Poetische Reise

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Poetische Reise

Auf die nervende Frage: was schreibst du gerade?, antworte ich, dass ich wahrscheinlich über Blumen schreibe und eines Tages ein noch schlichteres Thema wählen werde. Eine Tasse Kaffee etwa oder die Abenteuerreise einer Email. Aber derzeit habe ich schon genug zu betrachten: neun tuffige Rosen die mir mit breiten Mündern schallend entgegen lachen. Sie verbreiten eine freudige Stimmung im Zimmer. Bücher sind nicht so großzügig. Sie verstehen es nicht, einfach so - völlig schutzlos - zu strahlen. Was wirklich zählt, ist das, was lebt, und was lebt, schützt sich nicht vor dem Ende.
Kein Tagebuch schreiben, nichts Chronologisches. Gefühle und Einsichten nicht fixieren, sondern aus dem Fluss die Tropfsteinhöhle des Bleibenden abperlen lassen. Die Frage nach dem "Was ist...?" durch ein "Was geschieht?" ersetzen.

Ein Strauß Worte aus dem Wörterbuch poetischer Wahrheiten. Lyrischer Transport in geschlossener Seelenbahn: Flamme, inspiriert, Mensch, noch, Nuancen, Reisen, Schönheit, Schwall, Utopie, Vogel.


Reisen ist Träumen
Das Grau verlassen, Utopien haschen
Noch daran glauben in allen Nuancen
Schweigend schwelgt inspiriert der Mensch
Der die Flamme flackernd in sich trägt
Die Schönheit fremder Gesänge kosten
Im Schwall ihrer Klänge untertauchen
Dann weiterziehen dem Vogel gleich.


Nur die Wirklichkeit verleiht Flügel die tragen; die Wirklichkeit betrachtet von Angesicht zu Angesicht, so wie sie ist. Nicht zwingend konform mit unseren Wünschen.

Die äußersten Spitzen der Blütenblätter kräuseln sich schwärzend wie Papier, das ich über die Flamme halte. Je mehr ihr Ende sich nähert, desto weiter strecken die Rosen ihre Köpfe Richtung Fenster – als ob das Licht ihnen etwas zu sagen hätte, das sie immer weniger gut verstehen.

Der poetische Strauß gepflückt unter dem großen Gewölbe der Literatur?
Ein Schwall Worte der noch die Schönheit in all ihren Nuancen besingt. Ein Mensch der mit seinem Lächeln auf Reisen geht. Aufgeschrieben, inspiriert durch die Flamme einer Leidenschaft, sich entfaltend wie ein Vogel seine Flügel für die Utopie der Wirklichkeit.

Keine Blumen heute in der Vase. Doch das Licht, das nur sie schenken können, ist trotzdem da. Ich schreibe, schnell, schnell, schnell. Die Wahrheit ist kein in die Erde gebuddeltes Loch. Sie ist leicht, ein vierblättriges Kleeblatt. Ich besitze einen Schatz. Er ist unerschöpflich, vorausgesetzt, ich gebe ihn vollkommen her.

In Wirklichkeit liefert dieses Wörterbuch aufgelöst im virtuellen Raum weiße Propagandatauben und mit abstrakter Inbrust Klischees. Während der Bildschirm die lebendige Wirklichkeit entmaterialisiert, befreit das Geschriebene sie vom Gewöhnlichen. Die Welt und das Alltägliche werden simultan entlassen.
Gibt es Poesie in der virtuellen Kultur nur im lyrischen Vergessen der konkreten Welt? Wird aus dem ekstatischen JA der utopischen Muse ein kategorisches NEIN an die Ratio menschlichen Glücks?
 

kostho3

Mitglied
Hallo Eufemiapursche !
Hatte Dich schon im Asyl gelesen und dort geantwortet.Allerdings gibt es dort ja keine Bewertungen auf einer Skala. Gruß Kostho
 
Durchblick

Hallo Kostho,

"Nichts ist leichter, als so zu schreiben, dass kein Mensch es versteht; ;) wie hingegen nichts schwerer ist, als bedeutende Gedanken so auszudrücken, dass jeder sie verstehen muss." (nee nee, ich werd nicht größenwahnsinnig :cool: ist von Arthur Schopenhauer)

So sei mein Zunge wie der Griffel eines gewandten Schreibers.:D (Psalmen 45,2)

Mit anderen Worten: DANKE für deine Begleitung auf der poetischen Reise...

