Meeresmann

Ida Petrat

Mitglied
Sophie machte die besten Parties im ganzen Wohnheim. Der Wein schmeckte süffig, die Musik groovte und die Männer tanzten wie Götter. Ich war gerade zwanzig und studierte Biologie. Das Leben gaukelte mir vor, so einfach zu sein, wie mein kleines Zimmer im Studentenheim. Auf der Party zu Sophies zweiundzwanzigsten Geburtstag stand mir ein junger Mann gegenüber. Er gefiel mir, aber ich war schüchtern damals. Ich lächelte ihn an und er lächelte auch zurück. So musste ich mein Gesicht abwenden von ihm, weil ich errötete. Ich sprach mit Sophie, die neben mir stand und beachtete ihn nicht mehr. Zwei Flaschen Wein später ging Sophie, um zu tanzen. Ich war jetzt nicht mehr so schüchtern, dem Wein sei gedankt, und suchte den Mann mit meinen Augen. Ich fand ihn am gleichen Platz wie die zwei Flaschen Wein früher. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte er mich an und kam auf mich zu. Er fragte, ob einer der Männer, mit denen er mich gesehen hatte, mein Geliebter sei. Ich verneinte. Ob ich die Party mit ihm verlassen wolle, um ein bisschen zu reden an der frischen Luft? Ich bejahte. Seine Haut schimmerte mir golden und die Farbe seiner Augen erinnerte mich an das tiefe Blau eines Sees in einem erloschenen Vulkan, den ich einmal gesehen hatte. Er war mir unheimlich und ich bekam eine Gänsehaut, als er mit seinem Finger leicht über mein Gesicht strich.

Draußen küssten wir uns und es schmeckte gut, nach Whiskey, Zigaretten und Freiheit. Wir blieben eine Weile dort, bis die Kälte unsere Haut blau färbte, denn es war Januar und wir trugen nicht viel. So gingen wir zurück und setzten uns zu meinen Freunden. Sie ließen einen Joint kreisen und wir inhalierten tief, ich atmete erst aus, als mir schwindelig wurde, dann gingen wir in mein kleines, stickiges Studentenzimmer.

„Zieh Dich aus!“, er lachte unbeholfen. „Zieh Dich aus!“, und ich zog mich aus. Wir liebten uns kurz und schamvoll. Von seiner Schulter schaute ein giftgrüner Skorpion auf mich herab, er sagte, er hätte ihn in Tokio machen lassen. Der Tätowierer bediene ausschließlich japanische Mafiosi. „Und warum Dich?“ „Das ist ein Geheimnis“, lachte er und küsste mich auf die Stirn. Ich schlief unruhig in jener Nacht. Ich träumte vom See im Krater, doch sein blaues Wasser war glühend heiß wie Lava und drohte mich zu verbrennen. Immer wenn ich versuchte zu fliehen vor dem siedenden Wasser, wachte ich auf aus meinem unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen verließ mich mein neuer Liebhaber noch vor dem Frühstück, doch am Abend kam er zurück. „Wo bist Du gewesen?“ Ich hatte vermutet ihn nie wiederzusehen. „Das kann ich Dir nicht sagen.“ Er tat geheimnisvoll und schaute mir mit seinen tiefblauen Augen in meine. Ich war verwirrt. So sollte es wohl sein. Von da an kam mein seltsamer Geliebter jeden Abend. Tagsüber ging ich zur Uni. Dort belegte ich einen Kurs über Zoologie. Ich riss aus Versehen einer Fliege die Flügel aus. „Du bist gefährlich, tot-gefährlich!“ mein Tischnachbar lachte. Turnschuhe, Jeans und Pferdeschwanz, ich fand ihn zu gewöhnlich. Zu Hause wartete mein neuer Liebhaber auf mich. Er war anders als Jens, rätselhaft. Die blonden Haare trug er abrasiert und die Nägel hatte er schwarz lackiert. Das machte ihn mir mysteriös. Ich wollte ihn ergründen.

Meine Abende verschmolzen miteinander. Ich konnte nicht mehr sagen, ob Dienstag war oder Freitag - meine Tage wurden sich einfach zu ähnlich. Nie sagte mein Liebhaber, was er den Tag über getrieben hatte und ich erzählte ihm nichts von mir. Wir liebten uns kurz und dann schliefen wir ein. Wir frühstückten nie zusammen und wir gingen nie zusammen aus. Er klopfte immer um zehn vor acht an meiner Tür und ich ließ ihn hinein. Ich hatte aufgehört, auf Parties zu gehen oder meine Freunde zu treffen. Das Telefon klingelte immer seltener. Man hatte mich schnell vergessen. Mit der Zeit hörte ich auf, meinen Geliebten zu fragen, was er den ganzen Tag trieb. Seine Haut schien mir nicht mehr so golden wie am Anfang, aschig sah sie jetzt aus, und seine Augen färbten sich mehr grau als blau. Der Skorpion auf seiner Schulter war schlecht gemacht, ein unscharfer Umriss, ausgefüllt mit grüner Farbe. Herbstgrün, wie Blätter kurz vorm Verfärben. Ein Grün, das den nahen Tod ankündigt. Ich fühlte mich müde. Nachts träumte ich nicht mehr vom See im Krater, der mich verglühen wollte. Ich hörte auf zu träumen. Sobald wir fertig damit waren, uns zu lieben, fiel ich in einen tiefen Schlaf. Ich verlor wohl mein Bewusstsein, am nächsten Morgen wachte ich immer benommen und müde auf. Mein Tischnachbar an der Uni lachte nicht mehr mit mir. Er lachte jetzt mit Katja. Die sah jeden Tag frisch aus, die Haare gewaschen, die Hose gebügelt, ein kaum wahrnehmbarer Duft von Davidoff. Cool Water, langweilig. Wie Jens. Es machte mir nichts aus. Mein seltsamer Geliebter würde über die beiden lachen. Glaubte ich zumindest, so genau wusste ich es nicht.

