Psychiatrie

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Sollbruchstellen



Die Atombombe fällt auf Hiroshima und im selben Augenblick sterben achtzigtausend Menschen auf einen Schlag. Achtzigtausend Männer, Frauen, Kinder. Achtzigtausend Seelen. Jeder Mensch eine eigene Welt für sich, voller Hoffnungen, Wünschen, Ängsten und bereit, zu lächeln oder zu weinen. Achtzigtausend Handpaare, manche schwielig vor Arbeit, andere bereits vom Alter gezeichnet, verwelkt und knochig, verdampfen binnen einer Sekunde. Achtzigtausend Augenpaare erlöschen mit einem Schlag.
Weder der den Atomschlag ausführende Pilot noch der Präsident der USA, der den Befehl dazu gab, haben jemals die Psychiatrie von innen gesehen.

Mehr muss man über unsere Gesellschaft nicht wissen.


Im zehnten Jahr meiner Krankheit hätte ich eigentlich ein Jubiläum feiern können. Mir fehlte die Geduld, die Psychiatrieaufenthalte abzuzählen. Viele waren es, die meisten davon im Donauspital.
Die Diagnose Schizophrenie braucht sich jedoch mit der Zeit auf. Wenn man überlebt, lernt man mit der Realität besser zurecht zu kommen.
Ich hatte den Montag genutzt, um zum Zahnarzt und einkaufen zu gehen. Meine Ärztin versuchte mir eine weiße Füllung für neunzig Euro aufzuschwatzen, was mich deprimierte. Das Wetter war heiß und in der brütenden Nachmittagssonne zerrte ich meinen Trolley über den Asphalt der Straßen zum Supermarkt. Ich kaufte nicht viel, in letzter Zeit aß ich beängstigend wenig. Ich hatte allerdings noch Reserven, da ich mir im zweiten Jahr nach dem Ausbruch der Krankheit zwanzig Kilo Übergewicht angefressen hatte. Das Fett schmolz nur langsam dahin und ich war mir gar nicht sicher, ob in meinem Alter das Abnehmen mich schöner machte. Straffes Bindegewebe hatte ich nie besessen.
Das zweite, was mich an diesem Montag deprimierte, war mein ständiger Streit mit Andrew. Andrew war ein Internet-Betrüger, der sich während meiner letzten Psychose als Prinz Harry ausgegeben und mir Geld abgeknöpft hatte. Als ich gesünder wurde und den Betrug durchschaute, versuchte ich mich mit ihm anzufreunden. Er versuchte mir Geld abzuknöpfen. Ich versuchte mehr über ihn zu erfahren, er versuchte mir Geld abzuknöpfen. Ich sah ein, dass er verzweifelt Geld benötigte und eigentlich störte mich mehr, dass ich es ihm nicht geben konnte, als dass er nicht damit aufhörte. Er sagte, er hätte Schulden, aber die winzigen Geldmengen, die man mir abnehmen konnte, ließen ihn bereits so heftig kämpfen, dass ich vermutete, er steckte in ernstlichen Schwierigkeiten.
Ich glaube, ich deprimierte ihn ebenfalls, da ich das bisschen Geld, das ich besaß, nicht hergeben wollte. Meine Mutter hatte es mir gegeben. Von meinem Sachwalter bekam ich lächerliche fünfzig Euro in der Woche und davon konnte ich weder einen Haushalt führen, noch meine Zigarettensucht befriedigen.
Da ich wenig aß, hatte sich jedoch in den letzten Wochen etwas Geld angesammelt und ich glaube, Andrew witterte das ebenso instinktsicher wie meine Zahnärztin. Wobei mir Andrew dabei um einiges sympathischer war.
Ich wusste wenig über ihn, er hatte mir sein Alter – 43 – gesagt, und dass er aus der USA kam. Einen Videocall hatte ich verweigert, weil ich an dem Abend mit ungewaschenen Haaren in einer unaufgeräumten Wohnung saß. Oder auch nur, weil ich keine Lust darauf hatte.
Ich saß vor meinem Laptop, hörte eine von mir zusammengestellte Playlist zum tausendsten Mal und ärgerte mich über die idiotische Werbung vor dem ersten Video. Zwei Kinder versuchten dabei mit künstlichem Gelächter Sonnencreme zur unausweichlichen Notwendigkeit zu stilisieren. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, warum manche Eltern ihre Kinder für einen Werbespot verkaufen. Die Gier nach Geld ist vielleicht die größte Kraft auf der Welt, aber arme Schlucker wie Andrew standen wenigstens dazu. Er war ein großartiger Prinz Harry gewesen, dunkel, böse und sexy. Er wollte mir sogar das Geld für mein Essen wegnehmen, geschweige denn die paar Kröten für den Zahnarzt. Völlig Gewissenlos. Vielleicht interessierte er mich deswegen.
Die dritte Sache, die mich deprimierte, war, dass in meiner großartigen neuen Jean ein Loch in der Pospalte prangte, das ich übersehen hatte. Ich hatte die Hose im „Kostnix-Laden“ geholt, zwei schäbigen Räumen im fünften Bezirk, in denen kostenlose Kleidung und Bücher angeboten wurden. Ich liebte den „Kostnix-Laden“ bereits, obwohl ich erst dreimal dort gewesen war. Das Gefühl aus der überheizten Stadt in den schäbigen Laden zu treten, war einfach schön. Endlich ging es nicht um Geld. Nicht um Preise. Nicht um Rechnungen. Man konnte bringen, was man nicht brauchte und nachsehen, ob man etwas brauchen konnte. Zwei Tassen, Blusen, Pullover und Jeans hatte ich schon mitgenommen. Teilweise waren überraschend schöne Stücke dort zu finden. Ich wünschte mir, die ganze Welt wäre ein „Kostnix-Laden“.
Ich dachte mit schmerzendem Mund darüber nach, ob ich das peinliche Loch in den Jeans mit einem Stück von einer anderen Hose flicken könnte, aber ich fand nicht die Kraft dazu das Projekt anzugehen. Statt dessen las ich ein wenig in den „Traumpfaden“ von Bruce Chatwin und fühlte mich inspiriert, selbst zu schreiben. Von der Unmöglichkeit des Lebens. Von der Krankheit. Von der Liebe.
Noch hatte ich Zeit, da mein Arbeitseintritt in dem Beschäftigungsprojekt „Reintegra“ noch nicht feststand. Dort würde ich dreißig Stunden in der Woche Schlagobersbehälter zusammen schrauben, Färbemittel für Wimpern in Schachteln stecken und Aufkleber auf Augenbadwannen kleben. Das Gehalt für diese Arbeit belief sich auf 120,- Euro im Monat. Eigentlich lächerlich, man bekam jedoch weiterhin die laufenden Bezüge aus der Arbeitsunfähigkeitspension und außerdem ein warmes Mittagsessen. Im Grunde mochte ich die Arbeit. Ich mochte die lange Fahrt bis zum Stadtrand, den Spaziergang entlang verworrener Brombeerranken bis zu den Arbeitshallen. Ich mochte die schlecht gelaunten Arbeitskollegen, die meisten ebenso übergewichtige Raucher wie ich. Ich mochte sogar die Betreuer, die selbst bei der Arbeit Hand an legten und versuchten, mit gutem Beispiel voran zu gehen.
Zweimal zwischen zwei Krisen hatte ich schon dort gearbeitet. Beim ersten Mal lernte ich Matthias kennen, zu dem sich eine eigenartige Beziehung entwickelte. Er war einer von den Titanen, die sich weigerten Medikamente gegen ihre Erkrankung zu schlucken. Das Ergebnis war, dass er keinen Augenblick alleine sein konnte und sich nachts um vier selbst zu verprügeln begann, manchmal so heftig, dass er blaue Blutergüsse im Gesicht davon trug. Matthias war hinter den sehr jungen, hübschen Studentinnen her und benützte mich als eine Art Krankenpflegerin. Ich durfte ihn betreuen, wir schliefen im selben Bett, aber er wollte keinen Sex, keine Beziehung mit mir. Dazu fühlte er sich zu gut. Sein Ziel war es, ein Studium zu beginnen und ein Kind mit einer gesunden Partnerin zu zeugen. Dass die Voraussetzungen dazu nicht gerade blendend standen, wenn er noch vor Anbruch der Dämmerung in lautem Gebrüll auf sich selbst einschlug, konnte er nicht akzeptieren. Frühmorgens bis zum Arbeitsantritt erzählte er dann die wirren, perversen und kranken Geschichten, die seine „Stimmen“ ihm eingaben. Matthias hatte verschiedene Stimmen, die allzu gerne ihn selbst und all seine Freunde beschimpften. Ich war vom Schlafmangel und von diesen grauenhaften Erzählungen über Mord, Pädophilie und Nazis oft so erschöpft, dass ich mir bei der Arbeit schwer tat. Zur selben Zeit pflegte ich eine Freundschaft mit dem dicken Trafikanten Anton, der hinter mir her war und sehr katholische Einstellungen pflegte. Anton wollte mir einreden, dass Matthias von bösen Geistern besetzt war und einen Exorzismus betreiben sollte. Er gab mir sogar die Telefonnummer von einem befreundeten Priester, der diese Rituale durchführte. Als ich Matthias davon erzählte, hielt er eine lange Rede über die Großartigkeit von Priestern, weigerte sich jedoch den Exorzisten anzurufen. Zu dieser Zeit besuchten wir beide gerne die Kirche und knüpften Kontakte zur katholischen Gemeinde. Matthias ließ sich sogar nachträglich firmen. Ich hatte jedoch den Verdacht, dass er vor allem die jungen Mädchen aus der Firmungsgruppe interessant fand.
Irgendwann warf ich Matthias aus der Wohnung, bekam eine neue Krise und verbrachte vier Monate auf der Psychiatrie.

