Orpheus und Euridike

Michael Orth

Mitglied
Orpheus und Euridike (Sommer 2018)

Geduld, Geduld!

Warte auf den Sommer, dann auf die Dunkelheit, geh hinaus aus der Stadt und hebe den Blick. Im Norden wirst du das helle Leuchten der Wega sehen, darunter vier Sterne, die ein Parallelogramm bilden. Es ist das kleine Sternbild Leier und zeigt das Instrument, das die Griechen Lyra nannten. Einst gehörte es dem griechischen Sänger und Musiker Orpheus. Ich will dir erzählen, wie es dazu kam, dass sie noch heute am Himmel zu sehen ist. Lausche in dich hinein, vielleicht hörst du noch die wunderbar leise Musik.

Orpheus ist der Sohn der Muse Kalliope, eine der neun Töchter des Zeus. Von ihr hat er sein musikalisches und dichterisches Talent, denn sie ist auch die Muse der epischen Dichtung und des Saitenspiels. Sein Vater ist Apollon, der Gott der Weissagung, dessen Orakel du noch heute in Delphi besuchen kannst. Dort, über einer Felsspalte, aus der berauschende Dämpfe aufstiegen, sagt Phytia die Zukunft voraus.

Orpheus erlernt schnell das Spiel auf der Leier, er dichtet und singt dazu. Niemand in der griechischen Welt ist dem Orpheus gleich. Wenn er spielt und seinen Gesang ertönen lässt, kommen die Tiere des Waldes herbei um seinen wunderbaren Klängen zu lauschen. Die ganze Natur ist gerührt, die Pflanzen neigen sich, Steine weinen und ja, sogar Flüsse verändern ihren Lauf, um ihm zu folgen.

Die Argonauten, eine Gruppe von antiken Helden unter der Führung Jasons, nahmen ihn auf ihre gefahrvolle Reise zur Erlangung des Goldenen Vlieses mit. Dies war das aus purem Gold bestehende Fell eines Widders. Um es zu erlangen, durchfuhren sie mit ihrem, von fünfzig Ruderern bewegten Schiff Argo, das Mittelmeer. Sie durchfuhren den Bosporus, erreichten den Kaukasus, und hatten zahlreiche Abenteuer zu bestehen.

Orpheus aber sang so schön, dass er sogar das wütende Meer und die Feinde durch den Zauber seiner Lyra bezwang. Während der Fahrt soll er mit seinem Gesang sogar die Sirenen, die alle Schiffer ins Verderben ziehen, übertönt haben.

Als Orpheus von seiner beschwerlichen Weltreise mit den Argonauten zurückkehrt, trifft er auf Euridike. Sie ist eine Flussnymphe, von außerordentlicher Schönheit und, wie alles Lebende und Nichtlebende, wie berauscht von seinen Gaben. Sie verlieben sich sofort, heiraten und sind das schönste und glücklichste Paar, das du dir vorstellen kannst.

Aber das Unglück lässt nicht lange auf sich warten. Eines Tages geht Euridike hinaus auf ein Feld, sie will Blumen für ihren geliebten Orpheus pflücken. Der ist unterwegs in die Stadt, er will ihr ein schönes Tuch schenken. Euridike wartet auf dem Feld, bis die Bienen sich am Nektar der Blumen gelabt haben. Das beobachtet Aristaios, der sich ganz in der Nähe aufhält. Auch Aristaios ist ein Sohn des Apollon, er ist der Gott der Imkerei, des Olivenanbaus, der Schafzucht und der Jagd. Als er die schöne Nymphe sieht, erwacht in ihm augenblicklich die Begierde. Er läuft auf Euridike zu, will sie umarmen. Die aber fürchtet sich vor dem Fremden, weicht zurück, achtet nicht auf den Boden. Sie wird von einer Natter gebissen und stirbt sofort.

Der zurückkehrende Orpheus trauert, wie noch nie ein Mensch getrauert hat. Er komponiert bewegende Trauerlieder, holt die schönsten Töne aus seinem Instrument, aber es ist vergeblich. Die ganze Natur trauert mit ihm und stimmt in sein Wehklagen ein.