Femi
 

rekitrik

Mitglied
hallo eufemiapursche,

wirklich schlichte themen gibt es wohl nicht, ist das komplexe doch nur ein netzwerk des banalen. sehr beeindruckend, wie du aus den schablonen unumgenzte gedanken zeichnest.

gruß rekitrik
 
Folgeexperiment

Ja das Netzwerk und all seine Synapsen lieber Rekitrik....

Nun so lass uns das Experiment ein wenig fortsetzen ;)

Stellt aus den Zutaten des folgenden Gedichts euer Lieblingsmenü zusammen:

Wählt eine beliebige erste Zeile aus jeder Strophe, hängt irgend eine zweite Zeile aus jeder Strophe daran und fügt aus jeder Strophe eine der Abschlusszeilen an

Fertig ein Mahl aus 343 Sätzen. Frisch servieren :D

Natürlich verwenden wir wieder unseren literarischen Strauß ;)

Flamme, inspiriert, Mensch, noch, Nuancen, Reisen, Schönheit, Schwall, Utopie, Vogel.


Liebe Lupianer,
Es ist keine Utopie
Einem Menschen beizustehen

Erinnern wir uns
Es ist immer möglich
Die Schönheit unseres Planeten spüren

Vergessen wir keine Nuance
Wir sollten in der Lage sein
Des Lebens Schwall zu genießen

Erlaubt mir anzumerken
Nur die Inspirierten unter uns verstehen
Die Flamme lebendig zu erhalten

Vernachlässigt nicht die folgende Tatsache
Man darf niemals diesen Drang verlieren
Frei zu sein wie die Vögel

Machen wir uns wirklich klar
Wir sollten endlich beginnen
Zu reisen um einander kennenzulernen


Und noch etwas
Das Wichtigste besteht darin
Dieses Band der Dichter flattern zu lassen
 

kostho3

Mitglied
Wortsträuße

Es bleibt immer nur Utopie,
den Mensch zu finden ,der meinen Geist nach Hause bringt.

In gelebten und künftigen Erinnerungen suche
und finde ich die Schönheit des Zusammenshangs.

Den Preis des Träumens bezahle ich mit den Nuancen des Verrats,
um ihn in seiner Konsequenz zu heiligen,
bereit für die Narben jeden Judaskusses.

Täglich inspiriere ich meine Flamme,
sie zum Lodern zu bringen, auch wenn sie manchmal nur
schwarz qualmt,tränentreibend, Sicht vernebelt.

Phönixgleich überfliege ich frei die Felder meiner Träume,
zu verbrennen die noch nicht Verbrannten, zu verschreiben die aus Asche.

Unklar ist der Reise Ziel, wo Zufall sich mit Schicksal paart, zu treffen die,
die ich nicht treffen muß, um sie zu kennen.

Noch nie nannte mich das Leben Dichter, doch trage ich
das Band eines Aufschreibers, zu beschreiben, was das Leben offenbart.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
"Je mehr ihr Ende sich nähert, desto weiter strecken die Rosen ihre Köpfe Richtung Fenster – als ob das Licht ihnen etwas zu sagen hätte, das sie immer weniger gut verstehen. "
DEN Satz finde ich schön. Alles andere verheddert sich (nach einem viel versprechenden Start) recht schnell in zu hoch angebundenen (und gelegentlich echt schief gehenden) Bildern und "Botschaften" (eigentlich ist es nur eine: Botschaft? Abbilden!). Zu viel Gedöns für meinen Geschmack.

Der Text ist Lyrik??

