Mit dem Gummiboot nach Alaska
Der in die Jahre gekommene Mann zog mit einem zögerlichen Ruck an der Schnur und das leuchtend rote Gummiboot vor ihm auf dem Boden füllte sich fast ebenso zögerlich mit Luft. Ein fremdartig zischendes Geräusch erfüllte den Abend und liess den Mann nervös an dem zerknitterten Foto in seinen Händen herumfummeln. Es war ein sehr altes Bild, vom vielen Zusammen- und Auseinanderfalten fast unkenntlich geworden, doch der Mann hätte es selbst dann noch gestochen scharf vor sich gesehen, wenn er die Augen geschlossen hätte. Dies waren die einzigen Dinge, die ihm von seiner Frau noch geblieben waren: Die Landschaftsfotografie eines Sees in Alaska, sein Rottweiler Jared und natürlich das rote Gummiboot.
Dieses hatte sich inzwischen vollständig aufgepumpt und der Mann schreckte aus seinen wehmütigen Gedanken hoch. Alles war nun so weit. In all diesen langen, trostlosen Jahren seit dem Tod seiner Frau, während all jenen endlosen Stunden, als man den Mann wegen seines Traums ausgelacht hatte, war er in Gedanken stets bereits bei diesem Moment gewesen. So lange hatte er gezögert und gebangt und sich diesen Augenblick herbeigesehnt, da er endlich an der Küste stehen würde, mit seinem roten Gummiboot und seinem Rottweiler und seinem Foto.
Doch nun, da er hier war, den Blick auf die Lichtreflexe der untergehenden Sonne auf den Wellenkämmen gerichtet, kamen die Erinnerungen an den vergangenen Tag wieder in ihm hoch und liessen diesen vollkommenen Augenblick in sich zusammenstürzen wie ein Kartenhaus.
Am Samstag, dem Tag bevor der Mann beschlossen hatte, alles hinter sich zu lassen und den Bus zum Strand zu nehmen, war seine Nichte bei ihm zu Besuch gekommen. Nach einem raschen Klingeln war sie wie immer mit der Zielstrebigkeit und Zerstörungsgewalt einer Dampfwalze in seine Wohnung gerauscht und hatte sich, ohne sich allzu lange mit einer Begrüssung aufzuhalten, auf die Stapel dreckigen Geschirrs in der Küche gestürzt.
Der Mann, um zwei Uhr nachmittags noch immer in Pyjama und Morgenmantel, hatte sich gegen den Kühlschrank gelehnt, vorbereitet auf den Schwall Fragen, welcher ihn nun erwarten würde. Und dieser war augenblicklich gefolgt: „Wie lange hast du eigentlich schon kein Geschirr mehr gespült? Wolltest du dir nicht mal einen Geschirrspüler zulegen? Und was ist mit den Einkäufen? Ist dein Kühlschrank gefüllt oder ernährst du dich wieder nur von Dosenfutter? Du weisst, ich kann nicht auch noch für dich einkaufen gehen! Ach übrigens, was sind das schon wieder für Mahnungen in deinem Briefkasten? Du bezahlst doch wohl deine Rechnungen? Und was die Tabletten angeht, die der Doktor dir verschrieben hat; die musst du auch wirklich einnehmen, weisst du?“
„Ich nehme die Tabletten“, hatte der Mann geantwortet, während der Rest der Fragen ungehört an ihm vorbeigerauscht war. Seine Nichte hatte das volle Tablettenglas auf dem Küchentisch mit einem skeptischen Blick bedacht, war allerdings nicht weiter darauf eingegangen.
„Du weisst, dass morgen Mamas fünfzigster Geburtstag ist, nicht wahr, Onkel?“ hatte sie weitergeplappert. „Sie erwartet natürlich, dass ihr kleiner Bruder vorbeikommen wird, um ihr zu gratulieren.“ Schweigen vonseiten des Mannes. „Du wirst doch kommen, oder?“, hatte die Nichte etwas eindringlicher nachgehakt.
„Ich kann nicht. Hab schon was vor“, hatte der Mann abwesend gemurmelt und dabei auf ein zerknittertes Bild am Kühlschrank gestarrt. Sie hatte seinen Blick verfolgt und gleich darauf entnervt aufgestöhnt.