Fünf Wochen nach Sophies Feier traf ich sie zufällig in der Mensa. Ich fragte sie nach meinen neuen Geliebten aus. Ob sie wüsste, was mit ihm los sei? Sie wusste es nicht. Sie kannte ihn gar nicht und sie konnte sich auch nicht daran erinnern, ihn auf der Party gesehen zu haben. Ich zweifelte jetzt manchmal an meinem Verstand. Vielleicht gab es meinen Geliebten gar nicht? War ich verrückt geworden?

Es war ein Donnerstag, als ich es beenden wollte. Genau sieben Wochen nachdem wir uns kennen gelernt hatten. 49 Tage, das gibt als Quersumme dreizehn. Sieben und dreizehn, zwei magische Zahlen. Zahlen waren einfach, logisch. Sie beruhigten mich. Ich ging an dem Donnerstag nicht zur Uni, die ödete mich eh nur an, und der Frosch, der meinetwegen überlebte, sollte mir dankbar sein. Ich folgte stattdessen meinem Geliebten. Gewöhnlich ging er eine Stunde, bevor ich das Haus verließ. Dann nahm er den Bus, der zum Strand fuhr. Das hatte ich aus dem Fenster sehen können. Ich hatte ihn häufig beim Wegfahren beobachtet. Er tat nie etwas anderes. Ich folgte dem Bus durch den Morgen-Stau mit dem Fahrrad bis zur Endstation. Am Strand stieg er aus und schlenderte zu den Dünen. Ich schloss mein Fahrrad ab und folgte ihm mit einigem Abstand. Viel war nicht los um diese Jahreszeit. Es war Anfang März und die Nordsee sah nicht sehr einladend aus. Mein Liebhaber setzte sich im Schneidersitz in eine Dünenmulde und drehte sich eine Zigarette. Ich beobachtete ihn aus einem der wenigen Strandkörbe, die schon draußen standen. Ich glaube, er sah mich nicht. Er sah niemanden. Er schaute einfach hinaus aufs Meer und rauchte selbstgedrehte Zigaretten.

Es dauerte nicht lange, bis meine Finger sich verfärbten, erst blau, dann weiß. Ich versuchte sie zu wärmen und hauchte sie an. Es half nicht, sie waren von meinem Blutkreislauf abgeschnitten. Meine Füße schlichen sich auch langsam aus meinem Wahrnehmungsvermögen und ich bekam Hunger. Doch ich wartete. Er blieb einfach sitzen und rauchte. Ob ihm die Kälte nichts machte? Meine Nase lief und ich hatte keine Taschentücher dabei. Ich blieb tapfer.

„Was machen Sie da? Das ist mein Strandkorb!“ Ich musste eingeschlafen sein. War das nicht gefährlich bei Kälte? Ich spürte nur noch die Hälfte meines Körpers, als ich versuchte wegzugehen. Er war weg. Mein Geliebter war einfach weg. Ich schaute auf meine Uhr - schon halb acht, in zwanzig Minuten würde er vor meiner Tür stehen. Ich lief davon. „Mieten Sie sich gefälligst selbst einen!“ Es gab schon komische Leute. Was wollten die bei dieser Kälte am Strand? Der Sonnenuntergang war längst vorbei. Ich stolperte durch den Sand und sah nicht weiter als einen Meter. Mit meinen tauben Fingern brauchte ich eine Ewigkeit, um das Fahrradschloss aufzuschließen. Es war verflixt. Ich würde zu spät sein.