Warum (jetzt mal textlogisch gefragt) gerade diese Worte? Und: Ziemlich viele SACHworte für die Frage nach dem „was geschieht“ …


Schief gehende Bilder:

tuffig = auf Tuffstein: Steinerne Rosen machen sowas Lebendig-Bewegtes wie lachen?

Rosen mit breiten(!) Mündern? Ich seh da bestenfalls(!) runde Münder.

Die Tropfsteinhöhle abperlen lassen? In der Tropfsteinhöhlen Wasser abperlen lassen (was allerdings nicht zur Tropfsteinbildung beitragen würde).

Etwas aus dem Fluss abperlen lassen? Man kann etwas von einer Oberfläche abperlen lassen. Man kann etwas aus einer (fließenden) Flüssigkeit ausperlen lassen (Gase oder eventuell Perlen, die nach unten fallen). Und: Weder das eine noch das andere passt zum Bild der Tropfsteinhöhle, die sich SCHICHTweise bildet (nicht als Sammlung von „Perlen“).

„ die Wirklichkeit betrachtet von Angesicht zu Angesicht, so wie sie ist.“ – Wen oder was betrachtet die Wirklichkeit?

„Die äußersten Spitzen der Blütenblätter kräuseln sich schwärzend wie Papier,“ – was schwärzend? Schwarz werdend und schwärzend sind NICHT das gleiche.

„Aufgeschrieben, inspiriert durch die Flamme einer Leidenschaft, sich entfaltend wie ein Vogel seine Flügel für die Utopie der Wirklichkeit.“ – 1:Sich entfaltend wie ein Gleitschirm ODER etwas entfaltend wie ein Vogel seine Flügel / 2: lauter abgegriffene Klischee-Bilder / 3: Was entfaltet sich? Die Flamme?/ 4: Riskante Bildkombination: Flamme und Flügel / 4: Was soll das sein: „Utopie der Wirklichkeit“? Klingt „groß“, hält aber dem genaueren Blick nicht stand. / 5: Hat ein Vogel „Flügel für die Utopie“?

“Die Wahrheit ist kein in die Erde gebuddeltes Loch.“ Was soll dieses Bild sagen? Man kann nicht reinfallen? Man kann sie nicht zuschütten? Man kann sie nicht machen (ok) – sie muss (wie ein Kleeblatt) wachsen (????) ? Man kann sie nicht machen (ok), man kann sie nur (wie ein Kleeblatt) finden (na ok) und sie ist auch noch selten (????)? Man gewinnt sie nicht durch Mühe (buddeln), sondern mit Glück (vierblättigres Kleeblatt finden)?


„In Wirklichkeit liefert dieses Wörterbuch aufgelöst im virtuellen Raum weiße Propagandatauben und mit abstrakter Inbrust Klischees.“
Was ist aufgelöst? In was für einem virtuellen Raum? Dieses Wörterbuch – welches? Weiße Propagandatauben – wenn’s auf weißem Papier steht ist es Propaganda, auf rosa ist es wahr? Würde ein anderes Wörterbuch Nicht-Propaganda liefern? Ein Wörterbuch liefert Propaganda und Klischees? Was ist „abstrakte Inbrunst“?

„Während der Bildschirm die lebendige Wirklichkeit entmaterialisiert“ Der Bildschirm entmatrialisiert etwas?

Virtuelle Kultur? Gleich „simulierte Kultur“?

„Gibt es Poesie in der virtuellen Kultur nur im lyrischen Vergessen der konkreten Welt?“ mal von hinten aufrollen: „Konkrete Welt“ z. B. gleich „real existierende Rose“. Ich vergesse die Rose – ok. Das hat nichts mit Poesie zu tun. Ich vergesse die Rose lyrisch? Ich vergesse, dass es die Rose real gibt und denke sie mir quasi neu aus? Auch das hat nichts mit Poesie zu tun. Poesie ist, die real existierende Rose mit anderen (real existierenden) Dingen so zu verknüpfen, wie sie in der Realität nicht verknüpft sind. Das hat nichts mit Vergessen zu tun. Weder in der echten noch in einer simulierten Kultur.
 