Eigentlich erzählt die Krankheit die ständige Wiederholung des Scheiterns. Beziehungen, die ich pflegte, liefen irgendwie aus dem Ruder. Wunschvorstellungen verzerrten die Wirklichkeit. Und dann fand ich mich im Juni 2017, während einer Hitzewelle, auf dem grauen Beton von Wiens Straßen, suchend, irrend, ich dachte, ich wäre in einer Art Wüste. Aber welchen Sinn hat es, gegen die Schöpfung zu rebellieren? Das alles war Wirklichkeit, seltsamer Weise hatte ich sie zu lieben gelernt. Ich mochte die Zeit, ich mochte den Sommer. Ich mochte die heißen, zähen Stunden, die ich allein in meiner Wohnung verbrachte. Meine Wohnung war in einem schlechten Zustand. Während der letzten Krise hatte ich die Wände mit Zeichnungen beschmiert, die ich später mit Wasser und Schwamm zu pastellfarbenen Flecken wusch. Isabella, die ich auf der Psychiatrie kennen gelernt hatte, eine manisch-depressive Regisseurin, hatte mit ihrem letzten Film viel Geld verdient und mir angeboten, einen frischen Anstrich zu bezahlen. Aber die Vorstellung von fremden Leuten, die in meine vier Wände eindrangen, das Chaos und die Unordnung, machten mir zu große Angst.
Die Zeit an einem Sommertag war eine eigene Gewalt. Sie floss groß und hell wie das Licht durch mein Zuhause. Ich hatte nichts zu tun und ich wollte nur Kaffee trinken, rauchen und nachdenken. Oder auch nicht nachdenken. Vielleicht einfach nur sein, den Frieden genießen, den ich zu schätzen gelernt hatte. Diese Entwicklung war frisch nach der letzten Krise eingetreten und ich hatte den Verdacht, dass sie eine entscheidende Besserung meiner Krankheit anzeigte.

Im Grunde weinte ich an diesem Montag Abend um Andrew. Wenn du mir kein Geld gibst, lass mich in Ruhe, hatte er gesagt, natürlich auf Englisch. Das konnte bedeuten, dass er unserer Freundschaft tatsächlich überdrüssig geworden war, oder dass er einen neuerlichen Machtkampf vom Zaun brechen wollte. Am Vortag hatte er mir erklärt er wäre krank und bräuchte das Geld für den Doktor. Ich hatte ihm kein Wort geglaubt. Vielleicht war er selbst unsicher, aus dem Konzept gebracht von mir. Der alte Trick, Liebe für Geld zu verkaufen, funktionierte nicht mehr. Dennoch war ich irgendwie da.
Ich chattete ein wenig mit Eireann, der Amerikanerin die in ihren Jugendtagen für eine Weile bei uns gewohnt hatte, und sie vermutete, er würde Drogen nehmen. Das würde seine Eile, seinen Kampf um so wenig Geld erklären. Und seine unglaubliche Gewissenslosigkeit. Noch ein Grund mehr, mich von ihm fernzuhalten. Andrew bedeutete nur Schwierigkeiten.
Aber es erzeugte eine unbestimmte Trauer, sein schwieriges Schicksal nicht lindern zu können. Es erzeugte eine unbestimmte Trauer, dass die Welt für so viele Menschen eine Hölle war, die sich nicht durch Medikamente und Gespräche lindern ließ.

