liebe immer eine Sache, die etwas mit Anstrengung zu tun hatte. Da sich niemand die Mühe machte, mich zu retten, sammelte ich in wechselndem Durchlauf die ärmsten Seelen, die ich fand, um sie von ihrem Leid zu erlösen. Doch auch sie blieben nicht und ließen mich noch leerer zurück als zuvor. Die Zahl meiner Exfrauen hinterließ eine traurige Bilanz und unter dem Strich leuchtet mir bis heute nur die Summe meines Versagens entgegen.
Ich kann weder meine Arbeit noch meine Frauen halten und wenn ich heim kehre, so wartet ein Haufen ungewaschener Wäsche, eine chaotische Küche und einem rümpeliges Zimmer auf mich. Hier begegne ich niemandem. Nicht einmal mir selbst. Und wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, so sage ich: „Danke, ich kann nicht klagen“ und das ist die Wahrheit. Ich kann es einfach nicht.
 

anemone

Mitglied
Hallo A.

So, nun mache ich mir ein Bild von diesem Mann.
Seine schielenden Augen haben es nicht ganz geschafft
den Normalzustand zu erreichen.
In die Ecken pinkelt er schon lange nicht mehr.
Seine zwanghafte Art zu zählen hat seine Mutter ihm hinterlassen und dadurch, dass er es hier preisgibt,
versagt er sich jegliche Anmache von auch nur irgendeinem weiblichen Wesen.
Würde er wenigstens in die Ecke pinkeln, so verwegen.
Ich sähe ein Fünkchen Hoffnung für ihn!

lG
 
Ein bravouröser Text, der vor allem durch die genauen Beobachtungen und stimmigen Formulierungen überzeugt. Er ist bildhaft und doch keineswegs ausschweifend. Die Not des Kindes ist hautnah und doch ohne jede falsche Sentimentalität herübergebracht.

„Der Ersatz war schnell besorgt, beklebt und auf meine Nase gesetzt.“ Solche Sätze gefallen mir. Die Sprache wird souverän gehandhabt. Der Autor schwankt, was die Orthografie angeht, etwas zwischen „ß“ und „ss“, denn wer „dass“ und „hasste“ schreibt, sollte wohl auch „missglückte Schwangerschaft“ statt „mißglückte Schwangerschaft“ schreiben und "Missachtung" statt „Mißachtung“. Den ersten Satz, der zudem so exponiert dasteht, würde ich weglassen. Er ist mir zu explizit, er ist das, was als Urteil im Kopf des Lesers erscheinen mag. Dagegen ist der zweite Satz perfekt und eigentlich doch eine ausgezeichnete Eröffnung, oder?
„Alles, was ich anfasse, geht schief und nichts, was ich beginne, bringe ich jemals zu Ende.“

Der Text geht zwar wie im Flug durch das Leben (Kindheit und dann der spätere Mensch und seine Liebe) und stellt sich mehr als „Abriss“ denn als strukturierte Prosa dar, aber das liegt eben in der Natur des Ich-Erzählers, der sich, so mein erster Eindruck, nicht ganz zwischen Kindheitserzählung und anschließender Erwachsenen-Liebeserfahrung entscheiden kann. Das etwas Sprunghafte im letzten Drittel (ich beschreibe es als Feststellung und nicht unbedingt als Kritik) deutet sich u.a. in Sätze wie diesem an: „Auch später war Liebe immer eine Sache…“

Sehr schön wiederum das Ende, sprachlich fein- und scharfsinnig. Alles in allem: Große Klasse!
Ein Text, der meine Hochachtung hat.

Liebe Grüße

Monfou
 

Anonym

Gast
lieber monfou,

vielen dank an dich fürs lesen und kommentieren.

was die orthografie anbelangt, so gestehe ich, dass ich keienswegs sattelfest bin, was die neue deutsche rechtschreibung betrifft. ich habe extra noch mal im duden nachgesehen und tatsächlich.... mißglückt schreibt man missglückt :-( danke also auch für das schließen meiner bildungslücke :)

auf den ersten satz allerdings bestehe ich, denn er ist der konzentrierte beginn eines abrisses, wie du so schön sagst, an dessen ende das "ich kann nicht" steht und somit ist es für mich rund. ich erlaube mir also, ihn so stehen zu lassen...
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Knapp und dabei unglaublich präzise. Das ist wahre Wortkunst.

Nur einen gaaanz winzigen Stolperer gab es für mich: Der Übergang vom Konkreten (der Englischlehrerin) zum „Einsammeln der armen Seelen" ist zu sprunghaft – sollte da nicht die erste der "Sammlung" nähere Erwähung finden?

PS: Der Titel ist natürlich irreführend – von Liebe ist nur im letzten Drittel die Rede. Sollte im esten Drittel nicht sowas stehen wie: "Ihre Liebe (die der Mutter z.B.) ließ sie sich um mich sorgen – sorgfältig wusch ihre Spucke jeden noch so kleinen Flecke aus dem Gesicht." (Nicht dieser Satz natülrich, aber du weißt schon: irgendwas, was das ganze zu "Liebe der Erziehungsberechtigten" deklariert.)
 

Anonym

Gast
lieber jon

auch an dich einen dank fürs lesen und kommentieren.

ich denke allerdings nicht, dass die erwähnung des wortes "liebe" weiter oben von nöten ist, denn es ist definitv keine da oder besser gesagt nur so etwas, was die eltern darunter verstanden. ich meine, durch die bilder ist dies alles bereits gesagt. außerdem hat liebe für den prot. auch immer etwas mit peinlichen situationen zu tun. auch dies meine ich, dargestellt zu haben.

und um liebe geht es letztendlich während des ganzen textes, vielleicht nur nicht so offensichtlich ;-)
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Natürlich (hab ich hinterher (!) auch gemerkt) geht es im ganzen Text um Liebe, oder das, was mancher dafür hält. Aber: Nach der Überschrift wartet man auf das, was die meisten für Liebe halten, und empfindet alles davor als Vorspiel, als Erklärung. Dann kommt das Wort endlich und innerlich geht der Schalter auf "ah jetzt!". Deshalb mein Vorschlag, das Wort schon vorn zu bringen, um den Denkschalter schon eher auf "ah jetzt!" zu stellen. Alternativ: Das Wort überhaupt nicht benutzen und so den Leser am Ende fragen lassen: Und was hatte das mit Liebe zu tun? Bei so kurzen Texten darf man das, der Text ist noch "fast komplett" da, wenn die Frage auftaucht.. Das wirkt meiner Meinung nach sogar noch besser, weil der Leser zum Noch-mal-kurz-drüber-Nachdenken „gezwungen“ wird.
 



 
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