S

suzah

Gast
hallo,

wieso erhalten wir jetzt einen uralten text aus 2002 !!! als werk des monats dezember??? ist seitdem nichts besseres geschrieben worden?
mit ihren kommentaren haben jon und herbert h. zwar am 9.12. 2009 diesen text wieder "ausgegraben", waren aber, wie nachzulesen ist, nicht gerade begeistert davon.

ich teile jons meinung.

liebe grüße, ein schönes weihnachtsfest und gute wünsche für 2010!
suzah
 

ENachtigall

Mitglied
wieso erhalten wir jetzt einen uralten text aus 2002 !!! als werk des monats dezember??? ist seitdem nichts besseres geschrieben worden
Weil die aktuellen gut bewerteten Texte sowieso in der Bestenliste stehen, es zudem das beste Werk der letzten 14 Tage auf der Startseite gibt und nicht zuletzt die Rubrik "Die LL empfieht".

Das Werk des Monats versucht, Beiträge unabhängig vom Datum des Erscheinens in der LL, möglichst einmal aus jedem Forum - auch den nicht so stark frequentierten - vorzustellen. Kontroverse Beiträge eignen sich hierfür viel besser, als unisono hochgelobte. Die Argumente der Befürworter und Gegenredner sind viel spannender zu verfolgen, regen eher an, sich selbst zu äußern (wie wir an Deinem Beispiel, suzah, schön erkennen können), als das Ablesen der hochgeschätzen Bewertungen. Deshalb eben.

jon, als Redakteurin, wußte etwas eher, dass dieser Text des Monats werden würde, liegt mit ihrer Meinung eher auf Deiner Linie und konnte ihre Kritik einfach nicht bis zum offiziellen Erscheinen zurückhalten :)

Grüße von Elke
 
S

suzah

Gast
hallo e.nachtigall,

danke für die info.

abgesehen davon, äußere ich mich oft in kommentaren.

liebe grüße und schönes weihnachtsfest, suzah
 

ENachtigall

Mitglied
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Liebe Grüße,

Elke
 
D

Dominik Klama

Gast
Neun tuffige Rosen, die mir mit breiten Mündern schallend entgegen lachen.
„Tuffig“ verstehe ich nicht. Es sei denn, das Wort leite sich her vom Tuffstein. Was sein könnte, da später im Text Tropfsteinhöhlen vorkommen, welche ebenfalls etwas zu tun haben mit stetem Wasseraufkommen und Kalk, ebenfalls sozusagen vor den Augen des Menschen entstehenden „Stein“ bezeichnen. Natürlich handelt es sich hier um Metaphern, aber Metaphern brauchen ein gemeinsames Drittes, was sowohl dem „Bild“ wie dem „Gemeinten“ eignet. Ich habe reichlich Mühe, mir eine Gemeinsamkeit von Rosen in einer Vase und Tuffstein auszudenken. Natürlich ist der Text poetisch, und natürlich setzt er in seiner Poesie zu einem guten Teil auf sprachliche Metaphern. Allerdings erlaubt „das Poetische“ nun nicht, nach Belieben einfach alles zur Metapher für alles Mögliche zu erklären. Rote Rosen sehen aus wie rote Münder, okay. Meinetwegen auch wie „breite“ Münder. Rosen lachen wie Münder, okay. Rosen lachen jemanden an oder ihm entgegen – wie breite Münder, meinetwegen. Aber so allmählich streifen wir die Grenze zum Metaphern-Overkill. Nämlich: Neun Rosen lachen mir entgegen wie breite Münder – und zwar: „schallend“. Dieses „schallend“ empfinde ich als Overkill; der Satz wäre ohne dieses Wort besser. Warum? Weil bei „schallendem Lachen“ oft eine Komponente von Übermut, Hysterie oder aber Hohn und Spott mitschwingt. „Lachende Rosen“ sind malerisch, friedlich, schön. Rosen, die „mir“ schallend „entgegen“ lachen, scheinen entweder etwas unreif oder aber mir gegenüber etwas feindlich eingestellt. Die Metapher bekommt einen Twist, der wohl kaum beabsichtigt war.