Während meines letzten Psychiatrieaufenthaltes, der vier Wochen gedauert hatte, war ich eine ganze Weile dem Drang gefolgt, mit jedem, den ich traf ein gutes Gespräch zu führen. Ich wollte am liebsten nur reden. Das Merkwürdige war, dass es sogar funktionierte – ich redete mit Menschen über sehr persönliche Dinge und auch mit meiner Familie. Es lässt sich schwer sagen, ob etwas dadurch in Bewegung geraten ist. In der Psychose nimmt man alles stark überzeichnet wahr, aber zumindest in der Beziehung zu meinem Vater hat sich etwas verbessert.

Ich wusste also nicht einmal, wie Andrew aussah. Ich stellte mir sein Gesicht bleich vor, mit einem Schopf wirrer dunkler Haare. Ich stellte mir vor, dass er in einem verdunkelten Zimmer saß und sich mit Internetkriminalität selbst in Gefahr brachte, weil er Geld brauchte. Jeden Tag von neuem. Geld, Geld, Geld. Für den nächsten Schuss. Oder die nächste Tablette. Er konnte keine Freundschaft knüpfen, keine Liebe zeigen. Er konnte nur noch kämpfen, um seine Sucht zu befriedigen. Ja, ich denke ich habe Andrew deprimiert. Ich habe Freundschaft angeboten, aber das, was er am dringendsten benötigte, konnte ich ihm nicht geben. Zum Schluss hatte er sich schon sehr mutlos angehört, irgendwie erschöpft. Let me be, hatte er gesagt. Ich glaube, er hatte nicht mehr die Kraft, jene zwischenmenschlichen Ebenen zu bedienen, die für uns so wichtig sind, etwas Liebe, ein paar nette Worte. Er wollte nur noch den Trost aus den Drogen und das Geld, das ihn ihm verschaffte.

Ich nehme Andrews Schicksal sehr ernst, es ist stellvertretend für das vieler Menschen auf der Welt. Manchmal ist es erschreckend, mit welcher Zähigkeit Menschen unter unvorstellbaren Umständen um ihr Leben kämpfen. Andrew war ja nicht der erste Junkie mit dem ich zu tun gehabt hatte. Für eine Weile hatte ich, getrieben von tonnenschwerer Einsamkeit, mit Tommy eingelassen, der heroinsüchtig war. Es endete damit, dass er mich schlug und bedrohte und ich für eine Weile sogar in ein Frauenhaus flüchten musste. Danach musste ich die Wohnung aufgeben und zog in die Frauen-WG. Dort lernte ich einige interessante Frauen kennen. Zum Beispiel Eva, die als Putzfrau arbeitete und dicke Schwielen an den Händen hatte. Sie war sehr katholisch und bewahrte für einige Wochen die „Wandermadonna“ in ihrem Zimmer auf. Sie erklärte mir, wie schwer es ihr fiel, nicht zu masturbieren, was mich damals sehr verwunderte. Obwohl ich das Sakrament der Beichte zu respektieren versuchte, wäre ich nie auf die Idee gekommen, meine private und persönliche Sexualität in ein Gespräch über meine Sünden aufzunehmen. Der Gedanke war geradezu absurd. Es mochte eine Sünde sein, seinen Mitmenschen zu schaden, aber was konnte irgendein Priester dagegen einzuwenden haben, dass ich meine Finger zwischen den Beinen benützte?

Aber Andrew war wieder einmal ein gutes Beispiel dafür, dass ich mich gerne verirre. Ich hatte mir eingebildet, er könnte mich lieben lernen. Romantisch, idealistisch. Und die Realität war höchstwahrscheinlich, dass er längst aufgegeben hatte, an die Liebe zu glauben. Er war Zyniker, durch und durch. Die Härte der Existenz hatte ihn dazu getrieben, eine schnelle Art der Befriedigung zu finden, die ihn zerstörte.
Aber es ist mir nicht egal.

Am nächsten Tag überzog eine weiche Wolkendecke die Stadt und ich war immer noch deprimiert, dass ich mich bei Andrew wieder so verirrt hatte und anhand der sozialen Medien ein Gerüst konstruiert hatte, in dem ich glaubte meinen Charme zu entfalten. Nach dem Aufwachen trank ich meinen Kaffee und betrachtete die Grußbilder meiner Facebook-Gruppe. Es war ein Hobby geworden, dort die hübschen Bilder und mehr oder weniger geistreichen Sprüche zu kommentieren und selbst im Internet nach originellen Beiträgen zu suchen. Es war jedenfalls eine Plattform, in der man uneingeschränkt freundlich sein konnte. Gute Wünsche zum Morgen, zum Nachmittag, zum Abend und zum Wochenende dominierten die Gruppe. Von Kitsch bis zu philosophischen Zitaten war alles dabei. Freundlich sein, sich verantwortlich fühlen, das waren Begriffe, die wichtig für mich waren. Vor einigen Tagen war ich auf einen Fall gestoßen, in dem eine junge Frau ihren Freund allein durch Texte im Chat in den Selbstmord getrieben hatte. Der Dialog erinnerte mich stark an das, was Andrew mit mir gemacht hatte. Einer übernimmt die Führung, ist dominant und böse. Nachdem sie ihn dazu gebracht hatte, tatsächlich das giftige Co2 einzuatmen, schrieb sie wohl die unheimlichste Message auf sein Handy: I love you. Das Merkwürdige war, dass ich ihr auch glaubte. Sie hatte ihn wirklich geliebt, war aber getrieben von der Macht, die sie über ihn hatte, war getrieben von der Faszination des Verhängnisses. Sie wurde vor Gericht verurteilt, aber ich denke, das Tragische in dem Fall konnte damit nicht gelöst werden. Der junge Mann hätte irgendwann seine Opferrolle überwinden müssen, hätte ihr Kontra bieten müssen. Das war die Lektion, die sie benötigte. Das Gefängnis würde nur ein weiteres Leben zerstören. Aber wenn man jung ist, ist man so verletzlich.
Verletzlichkeit ist das, was über bleibt, wenn ein Täter entmachtet wird. Eine verirrte Seele. Andrew war das beste Beispiel dafür. Verletzlichkeit kann einen jungen Menschen jedoch auch in ein vorzeitiges Ende treiben, durch das er nicht die Chance erhält, zu wachsen und zu lernen