Ein Entschluss reift in ihm, er will etwas wagen, was noch nie ein Mensch vor ihm wagte. Er beschließt, in die Unterwelt hinabzusteigen, in den Hades, um seine geliebte Frau zurück ins Leben zu holen. Seine endlos weite Wanderung führt ihn nach Süden, an die Südspitze des Peleponnes, wo sich jenseits des Flusses Styx der Eingang zum Totenreich befindet. Dort findet er Charon, den Fährmann.

»Was willst du,« fragt Charon.

»Bitte, bring mich zum Eingang des Totenreiches.«

»Lebenden ist es nicht gestattet, das Reich des Hades zu betreten, weißt du das nicht?«

»Ich will Hades persönlich bitten, mir Euridike zurückzugeben.«

Charon will ihn zurückweisen, da beginnt Orpheus seinen betörenden Gesang und das Spiel auf der Leier. Auch der Fährmann kann sich der Wirkung nicht entziehen. Kaum auf dem anderen Ufer angekommen, wartet die nächsten Hürde auf den Helden. Es ist Zerberus, der Höllenhund. Er hat viele Köpfe, sein furchtbares Bellen kling metallisch und sein Atem ist tödlich. Da ihn noch kein Lebender sah, wissen wir nicht, ob er drei oder hundert Köpfe hat. Aber wie dem auch sei, auch Zerberus wird von der Musik des Orpheus verzaubert, er lässt ihn kampflos passieren. Singend und die Leier spielend wandelt Orpheus durch das Reich der Schatten. Auch die Welt der Toten ist verzaubert. Selbst die furchtbaren Eumeniden, die Rachegöttinnen, die nie eines Menschen Bitte erhören, sind zu Tränen gerührt.

Hades, ein Bruder des Zeuss, ist der Herr des Totenreiches, von Göttern und Menschen gehasst. Aus seinem schaurigen Reich gibt es keine Rückkehr. Er ist streng und unerbittlich. Vor ihm bringt Orpheus seine Bitte vor. Und was noch keinem Menschen gelang, Orpheus bewegt sein hartes Herz, und auch Persephone, seine Gemahlin, will seinem Wunsch entsprechen.

Doch Hades stellt eine Bedingung:

»Deine große Liebe und dein Mut bewegen uns. Du bekommst Euridike zurück. Aber du musst wissen: Wenn du auf dem Weg den Blick zurückwendest, bevor du das Tor durchschritten hast, so ist sie dir für alle Zeit verloren.«

Natürlich stimmt Orpheus zu. Persephone ruft Euridike herbei, sie folgt ihrem geliebten Gatten durch das Schattenreich. Musizierend erreichen beide fast den Ausgang, aber Orpheus ist unsicher. Seine Geliebte ist nur ein Schatten, er hört sie nicht, fühlt ihren Schleier nicht. So kann er sich nicht bezwingen, schaut zurück, will sie umarmen. Aber er greift ins Leere. Euridike ist für immer entschwunden. In seiner Verzweiflung versucht Orpheus, am Ufer des Styx die Unterirdischen erneut zur Milde zu bewegen. Sieben Tage trauert er, singt und spielt herzzerreißend, nimmt weder Nahrung noch Trank zu sich, aber vergebens. Die Götter bleiben unerbittlich.

Orpheus zieht sich von den Menschen und besonders von den Frauen zurück, er singt und spielt nur noch für Steine, Bäume und Flüsse. Den Frauen aus Thrakien, einem Land, das nördlich von Griechenland bis ans Schwarze Meer reicht, gefällt sein Rückzug nicht. Sie fühlen sich von Orpheus verachtet. Als sie ein wildes Fest des Dionysos, dem Gott der Fruchtbarkeit und des Weines, feiern, erblicken sie den Einsamen.

»Seht, da ist er, der die Frauen verachtet!«, rufen sie.

Sie stürzen sich auf ihn und zerreißen ihn.

Seinen abgetrennten Kopf, der immer noch nach Euridike ruft, werfen sie in den Fluss Hebros. Das Wasser trägt seinen Kopf bis auf die Insel Lesbos. Dort wird er von den Musen begraben, seine Leier als Sternbild an den Himmel versetzt. Hier es mag uns in eine sanfte Melancholie und die Erinnerung an eines der berühmtesten Liebespaare der Geschichte versetzen.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
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Hallo Michael Orth, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Ralph Ronneberger

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