Zumal sofort danach steht, dass die Rosen eine freudige Stimmung im Zimmer verbreiten. (Ist das nicht ein wenig banal?) Und dass sie „völlig schutzlos“ strahlen. Völlig schutzlos, wenn sie schallend lachen können? Lachen tötet.
Aus dem Fluss die Tropfsteinhöhle des Bleibenden abperlen lassen.

Der Fluss ist wieder eine Metapher. Nämlich für die vergehende Zeit, die Geschichte der Welt, bzw. für unsere eigene Geschichte, unser Leben. Gut, okay, aber Flüsse schaffen keine Tropfsteinhöhlen. Weil sie nämlich viel zu schnell und viel zu gewaltig sind. Flüsse lassen dem Calcium keine Chance, sich mit dem Gas der Luft zu verbinden. Das geht nur auf der Basis von Tropfen. Und Tropfen sind nun mal keine Flüsse. Tropfen andererseits könnten irgendwo abperlen, ganz im Gegensatz zu Flüssen. Aber niemand und nichts kann einen Tropfstein (oder eine ganze Höhle davon) an irgendwas abperlen lassen! (Übrigens gibt es selbstverständlich allenthalben Tropfsteinhöhlen, in denen Bäche oder Flüsse fließen. Weil Wasser nun mal nach unten läuft und sich sammelt, wo im Erdreich oder Fels Hohlräume sind. Aber, wichtig: Die Tropfsteine, die über ihnen hangen, haben diese Bäche oder Flüsse nicht geschaffen.)

„Seelenbahn“ ist eine Metapher. Die richtige Bahn kann was transportieren, also die Seelenbahn wohl auch. Und mir scheint, die Autorin findet, ihre Worte, lyrischer Text, Gedichte seien eine „Seelenbahn“. Was irgendwie ja stimmig ist: Sie transportieren etwas. Dennoch mag ich auch dieses Metaphernknäuel nicht. Ich verstehe nicht, woher sich das Wort „Seelenbahn“ erklären könnte. Was verbindet „Bahn“ mit „Seele“? Möglicherweise vertue ich mich – und die (Eisen-)Bahn ist gar nicht gemeint. Dann vielleicht die Eisbahn. Die vom Curling oder Bobfahren oder Schlittschuhlaufen. Aber, immer noch: Was haben die mit „Seele“ zu schaffen. Und wo stimmt diese Bildlichkeit mit „geschlossen“ zusammen? Die Seelenbahn ist nämlich „geschlossen“. Hm... Oder ist es die Blutbahn. Seelenbahn und Blutbahn, das scheint einander nahe. Aber was ist eine geschlossene Seelenbahn dann? Und in demselben kleinen Satz sind die poetischen Hervorbringungen sowohl ein Transportwesen wie auch ein Blumenstrauß von Worten... Metaphern-Overkill, sage ich.

Reisen ist Träumen
Das Grau verlassen, Utopien haschen...
Dagegen ist sprachlich oder stilistisch überhaupt nichts zu sagen. Allerdings, nachdem wir soeben in Regionen unentdeckter Sprachverbiegung vorgestoßen waren, - Flüsse des Existierenden kalbten Stalaktiten des Bleibenden wie Gletscher Eisberge -, steht hier etwas, was so offensichtlich auf der Hand liegt und wohl so millionenfach so oder ähnlich schon gesagt oder gedacht wurde, dass, nun ja, dass es ein wenig banal ist, nicht wahr?