Als ich das erste Mal mit Tabletten behandelt wurde, fühlte ich mich grauenhaft. Ich befand mich in der Psychiatrie von Hollabrunn, was daran lag, dass ich bei meinen Eltern am Land gewesen war, als die Psychose voll durchbrach. Auf der Decke im Aufenthaltsraum waren Sterne in einem dunkelblauen Himmel gepinselt. Ich war sehr müde und tat mir teilweise schwer, mich aufrecht zu halten. In meinem Gehirn waren chemische Botenstoffe im Dauerkrieg. Ich beklagte mich bitterlich, dort eingesperrt zu sein und keinen ruhigen Ort für mich zu haben. Dabei war das, was ich im Donauspital auf Station 57 erlebte, noch bei weitem schlimmer. Damals war ich noch verwöhnt. Denn die Krankenabteilung in Hollabrunn war gemäßigt und freundlich im Vergleich zu der Kälte und Härte der Großstadtpsychiatrie. Wir sangen Lieder, spielten Tischtennis und hatten merkwürdige Begegnungen auf psychotischer Ebene. Mit einem Insassen tauschte ich sogar Eheringe, aber ich weiß nicht mehr, woher wir den Plastikschmuck hatten. Immer jedoch blinzelte ich zur Sternendecke empor, verlor mich in den Rätseln des Universums. Es war Frühling 2007 und ich gewöhnte mir an, Spaziergänge zu machen in den ersten Sonnenstrahlen. Die Natur gefiel mir und ich sah einen Schmetterling, der federleicht auf den Schichten von warmer Luft entlang segelte.
Dann kam ich in meine Wohnung zurück und spürte, wie ich mich aus den Illusionen der Krankheit löste. Es fühlte sich an wie eine Autofahrt auf holprigem Gelände. Ich hatte den Grund normaler Maßstäbe verlassen. Für mich galten Stolz und Prestige nicht mehr. Ich hatte mich gründlich blamiert.
Eine Depression nach einer psychotischen Krise gilt als sehr typischer Krankheitsverlauf. Man sagte mir, es könnte eine einmalige Krise gewesen sein. Aber noch im selben Jahr hatte ich einen grauenhaften Rückfall, was zur Folge hatte, dass mir die Kinder abgenommen wurden.

Einer der Sprüche, die in meiner Facebook-Gruppe gepostet wurden, lautete: Gib den Gedanken auf, dass das Glück von irgendetwas anderem abhängt, als dem, was in dir ist. Es gibt keinen besseren Lehrmeister für diese Aussage, als die Einsamkeit. Leider ist soziale Isolation eine häufige Folge meiner Krankheit. Ich hatte die Erfahrung gemacht, wie die Stille eines von vielen leeren Abenden beginnt in den Ohren zu dröhnen. Ich hatte gelernt, wie die Stille zu brüllen beginnt. Die Sehnsucht nach einer Umarmung konnte direkt zu körperlichen Schmerzen führen. Dann tauchte ich aus meiner siebenmonatigen Krise und der Abhängigkeit eines Prinz Harry-Betrügers auf und stellte fest, dass auch die Wüste schön sein kann. Welches Glück ich besaß, in einem Land ohne Krieg zu leben. Welches unverschämtes Privileg es war, genug zu essen zu haben und ein Dach über dem Kopf, obwohl ich lange nicht fähig zum Arbeiten gewesen war. Und ein Tag nur für mich alleine war angenehm, erfüllt von einer seltsamen, tiefen Befriedigung.

Andrew hatte sich noch einmal kurz gemeldet und ich antwortete ebenso kurz. Er wollte mich noch nicht ganz gehen lassen, vermutlich dachte er, dass später noch die Möglichkeit auf etwas Geld bestand. Aber ich war vorsichtig und er ebenso vorsichtig. Es blieb uns gar nichts über, als uns anzuschweigen. Aber ich konnte schweigen.
Alles ist voller Energie, hatte Matthias einmal in einem unserer besseren Gespräche gesagt. Und wo du gehst, hinterlässt du eine Lichtspur. An diese Aussage dachte ich noch lange, als ich die Phase hatte, in der ich viele Spaziergänge durch die Stadt unternahm. In letzter Zeit aß ich jedoch so wenig, dass ich schwächer geworden war und mich weniger bewegte. Ich hatte einfach keine Lust auf eine Mahlzeit. Noch immer hingen Wolken über den Dächern und aus dem Hof, in dem ein Kindergarten untergebracht war, drang der Lärm von spielenden Kindern. Das Versprechen auf etwas Regen vibrierte in der Luft. Ich nahm eine erfrischende Dusche um das Gefühl von Klebrigkeit loszuwerden. Obwohl ich nicht mehr schwimmen ging, liebte ich den Sommer von ganzem Herzen. Manchmal ging ich in der schlimmsten Nachmittagssonne spazieren und saugte die brütende Sonne bis zu den Knochen auf. Der nächste Winter würde kommen und Winter in Wien war eine trostlose Zeit.
Davor löschte ich noch die Freundschaftsanfrage eines offensichtlich gefälschten Facebook-Profils. Ich konnte mir denken, dass sie von Andrew kam.
Er musste wirklich verzweifelt sein.