Mein Geliebter stand schon vor der Tür, als ich ankam, durchnässt und durchfroren. „Ich wollte gerade gehen. Dann hätten wir uns nie wieder gesehen.“, er sah trotzig aus, wie ein kleines Kind. Ich glaubte ihm nicht. „Warum?“ „Es muss so bleiben wie es ist.“ „Mein Fahrrad hatte einen Platten, ich musste es flicken.“ Ich fand mich gut, das hörte sich plausibel und normal an. „Tut mir leid.“ Er sagte nichts mehr. Wir machten alles wie immer: Wir liebten uns auf die gleiche Weise wie am ersten Abend, kurz und schamvoll. Wir waren immer noch Fremde. Danach drehte er sich weg. Ich strich über seinen Arm, er zuckte zusammen und auf seinem Arm bildete sich eine Gänsehaut. „Was hältst Du davon, wenn wir am Wochenende an den Strand gehen?“ - „Zu kalt.“ - „Ein bisschen spazieren. Bernsteine sammeln.“ - „Keine Lust.“ Er legte sich auf die Seite und schlief. Zumindest tat er so. Ich blieb die ganze Nacht wach und dachte nach. Ich lag neben dem seltsamsten Mann, den ich je gesehen hatte, und wollte sein Geheimnis für mich haben. Dann könnte er gehen. Am nächsten Morgen blieb er liegen. „Musst Du nicht gehen?“ - „Nein.“ - „Ich geh’ jetzt. Bleibst Du hier?“ - „Sieht so aus.“ - „Bist Du heute Abend noch da?“ - „Lass Dich überraschen.“

Ich versteckte mich in der Gemeinschaftsküche der Etage. Irgendwann musste mein Geliebter das Zimmer verlassen und dann würde ich ihn sehen, ihn verstehen, sein Geheimnis entzaubern und mich befreien. Neben meinem Beobachtungsposten kochten manchmal fünfzehn Leute an einem Herd und der Spül schimmelte vor sich hin. Es stank. Bis vier war mein Liebhaber kein einziges Mal aus meinem Zimmer gekommen. Noch nicht mal zum Klo. Dafür war Janosch schon viermal in der Küche, um mit mir Kaffee zu trinken. Er musste für eine Klausur lernen. „Was machst Du eigentlich den ganzen Tag in der Küche? Ich bin ja froh, dass ich Ablenkung habe, aber“ Er zögerte. „Du sollst Dich nicht beim Lernen ablenken lassen.“ - „Ich lass mich aber gerne ablenken.“ Er lachte. Er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht, dann nahm er die Hand wieder weg. „Ist der komische Typ in Deinem Zimmer? Was ist das für einer?“ Scheinbar war ich doch nicht verrückt geworden und bildete mir keine seltsamen Menschen ein. Im Studentenwohnheim blieb nichts unentdeckt. Ich seufzte. „Mein Freund. Was ist an ihm komisch?“ - „Na ja, alles. Er sitzt Nachmittags stundenlang hier rum und redet kein Wort.“ - „Er meditiert. Er ist Buddhist. Strenggläubig. In einer spirituellen Phase. Er muss jede Minute nutzen.“ - „Aha.“ Glaubhaft Lügen konnte ich noch nie. Aber die Wahrheit ging nur mich etwas an.

Es war aussichtslos. Mein seltsamer Geliebter saß stundenlang in der Küche des Wohnheims und sprach kein Wort! Ich wollte sein Geheimnis nicht mehr ergründen.

Janosch musste wieder lernen. Philosophie-Klausur über Kant. Komplizierter Mann, schwer zu verstehen. Janosch kam nicht mehr, um Kaffee zu trinken. Ich klopfte an seiner Tür. „Willst Du Freitag ins Kino? Nach der Klausur?“ - „Da bin ich feiern. Wir wollten das Semesterende begießen.“ - „Oh.“ Ich ging wieder in die Küche. Ich hatte alles verbaut. „Hej, Anne! Was ist mit Samstag?“ Er war mir gefolgt. „Ja, Samstag ist auch okay. Gerne.“ - „Komm doch am Freitag mit.“ Er ging wieder lernen. Ich wartete wieder.

Um zehn vor acht ging ich in mein Zimmer zurück. Auf dem Bett lag mein Geliebter, das Gesicht zur Decke. Er bewegte sich nicht. Seine Haut schimmerte so bläulich wie einst seine Augen. Ich rief ihn an, er antwortete nicht. Er war tot.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Ida Petrat, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Ralph Ronneberger

Redakteur in diesem Forum
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Ida,

gefällt mir gut!
Man erfährt zwar nicht, was für ein Typ das jetzt wirklich war, das bleibt offen, aber das macht nichts. Der Leser bleibt genauso schlau wie die Ich-Erzählerin.
Kleiner Hinweis: Bei den Dialogen weiß man nicht genau, wer jetzt was sagt. Vielleicht kannst du das noch etwas verdeutlichen.

Grüße,
Thomas
 

Ida Petrat

Mitglied
Danke für die Aufnahme und Danke an Thomas für die nette Rückmeldung!
Stimmt mit der wörtlichen Rede!
Die Ich-Erzählerin soll eine verwirrte junge Frau sein, daher erfährt der Leser nicht mehr als sie.


Ich muss gestehen, dass die Geschichte uralt ist und schonmal in einer Anthologie erschienen ist. Seitdem habe ich keine Kurzgeschichten mehr geschrieben, aber zwei Romane. Auszüge daraus würde ich gerne einstellen, muss sie aber dafür etwas umarbeiten, so dass sie auch als Erzählung durchgehen. Habe ich das so richtig verstanden?

Auf ein konstruktives Miteinander!
LG Ida
 



 
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