Nur die Wirklichkeit verleiht Flügel, die tragen.
Das zu vernehmen, überraschte mich. Nach dem bisher Gelesenen hätte ich eher so einen Satz erwartet: „Nur die Fantasie verleiht Flügel, die tragen.“ Oder auch: „Nur der Traum verleiht Flügel, die tragen.“ Scheint jedenfalls beides nicht gerade falsch in einem Text, der auszudrücken versucht, was poetisches Schreiben leisten kann. Wenn aber beide Aussagen irgendwie wahr sein könnten, 1. Nur die Wirklichkeit verleiht Flügel, die tragen, 2. Nur der Traum verleiht Flügel, die tragen, - dann fragt sich, wie viel an Gehalt so eine Aussage letztendlich hat, die genauso wahr ist wie ihr Gegenteil.

Die Wirklichkeit betrachtet von Angesicht zu Angesicht, so wie sie ist.
Die Wirklichkeit betrachtet? Ich staune. Was wohl heißt, die Wirklichkeit sieht irgendwas oder irgendwen an. Was oder wen auch immer. Nun gut, vielleicht... Mein Wunsch stellt mir eine Aufgabe. Der Tod sieht mich kommen. Die Einsamkeit umzingelt meine Wege. Das Dichten sieht mich fliegen. Die Realität starrt mir forschend ins Auge und spricht: „Ich bin nicht, wie dein Wunsch dir gesagt hat.“ Gut, gut. Aber: „Ich betrachte den Wald von Angesicht zu Angesicht.“ Das steuert die Metapher wieder aus der Kurve. Dagegen ginge: „Wir betrachten uns von Angesicht zu Angesicht.“ Was aber heißt: Die Wirklichkeit hat ein Gesicht und ist irgendwie ein Mensch wie du und ich. Hm. Und weil außer „die Wirklichkeit“ in dem Satz kein einziges feminines Wort vorkommt, muss das „sie“ am Ende sich auf „Wirklichkeit“ beziehen. Nämlich wie? Die Wirklichkeit betrachtet so wie sie ist. (?) Das verstehe ich nicht. Eher wohl: „Die Wirklichkeit, so wie sie ist, betrachtet... (was auch immer).“ Die Wirklichkeit ist so, wie sie ist und das, was so ist, wie es wirklich ist. Banal.

Die äußersten Spitzen der Blütenblätter kräuseln sich schwärzend wie Papier.
Wäre jetzt mal keinerlei Metapher, sondern eine feine, interessante Bebachtung im Zuge einer Beschreibung eines Blumenstraußes, wir wären wieder zurück bei dem, was anfangs versprochen wurde: einen schlichten Gegenstand wie einen Strauß Rosen zu beschreiben. (Allerdings sind wir uns nicht mehr so sicher, ob die Autorin das je tatsächlich vorhatte, denn zwischendurch war aus dem Strauß ja schon mal eine Metapher für die Dichtung ganz allgemein geworden.) An den Spitzen werden die Blütenblätter dunkler, sie schwärzen sich. Und kräuseln sich wie Papier. Einverstanden. Aber „schwärzend“ kräuseln können sie sich dennoch nicht. Denn sonst würden sie etwas schwarz färben. Was wohl nicht stimmt. Fasse ich eine welkende oder gar vertrocknete Rose vorne an, bekomme ich keine schwarzen Finger... Oder irre ich mich? Schwärzend wie Papier kräuseln sich die Blätter der Blüte. Eigentlich gar keine Metapher, sondern ein Vergleich. Setzt aber voraus, das nicht von normalem Papier die Rede ist, sondern von altmodischem schwarzen Kohlepapier, ihr wisst schon, damals, als es noch keine Kopierer und Drucker in jedermanns Nähe gab.