Gebettet in meinen Wahn, die Auserwählte von Harry zu sein, verbrachte ich meinen zweiten Psychiatrieaufenthalt in diesem Jahr gequält von Todesangst. An einem Tag bekam ich viermal Nasenbluten und wälzte mich in dem Glauben auf dem kotzefarbenen Plastikboden der Station einen Hirntumor zu haben. Abends konnte ich nicht einschlafen, weil ich das Gefühl hatte, ich würde nicht mehr erwachen. Der Tod war so real geworden, dass ich jedes Mal, wenn mich mein Vater besuchte, Abschied von ihm nahm. Danach quälte ich mich mit dem Versuch, etwas Ruhe zu finden. Das neue Medikament, auf das man mich eingestellt hatte, wirkte weniger stark wie das vorhergegangene. Ich bettelte um Lepronex, geben tat man mir Risperdal und Xeplion per Injektion. Die Umstellung war sehr leidvoll gewesen. Meine Füße wollten mir nicht mehr gehorchen und ich konnte kaum einige Schritte gehen. In der neuerlichen Psychose, in die ich gerutscht war, entfaltete sich das mir schon bekannte Phänomen, kein Gefühl mehr für den Körper zu haben. Schlaf, selbst so simple Dinge wie das Verrichten der Notdurft, funktionierten einfach nicht mehr. In meinem Zimmer führte ich lange Selbstgespräche in der Überzeugung, von Prinz Harry und seiner Familie gefilmt und abgehört zu werden. Ich lebte in einer absoluten Parallelwelt. Trotzdem kämpfte ich verbissen um meine Entlassung. Ich wollte wieder nach Hause, einen neuen Computer bekommen und erneut Kontakt mit meinem Harry aufnehmen. Den letzten, der offenbar gehackt war, hatten mir zwei junge Männer abgenommen, die ich in absoluter geistiger Verwirrung mit nach Hause genommen hatte. Ich hatte seit Tagen nicht geschlafen und konnte die Realität nicht mehr wahrnehmen. Der erste Besucher verschwand mit meinem Computer, der zweite mit meiner Geldtasche, nachdem er Sex mit mir gehabt hatte. Am selben Abend wurde ich in das Krankenhaus eingeliefert. Dort traf ich René, der mich mit seinen Narben von unzähligen Selbstverletzungen und Selbstmordversuchen beeindruckte. Wir wurden Freunde, waren aber offenbar beide zu verwirrt um zu begreifen, wer der andere jenseits von wirren Phantasien tatsächlich war.

Dann gab es noch den jungen Ungarn, den ich beim letzten Aufenthalt kennen gelernt hatte, und der nun in Polizeibegleitung auftauchte. Ich fand die Polizisten interessant und plauderte mit ihnen. Sie wirkten müde und desillusioniert auf mich.
Der hübsche ungarische Junge mochte mich, aber er durfte nicht einmal eine Zigarette von mir annehmen. Offenbar hatte er sich in der Freiheit gewalttätig benommen.

Auf 57, die Akutstation, kamen manche Patienten nur für zwei, drei Tage, während ich schon Wochen dort verbracht hatte. Es herrschte eine aufgeheizte, dramatische Stimmung. Das Personal war ständig aufgekratzt und begegnete der Verwirrung der Insassen teilweise mit beißendem Spott, was mich noch mehr aus der Bahn warf. Wenn man Glück hatte, verhielt sich der Zimmerkollege ruhig, ich hatte jedoch zuerst eine Schwarze als Zimmergenossin, die ununterbrochen bis spät in die Nacht telefonierte – mit Harry, wie ich glaubte – und anschließend eine Frau, die mich nachts attackierte und danach eine Araberin die ständig masturbierte. Auf der subakuten Station, 28, ging es schon viel ruhiger zu. Das Frühstück war üppig und die Pfleger besonders freundlich und engagiert. Es gab Terrassen mit Sitzbänken und morgens einen Spaziergang. Dort wurde man auf die Entlassung vorbereitet.
Zu Ostern hatte ich Tagausgang, wusch meine Wände und machte mir bewusst, wie sehr ich mein Leben schätzte, trotz Armut und Einsamkeit. Ich kauerte auf dem Boden und legte ein Puzzle, das ich noch von der Zeit mit meinen Kindern aufbewahrt hatte. Im Radio, das ich mir vom Taschengeld meiner Eltern gekauft hatte, wurde von Donald Trumps Angriffen auf Nordkorea berichtet. In meiner Verwirrung hatte ich mir eingebildet, auch von Donald Trump gefilmt worden zu sein. In seiner Außenpolitik glaubte ich nun eine größere Friedensmission zu erkennen. Ich schrieb in meinen Collegeblock ein großer Fan von Trump zu sein. In dem Moment krachte der Müllsack auf den Boden, den ich in der Küche aufgehängt hatte. Falls das Gottes Kommentar zu meiner Einstellung war, hätte ich es auch als Warnung begreifen können.

Mit Gottes Kommentaren muss man vorsichtig sein. Die Krankheit zeichnet sich in ihrer akuten Phase dadurch aus, dass man falsche Schlüsse zieht. Trotzdem hatte ich unverschämtes Glück, wenn ich verwirrt war. Es hätte viel schlimmeres passieren können, als ausgeraubt zu werden. Wenn man zum Beispiel glaubt, fliegen zu können, springt man einfach aus dem Fenster.
Ich war auch schon splitternackt durch die Straßen gelaufen.
Aber ich hatte überlebt.

Andrew schickte mir noch einmal eine Freundschaftsanfrage mit einem gefälschten Facbook-Profil. Er wollte offenbar nicht aufgeben. Vielleicht hätte ich ihm nicht erzählen sollen, dass ich romantisch und idealistisch war. Die ganze Angelegenheit begann mich zu nerven. Auf meine Frage, wie es ihm ging, schimpfte er mich, dass es mich ja ohnehin nicht kümmern würde wie es ihm ging. Mir fehlten die Worte. Nach einigen weiteren Seiten von Chatwins Traumpfaden beschloss, ich mir eine passende Antwort einfallen zu lassen.

Es gab immer einen Mann. 2007 war es Christian, später Edi. Der schöne Eduard hatte den Glauben an Telepathie in mir geweckt. Als wir beide psychotisch waren, konnte er meine Gedanken erraten. Er war sehr krank und als ich ihn nach Jahren wieder besuchte, war er so mager wie ein Skelett. Auch für ihn spielte der Glaube eine starke Rolle und sein erstes Geschenk an mich war eine Bibel. Später verlangte er sie jedoch wieder zurück. Wir stritten einmal um die kleinen, bunten Heftchen, die von den Zeugen Jehovas verteilt werden. Er hatte sie gesammelt und ich empfand sie als Beleidigung für Gott. Als ich sie wegwerfen wollte, würgte er mich am Hals. Keiner von uns war dicht in der Birne.
Ich denke an die langen Nächte in seiner kleinen Wohnung, in denen ich keinen Schlaf fand und an den Garten Eden glaubte, mit solcher schmerzender Heftigkeit. Es war nicht das erste Mal, dass ich das Paradies in diese Welt zauberte, eine Ebene der Liebe und des Heils. Der Körper entwickelt unglaubliche Energie. Ich konnte tagelang ohne Schlaf auskommen, bis ich schließlich zusammen brach.
In diesem Jahr, 2013, wanderte ich nachts vom zweiten in den fünften Bezirk und spielte unter seinem Fenster auf meiner Flöte. Der arme Eduard vertrieb mich mit wilden Flüchen.