„Du denkst doch wohl nicht schon wieder an Alaska?“
„Es ist mein Traum. Es war unser Traum. Suzannas und meiner.“
„Es war euer Traum, nach Alaska zu fliegen und nicht in einem Gummiboot dorthin zu rudern!“, hatte die Nichte wütend ausgerufen.
„Das Gummiboot gehörte ihr. Es ist alles, was ich noch habe. Das und Alaska.“
„Suzanna ist tot, Onkel. Seit drei Jahren. Du musst dich endlich damit abfinden und weiterleben.“
Doch der Mann hatte sich weder von ihren Worten noch von der Verzweiflung in ihrer Stimme beirren lassen. Dieser Traum war das einzige, was ihn noch mit seiner Frau verband, ganz egal wie viele Leute ihn als Schwachsinn abtaten.
„Es ist mein Traum. Es ist das einzige, was mir einen Sinn gibt.“
Den restlichen Nachmittag hindurch hatte eisiges Schweigen geherrscht und irgendwann, als alle Teller ordentlich im Küchenschrank versorgt gewesen waren, hatte seine Nichte schliesslich wortlos die Wohnung verlassen.
Der Mann schüttelte den Kopf, während Schuldgefühle sein Inneres zernagten. Tränen der Sehnsucht füllten seine Augen, während er den verschleierten Blick von seinem Foto löste und das Gummiboot schliesslich im Wasser der seichten Ebbe positionierte. Es war sein Traum, das einzige, was ihm nach dem Tod seiner Frau die Kraft gegeben hatte aufzustehen und zwar jeden Tag aufs Neue. Die Vorstellung, nach Alaska zu reisen. Mit seinem Gummiboot und seinem Foto und seinem Rottweiler. Und seiner Frau. Er hatte sich so sehr daran festgeklammert, an seinem unerreichbaren Ziel.
An jenem Sonntagabend, an jener verlassenen Küste, platzierte also jener einsame, gebrochene Mann sein geliebtes Foto in der Mitte des roten Gummibootes, gab diesem einen kräftigen Stoss und beobachtete zusammen mit Jared, seinem Rottweiler, wie sein Traum langsam auf den Horizont zutrieb. Dies war der Moment, in dem er sich entschieden hatte, nicht mehr bloss jeden Tag aufzustehen, sondern weiterzuleben.
Der in die Jahre gekommene Mann zog mit einem zögerlichen Ruck an der Schnur und das leuchtend rote Gummiboot vor ihm auf dem Boden füllte sich fast ebenso zögerlich mit Luft. Ein fremdartig zischendes Geräusch erfüllte den Abend und liess den Mann nervös an dem zerknitterten Foto in seinen Händen herumfummeln. Es war ein sehr altes Bild, vom vielen Zusammen- und Auseinanderfalten fast unkenntlich geworden, doch der Mann hätte es selbst dann noch gestochen scharf vor sich gesehen, wenn er die Augen geschlossen hätte. Dies waren die einzigen Dinge, die ihm von seiner Frau noch geblieben waren: Die Landschaftsfotografie eines Sees in Alaska, sein Rottweiler Jared und natürlich das rote Gummiboot.
Dieses hatte sich inzwischen vollständig aufgepumpt und der Mann schreckte aus seinen wehmütigen Gedanken hoch. Alles war nun so weit. In all diesen langen, trostlosen Jahren seit dem Tod seiner Frau, während all jenen endlosen Stunden, als man den Mann wegen seines Traums ausgelacht hatte, war er in Gedanken stets bereits bei diesem Moment gewesen. So lange hatte er gezögert und gebangt und sich diesen Augenblick herbeigesehnt, da er endlich an der Küste stehen würde, mit seinem roten Gummiboot und seinem Rottweiler und seinem Foto.
Doch nun, da er hier war, den Blick auf die Lichtreflexe der untergehenden Sonne auf den Wellenkämmen gerichtet, kamen die Erinnerungen an den vergangenen Tag wieder in ihm hoch und liessen diesen vollkommenen Augenblick in sich zusammenstürzen wie ein Kartenhaus.
Am Samstag, dem Tag bevor der Mann beschlossen hatte, alles hinter sich zu lassen und den Bus zum Strand zu nehmen, war seine Nichte bei ihm zu Besuch gekommen. Nach einem raschen Klingeln war sie wie immer mit der Zielstrebigkeit und Zerstörungsgewalt einer Dampfwalze in seine Wohnung gerauscht und hatte sich, ohne sich allzu lange mit einer Begrüssung aufzuhalten, auf die Stapel dreckigen Geschirrs in der Küche gestürzt.