„Je mehr ihr Ende sich nähert, desto weiter strecken die Rosen ihre Köpfe Richtung Fenster, als ob das Licht ihnen etwas zu sagen hätte, das sie immer weniger gut verstehen.“
Das Wort „gut“ am Ende kann man getrost streichen. Aber ansonsten ist das für mich die Passage im Text, die mir am besten gefällt und am meisten einleuchtet. Nämlich wird hier nicht mit Metaphern gewuchert. Nämlich ist hier alles verständlich. Nämlich ist das (sofern es zutrifft) eine interessante Beobachtung aus dem Leben eines Blumenstraußes. Eine insofern interessante, als sie von vielen Leuten vielleicht noch nie gemacht wurde. (Solchen, die sich nicht ganz sicher sind, ob sie zutrifft.) Nämlich zaubert die keineswegs poetisch aufgeputzte Sprache in wenigen Worten Vorstellungswelten in einander: Rosen am Fenster, Menschen, die altern. Licht wird zu einer Form von Zuwendung im Bereich des Kosmos. Oder aber menschliche Ansprache wird zur Zufuhr lebensnotwendiger Energie. Nämlich eine geistreiche Pointe über Altern und Sterben: Erleben, wie alle Versuche, das früher Selbstverständliche zu fassen immer endlicher und vergeblicher werden. Tja, hier klappt’s mit der Poesie: Schlicht Gesagtes und bedeutend Verweisendes erhellen sich gegenseitig und kommen sich dennoch nicht ins Gehege.

Aber gleich wieder der nächste Satz! „Der poetische Strauß gepflückt unter dem großen Gewölbe der Literatur?“ Der lyrische Text – ein Strauß Blumen, die Literatur – ein Gewölbe – und nicht irgendeins, sondern ein „großes“. Etwas banal, möchte ich meinen.

„Ein Mensch, der mit seinem Lächeln auf Reisen geht. Aufgeschrieben, inspiriert durch die Flamme einer Leidenschaft, sich entfaltend wie ein Vogel seine Flügel für die Utopie der Wirklichkeit.“
Klingt nett, sagt mehr oder weniger gar nichts. Ich würde aufpassen, von lächelnden Menschen zu reden, wenn ich vorher von schallend lachenden Rosen gesprochen habe. Ich würde zögern, einen Literaten seine Flügel wie ein Vogel entfalten zu lassen, wenn ich nur wenige Zeilen davor noch behauptet habe, tragende Flügel habe „nur“ die Wirklichkeit. Wenn nur die Wirklichkeit tragende Flügel hat, dann der Dichter solche wie Berblinger, der Schneider von Ulm.

„Keine Blumen heute in der Vase. Doch das Licht, das nur sie schenken können, ist trotzdem da.“ Bah! Mag ja sein, viele Leser mögen das... Ich hasse es. So à la: „Sie ist gestorben, aber sie ist nicht tot. Seht ihr denn nicht, sie ist mitten unter uns!“ Meinetwegen können andere Leute so etwas mögen, mögen diese Andern mich es dann aber auch Kunsthonig finden lassen können!

„Die Wahrheit ist kein in die Erde gebuddeltes Loch.“ Nicht? Dabei hab ich ganze Jahrzehnte hindurch wieder und wieder geschworen, dass die Wahrheit ein in die Erde gebuddeltes Loch sei. Man lernt nie aus, denn – die Wahrheit, sie... „Sie ist ein vierblättriges Kleeblatt.“ Metaphern über Metaphern – und es kommt offenbar drauf an, sie möglichst nicht ganz zu verstehen. Dann ist es Lyrik. Vierblättriges Kleeblatt, recht triviales Wissen, das sind (angeblich) eher seltene Sachen, Funde im Meer des Gewöhnlichen, Zeichen für Glück, das einem zu Teil wird (demnächst wahrscheinlich). Geht das denn an? Kann die Wahrheit etwas Außergewöhnliches, ein Glücksfall im Meer des Alltäglichen sein? Ja, mag sein, aber solche Wahrheiten sind wohl eher nicht gemeint: „Wieso kommst du so spät?“ „Au Mann, da war so ein Sonntagsfahrer vor mir.“ Solch Wahrheit ist gebuddelt Loch.