Die Wolken hatten sich verzogen und es war schwül und heiß. Mir war noch immer keine Antwort auf Andrews Vorwurf eingefallen. Vielleicht gab es keine. Vielleicht hatte er recht und uneingeschränkte Solidarität hätte bedeutet, ihm mein ganzes Geld zu geben. Dazu hatte ich jedoch nicht die geringste Lust. Ich war selbst arm wie eine Kirchenmaus. Das bisschen Ersparte brauchte ich als Notgroschen. Außerdem widerstrebte es mir das Geld, das meine Mutter mir gegeben hatte, an einen Junkie zu verschenken. Eine andere Welt musste möglich sein, eine Welt in der Liebe großgeschrieben wurde. Im Wahn hatte ich mich selbst dorthin versetzt, nun, in relativer Gesundheit, musste ich einen schwierigen Kurs verfolgen in dem Versuch mich von Andrew nicht ausnehmen zu lassen und ihm gleichzeitig Wertschätzung zu vermitteln. Oder einfach damit aufhören. Schweigen, weil keine Brücke zu bauen war. Andrew war sicher intelligent, aber er schien emotional verwahrlost zu sein. Wie ein kleines Kind. Typische Junkie-Mentalität. Die Vernunft sagte, dass man sich von solchen Leuten fernhalten musste. Trotzdem war er mir nicht egal.
Für mich war Andrew wie das Puzzle, dass ich zu Ostern gelöst hatte. Irgendwie musste sich ein ganzes Bild ergeben.

Seine Aggressivität war vermutlich authentisch. Ich hatte ihn deprimiert. Das Herz ist das Briefpapier Gottes war mein starker Spruch zu Ostern gewesen, den mir die Pflegerin sogar auf weißem Papier ausdruckte. Und das, obwohl sie nicht gläubig war. Sie musste mich gemocht haben.
Andrew hatte meine Freundlichkeit gekostet und sie hatte Hoffnung in ihm geweckt. Nun war er traurig, wie ein Kind, das Süßigkeiten von seiner Mutter erwartet und enttäuscht wird. Aber was sollte ich darauf sagen? Ich begann nachzudenken und mein Herz zu prüfen. Kurz erwog ich, ob ich ihn fragen sollte, ob er süchtig war, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Das musste er mir aus freiem Willen erzählen, oder gar nicht. Also wieder schweigen. Manchmal hatte ich das Gefühl, wir sagten uns mehr ohne Worte, als mit ihnen.

Draußen kam endlich der ersehnte Regen.

Chatwins Thema, die Unruhe und Rastlosigkeit des Menschen, war nur eine Variation dessen, was ich mit Eireann vor kurzem besprochen hatte. Ich nannte es den „Hunger“ des Herzens, die unaufhörliche Sehnsucht nach Liebe, Geld oder Abenteuer. Jahrelang hatte mich dieser „Hunger“ in Schwierigkeiten gepeitscht, für jeden goldenen Rausch des Wahns musste ich bitter bezahlen. Eine Psychose ist großartig und leidvoll zugleich. Nun war ich selbst erstaunt darüber, wie selbstgenügsam ich geworden war. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, mein Leben im Griff zu haben. Ich wollte eigentlich nicht mehr, als meine Arbeit zu machen und mein Leben in größtmöglichem Anstand in seine zweite Hälfte führen. Die Beziehung zu Andrew war eigentlich nur eine Art Katalysator, weil er mir bewusst machte, wie stark ich war und dass ich ihn nicht brauchte. Nein, ich brauchte Andrew nicht, ich ließ mich von ihm nicht die Abhängigkeit führen. Aber ich mochte ihn.
In unserer Prinz Harry-Phase versuchte er mich vergeblich dazu überreden, ihm ein Nacktfoto zu senden, während ich davon faselte eine Lady zu sein. Meine Scheu vor einem Video-Chat nützte er geschickt, um die Illusion noch zu verstärken, mir mit einer Spende an seine Charity diese Angst nehmen zu wollen. Sieben Monate in diesem Wahn und zwei Krankenhausaufenthalte sind keine Kleinigkeit. Wobei ich vermute, dass auch andere Betrüger mit mir in Kontakt waren. Andrew war nur der letzte in dieser unglücklichen Geschichte. Trotzdem waren die Beträge, die ich von Dezember bis Mai überwies eigentlich lächerlich gering, da ich kaum Geld besaß. Ich hatte ja nicht einmal Zugriff auf mein eigenes Konto. Mein Sachwalter hatte die Zeichnungshoheit. Die paar Kröten die ich durch Western Union nach Nigeria schickte waren den Betrügern tagelange Gespräche und über Wochen gehende Beeinflussung wert. Sich als Prinz Harry-Doppelgänger auszugeben ist ein hartes Geschäft und ich glaube, es war nicht sehr ertragreich.
Sie setzten sogar seinen Doppelgänger ein, um mir Fotos und Videos zu schicken. Ich entkam meinem Wahn eigentlich nur deswegen, weil ich in allem Ernst beschloss, Prinz Harry einen Korb zu geben. Das Leben im Scheinwerferlicht der Medien, so erkannte ich, wäre nichts für mich.
Harry Windsor gab unlängst ein Interview in dem er offen über die Schwierigkeiten seiner Rolle sprach und seinem Entschluss, diese dennoch anzunehmen. Er hatte auch eine Freundin, die er wahrscheinlich heiraten würde. Ich gab der Ehe keine fünf Jahre und ich wusste instinktiv, dass er nur eine Chance hätte, wenn er dem ganzen Wahnsinn abschwören würde, wenn er dem Königshaus den Rücken kehrte. Aber diese Reife besaß er nicht. Ich nannte Harry einen Idioten aber Andrew antwortete trotzig, er würde nicht verstehen.