Der Mann, um zwei Uhr nachmittags noch immer in Pyjama und Morgenmantel, hatte sich gegen den Kühlschrank gelehnt, vorbereitet auf den Schwall Fragen, welcher ihn nun erwarten würde. Und dieser war augenblicklich gefolgt: „Wie lange hast du eigentlich schon kein Geschirr mehr gespült? Wolltest du dir nicht mal einen Geschirrspüler zulegen? Und was ist mit den Einkäufen? Ist dein Kühlschrank gefüllt oder ernährst du dich wieder nur von Dosenfutter? Du weisst, ich kann nicht auch noch für dich einkaufen gehen! Ach übrigens, was sind das schon wieder für Mahnungen in deinem Briefkasten? Du bezahlst doch wohl deine Rechnungen? Und was die Tabletten angeht, die der Doktor dir verschrieben hat; die musst du auch wirklich einnehmen, weisst du?“
„Ich nehme die Tabletten“, hatte der Mann geantwortet, während der Rest der Fragen ungehört an ihm vorbeigerauscht war. Seine Nichte hatte das volle Tablettenglas auf dem Küchentisch mit einem skeptischen Blick bedacht, war allerdings nicht weiter darauf eingegangen.
„Du weisst, dass morgen Mamas fünfzigster Geburtstag ist, nicht wahr, Onkel?“ hatte sie weitergeplappert. „Sie erwartet natürlich, dass ihr kleiner Bruder vorbeikommen wird, um ihr zu gratulieren.“ Schweigen vonseiten des Mannes. „Du wirst doch kommen, oder?“, hatte die Nichte etwas eindringlicher nachgehakt.
„Ich kann nicht. Hab schon was vor“, hatte der Mann abwesend gemurmelt und dabei auf ein zerknittertes Bild am Kühlschrank gestarrt. Sie hatte seinen Blick verfolgt und gleich darauf entnervt aufgestöhnt.
„Du denkst doch wohl nicht schon wieder an Alaska?“
„Es ist mein Traum. Es war unser Traum. Suzannas und meiner.“
„Es war euer Traum, nach Alaska zu fliegen und nicht in einem Gummiboot dorthin zu rudern!“, hatte die Nichte wütend ausgerufen.
„Das Gummiboot gehörte ihr. Es ist alles, was ich noch habe. Das und Alaska.“
„Suzanna ist tot, Onkel. Seit drei Jahren. Du musst dich endlich damit abfinden und weiterleben.“
Doch der Mann hatte sich weder von ihren Worten noch von der Verzweiflung in ihrer Stimme beirren lassen. Dieser Traum war das einzige, was ihn noch mit seiner Frau verband, ganz egal wie viele Leute ihn als Schwachsinn abtaten.
„Es ist mein Traum. Es ist das einzige, was mir einen Sinn gibt.“
Den restlichen Nachmittag hindurch hatte eisiges Schweigen geherrscht und irgendwann, als alle Teller ordentlich im Küchenschrank versorgt gewesen waren, hatte seine Nichte schliesslich wortlos die Wohnung verlassen.
Der Mann schüttelte den Kopf, während Schuldgefühle sein Inneres zernagten. Tränen der Sehnsucht füllten seine Augen, während er den verschleierten Blick von seinem Foto löste und das Gummiboot schliesslich im Wasser der seichten Ebbe positionierte. Es war sein Traum, das einzige, was ihm nach dem Tod seiner Frau die Kraft gegeben hatte aufzustehen und zwar jeden Tag aufs Neue. Die Vorstellung, nach Alaska zu reisen. Mit seinem Gummiboot und seinem Foto und seinem Rottweiler. Und seiner Frau. Er hatte sich so sehr daran festgeklammert, an seinem unerreichbaren Ziel.
An jenem Sonntagabend, an jener verlassenen Küste, platzierte also jener einsame, gebrochene Mann sein geliebtes Foto in der Mitte des roten Gummibootes, gab diesem einen kräftigen Stoss und beobachtete zusammen mit Jared, seinem Rottweiler, wie sein Traum langsam auf den Horizont zutrieb. Dies war der Moment, in dem er sich entschieden hatte, nicht mehr bloss jeden Tag aufzustehen, sondern weiterzuleben.