„In Wirklichkeit liefert dieses Wörterbuch aufgelöst im virtuellen Raum weiße Propagandatauben und mit abstrakter Inbrunst Klischees.“
Metaphern noch und noch. 1. Das Wörterbuch steht für das Schreiben des Poeten. 2. Der virtuelle Raum steht für unser aller normales Leben, so, wie es heutzutage ist. 3. Die weißen Tauben sind die Hervorbringungen des Poeten. 4. Die Tauben sind „Propagandatauben“. Weil sie nämlich nicht sagen, was und wie es wirklich ist, sondern wie es sein könnte, wenn es poetisch wäre. Im Wort „Propaganda“ schwingt stets mit: bodenlos und schamlos verlogen!
Nun gut, meinetwegen, ich mag’s zwar nicht, aber ich muss ja auch nicht alles mögen, was gut ist. Wie aber, bitte schön, geht das vor sich, wenn ein „Wörterbuch“ in einem Raum „aufgelöst“ wird wie Corega Tabs im Zahnputzglas? Nämlich in einem „virtuellen“. Und was ist denn „abstrakte“ Inbrunst, beispielsweise im Unterschied zur „naiven Inbrunst“. Da habe ich Erklärungsbedarf.

Während der Bildschirm die lebendige Wirklichkeit entmaterialisiert, befreit sie das Geschriebene vom Gewöhnlichen. Die Welt und das Alltägliche werden simultan entlassen.
Die Wirklichkeit, wir erinnern uns, hat tragfähige Flügel und betrachtet von Angesicht zu Angesicht und ist ein Kleeblatt mit vier schwärzenden Blättern. Halt, nein, Irrtum, Letzteres war ja die Wahr-, nicht die Wirklichkeit. Jedenfalls, diese Wirklichkeit hat auch Materie, die ihr genommen werden kann, nämlich vom „Bildschirm“; ich nehme an, man darf dafür auch einfach „Fernsehen“ sagen. Da in oben stehendem Satz nur ein einziges feminines Wort vorkommt, die Wirklichkeit, können wir davon ausgehen, dass auch sie es ist, die befreit. Nämlich macht sie das Geschriebene (das Wörterbuch, den Strauß) vom Gewöhnlichen frei. Wenn aber die Wirklichkeit irgendwas und irgendwen vom Gewöhnlichen frei macht, folgert, dass die Wirklichkeit das Gewöhnliche selbst nicht sein kann. Der Inhalt einer Altpapiertonne ist also wohl ziemlich unwirklich, weil überaus gewöhnlich im Allgemeinen. Und: Es besteht ein Gegensatz zwischen dem Fernsehen und der Wirklichkeit. Das Fernsehen killt die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit erspart der Dichtung das Gewöhnliche. Das ist, wenn auch schwer zu kapieren, ein Gegensatz.

Wird aus dem ekstatischen JA der utopischen Muse ein kategorisches NEIN an die Ratio menschlichen Glücks?
Weiß nicht, aber gut, dass wir mal drüber geredet haben.
 

Rhea_Gift

Mitglied
Also, dem Schwall an Kritikpunkten mancher durch diesen Text Reisender bezüglich der Wortwahl schließ ich mich an - aber das sind nur Nuancen. Mensch, ansonsten gefällt mir der Text ausnehmend gut, auch in dieser Langfassung besitzt er lyrische Schönheit. Den Text irgendwo korrekt einzuordnen, dürfte Utopie bleiben - experimentell triffts da noch ganz gut.

Inspiriert jedenfalls, aus den flammenden Worten selbst einen Gedichte-Vogel aufsteigen zu lassen:


Hörst du den Phönixschrei, kleiner Mensch?
Hörst du nicht die Utopie, von der er singt?
Siehst du nicht die Flammen, die um ihm züngeln?
Siehst du nicht, wie Schönheit in ihnen versinkt?
Inspirieren nicht die Töne in all ihren Nuancen?
Das Klagelied der Wirklichkeit flackert noch -
doch in deinem Herzen kann es Fantasie-Vögel pflanzen,
die aus deinem Munde auf Reisen gehn,
in andren Herzen brennen
und wie ein Schwall Asche
wieder verwehn,
sobald ein neuer Phönix ist auferstanden,
um zu singen, zu schrei'n, erneut an Herzen zu branden...

LG, Rhea
 



 
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