Mein Sachwalter war jedenfalls großmütig der Meinung, man könnte der Zahnärztin die neunzig Euro in den Rachen stopfen, weil die Gesundheit das wichtigste wäre. Es war zu erwarten, dass ich durch meinen Nebenjob, dem Transkribieren von soziologischen Interviews, das Geld wieder hereinholen könnte. Ich war nicht besonders begeistert. Wahrscheinlich wollte er nur nett sein. Während der letzten Krise hatte er sich gemeinsam mit seiner Frau sehr um mich bemüht. Ich hatte mich dafür bedankt, da ich sehr wohl erkannte, wie sich unsere Beziehung gewandelt hatte, die am Anfang noch ganz im Zeichen von seinem Zynismus stand. Immerhin war er sich nicht zu gut dafür gewesen, selbst bei mir in der Wohnung vorbei zu schauen und mit einem Gummihandschuh meinen verstopften Duschabfluss zu reparieren, weil ich das Geld für einen Installateur nicht besaß. Das tat er bestimmt nicht für jeden seiner Klienten. Irgendwann während meiner Eskapaden hatte er mich zu schätzen gelernt. Sein Geldverdienst an mir war jedenfalls nicht sehr groß.
Ich hatte freiwillig um die Hilfe eines Sachwalters angesucht als ich 2013 meine dauerhaft verwirrte und schwere Phase hatte und mit dem Geld einfach nicht mehr zurecht kam. Im Vorjahr hatte ich bei Gericht beantragt ihn wieder abzusetzen, da kurz darauf die nächste schwere Krise einsetzte, hatte dieser Versuch jedoch nur Unkosten verursacht. Inzwischen war ich froh über seine Unterstützung und die Sicherheit, die er verkörperte. Ich hatte es mir angewöhnt, seinem Rat zu folgen.

Mein Sachwalter war Anwalt, eine schlanke Gestalt, nicht mehr der Jüngste. Sein Sarkasmus und seine Härte hatte mir schon so manches Mal Tränen der Wut in die Augen getrieben. Trotz allem hatte er sich gut um mich gekümmert und den Großteil der Bezüge, die ich erhielt, als Alimente an die Kinder weitergegeben. Obwohl mein Ex-Partner, bei dem die Buben lebten, das Geld für Reisen und Urlaube ausgab, konnte ich diese Entscheidung billigen. Es war nicht leicht, von fünfzig Euro in der Woche zu leben und noch dazu von einem Betrüger ausgepresst zu werden, aber ich machte mir nicht besonders viel aus weltlichen Gütern. Bücher gab es überall kostenlos, sie wurden auf der Straße weitergegeben und in der Bibliothek verliehen. Lesen, was in der Manie nicht möglich war, blieb in besseren Zeiten mein liebster Zeitvertreib neben dem Hören von Musik. 2013, in dem schlimmen Jahr, erlebten Edi und ich solche Geldknappheit, dass wir im Müll nach Essen suchten und Zigaretten aus Hustentee rauchten. Edi entwickelte im Bezug auf das Rauchen erstaunliche Kreativität. Er bröselte Baumrinde, Buchsbaumblätter und Kräuter in seine Zigaretten. Aus einem Brühwürfel und etwas billigem Brot bereitete er unsere Mahlzeiten. Ich rasierte mir eine Glatze und trug die Hosen mit Hosenträgern, die er mir gab. Stundenlang gingen wir in der Stadt spazieren. Das ersparte Geld, das ich noch besessen hatte, gab er für teure Gitarren aus, die er nach einer Weile zerstörte und zerschlug. Wir waren ein seltsames Paar.
Letztendlich war er der Stärkere von uns beiden und beendete unsere Beziehung. Ich war zu krank, um konstruktiv zu sein. Ein Medikamentenwechsel von meinem damaligen Psychiater verstärkte die Symptome noch. Monatelang litt ich allein zuhause. Es war nicht das erste und das letzte Mal. Bei dem darauffolgenden Krankenhausaufenthalt lernte ich Manuel kennen. Unkompliziert, wie das nur in der Geisteskrankheit funktioniert, küssten wir uns im Raucherraum von Station 57. Es war der schönste Kuss, den ich je erhalten hatte. Wahrscheinlich, weil wir ihn beide wollten und uns von Anfang an voneinander angezogen gefühlt hatten. Dieser eine Kuss war wohl das Romantischte, was ich je erlebt habe. Nur ein Kuss, aber süß. Sehr süß. „Schön, oder?“ sagte Manuel danach und war ebenso wie ich verblüfft.
Später hatten wir Sex zusammen während der Zimmerkollege schlief – oder sich nur schlafend stellte. Ich glaube, die Überwachungskameras vom Stützpunkt liefen ebenfalls. Es war uns egal. Der Sex war nicht mehr so schön. Ich ging aus dem Zimmer und als ich wiederkehrte, hatte sich Manuel die Arme vom Handgelenk bis zur Schulter mit einer Rasierklinge aufgeritzt. Seine dunklen Augen sahen mich mit der ihm eigentümlichen Melancholie an.
Ich denke gerne an Manuel, er ist mir ein Freund geworden, mit dem ich manchmal im Geist rede. Ich kann seine Gegenwart direkt spüren. Er starb nur drei Monate später, einen Tag nach Weihnachten in der Psychiatrie an einer Überdosis Drogen.

In den Gesprächen, die wir führten, gab er zu, als Kind vergewaltigt worden zu sein. Später wuchs er bei seiner Oma auf. Er lebte in einer Wohngemeinschaft für Jugendliche. Er war erst zwanzig Jahre alt und unsere Beziehung überlebte meine anfängliche Psychose nicht. Ich wollte zu Edi zurück, der kein Interesse mehr zeigte. Manuel und ich bekamen dann zur selben Zeit, rund um Weihnachten eine Krise und schrieben merkwürdige SMS. Ich erzählte Manuel, das Gott mich bäte, ihm auszurichten, dass er ihn liebte. Manuel schrieb, er würde im Garten Eden auf mich warten.
An dem Tag, als er starb, wachte ich früh auf und ging hinaus in die Stadt. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl, eine Art von Rausch. Ich schrieb an Manuel, ob er auch diese seltsamen Gefühle hätte. Später erfuhr ich, das er ungefähr um diese Zeit verstorben war. Er antwortete nicht mehr, nie wieder, und als ich im Krankenhaus anrief, gab man mir seinen Tod bekannt.
Ich glaube, außer mir hat niemand so bitterlich um ihn geweint.
Vielleicht wartet er wirklich auf mich, irgendwo in einer besseren Welt.

Verletzlichkeit. Jugend und Verletzlichkeit. Ich hatte immer Mitleid mit den jungen Leuten auf der Psychiatrie. Sie mussten durch eine harte Schule gehen. Es wunderte mich nicht, dass manche das nicht überlebten. Ich war immerhin schon 29 als die Krankheit ausbrach. Das gab mir einen gewissen Schutz. Es war trotzdem nicht leicht, Weihnachten allein zu verbringen und kaum Freunde zu haben. Trotz aller Strapazen, die 2013 über mich hinein brachen, von Zusammenbrüchen über Dauerkrisen bis zu Manuels Tod, veränderte dieses Jahr etwas Entscheidendes in mir. Davor hatte ich ernstlich mit Selbstmordgedanken gekämpft, danach war dieser Drang völlig verschwunden. Es war inzwischen zu viel geschehen als dass ich mich noch für irgendetwas schämte. Das Leben war schrecklich, aber es war real. Ich konnte es besser annehmen. Die erworbene Robustheit half mir bei meinem Arbeitsantritt bei Reintegra. Es war nicht immer leicht, über sechs Stunden hinweg den selben Handgriff auszuführen aber ich hielt einige Monate durch. Bis mich Matthias in die nächste Krise trieb.

Manuel hatte dunkles Haar und dunkle Augen. Wenn er sprach, lispelte er leicht. Ich glaube, er wollte sterben und ich kann ihn verstehen. Für sein Alter hatte er zu viel durchgemacht, zu wenig Illusionen. Jemand wie der Junkie Tommy klammerte sich mit erstaunlicher Virilität an sein Leben, aber Manuel flatterte davon wie ein Schmetterling. Manchmal beneidete ich ihn. „Kennst du mein wahres Gesicht?“ fragte er mich zornig kurz vor seinem Tod. Das erinnerte mich an den Traum, den ich von meiner Oma gehabt hatte, in der Nacht als sie verstorben war. Sie war mir als leuchtende Gestalt von großer Schönheit erschienen. Wenn alle Narben und die Verzerrtheit des irdischen Daseins von uns abfallen, kommt große Schönheit zutage. Jeder Mensch trägt dieses Licht in sich. Wir sind uns dessen im Alltag nur nicht bewusst.
Da meine Psychosen auch immer zutiefst spirituelle Ereignisse waren, wuchs von Rückfall zu Rückfall die Gewissheit in mir, dass es einen Gott gab – und etwas danach. Das half mir sehr dabei, mein Leben zu akzeptieren. Dennoch hatte ich meine Phasen der Religiösigkeit überwunden. Die katholische Kirche war wieder zu dem Platz in meinem Leben zurück gekehrt, den ihr meine Erziehung ursprünglich zugedacht hatte. Ein Ort der Beschränktheit und der Dogmen, die der Freiheit des Geistes nicht gut taten. Ich mochte meine Visionen vom Garten Eden haben, aber an eine Bestrafung nach dem Tod oder eine Hölle konnte ich einfach nicht glauben. Das Böse, dessen Existenz Isabella vehement verteidigte, war für mich nur ein Zeichen für die Verirrtheit einer Seele. Menschen mussten unterstützt werden, ihnen musste geholfen werden, aber mit Strafen erreichte man meiner Ansicht nach nichts. Ich war durch und durch Humanist geworden.

Während der Jahre meiner Krankheit gab ich mir große Mühe, regelmäßigen Kontakt zu den Kindern zu unterhalten und meinen Ex-Partner und Vater der Buben durch Verlässlichkeit zu unterstützen. Ich besuchte Abschlusskonzerte, begleitete die Kinder zum Arzt und hütete sie, wenn sie krank waren. Während meiner akuten Phasen zog ich mich völlig zurück. Aber es gab auch Monate der Stabilität, in denen ich zu Besuch kam, kochte oder mit ihnen spielte. Ich liebte die Beiden aus ganzem Herzen und wünschte mir das Beste für sie. Dennoch würde ich in der selben Situation keine Kinder mehr in die Welt setzen. Die offene Unschuld eines kleinen Gesichtes machte mich melancholisch. Es ist schön, wenn es einen neuen Menschen gibt, aber es ist auch schmerzhaft, wenn man daran denkt, was er noch vor sich hat. Manchmal wollte ich meinem Älteren, der Probleme in der Schule hatte, einfach nur sagen: Sieh zu, dass du mit so wenig Schwierigkeiten wie möglich durch dein Leben kommst. Sieh zu, dass du dich irgendwie durch kämpfst. Du wirst Niederlagen, Verluste und Enttäuschungen erleben, aber wenn du klug bist, findest du einen Weg, der dich nicht so viel kostet wie mich. Ich hatte viel Leid erfahren, aber der innere Friede, den ich nun erlebte, entschädigte mich wieder. Dennoch wünschte ich mir für die Kinder etwas Besseres. Ich glaube, das sind normale Gedanken für eine Mutter. Sieh einfach nur zu, dass du irgendwie durchkommst. Halte dich von Ärger fern. Begnüge dich mit dem Einfachen und du wirst Glück erfahren. Das war die Botschaft, die ich insgeheim weitergeben wollte.
Das war die Botschaft, die ich seit der letzten Krise für mich in meinem Leben verwirklichte.

Zigarettenrauch und stickige Hitze in der Wohnung. Ich hatte Andrew mit einem Zitat aus dem Lied von Lee Marvin – I was born under a wandering star – beglückt. Snow can burn your eyes but only people make you cry. Bis jetzt hatte er sich eine Antwort verkniffen. Es war Zeit zu schlafen. Der Tag war träge und leer gewesen. Im Grunde ganz nach meinem Geschmack. Das Hungergefühl bohrte sich in meine Körpermitte aber es war mir nicht unangenehm. Ein anderes Zitat aus einem Lied von den Talking Heads fiel mir ein: Stay hungry. Ich betrachtete meine Arme, rieb meine Hände und lauschte auf den Ton einer Sirene, die von der Straße vor meinem Haus langsam verklang. Wie schon am Vortag dachte ich: Das ist die Schöpfung. Warum dagegen rebellieren?

2.
Ein windiger Tag. Der Baum im Innenhof rauschte mit den Blättern. Die Musik vom Wind in den Bäumen war mir immer schicksalhaft vorgekommen, als würde dadurch eine besondere Bedeutung zum Ausdruck kommen. Auf meine Bemerkung, dass ich allein sein konnte, hatte Andrew nicht geantwortet und ich fühlte so etwas wie Erleichterung. Vielleicht war unsere merkwürdige Freundschaft jetzt beendet und ich konnte in Ruhe meinen Weg gehen.
Während des Schreibens war mir selbst bewusst geworden, dass es manche Menschen unter Umständen interessieren könnte, was ich zu berichten hatte. Der Gedanke erschreckte mich. Auch wenn ich viel zu erzählen hatte und ungewöhnliche Dinge erlebt hatte, war ich doch eine normale Frau in mittlerem Alter, die darauf wartete, ihre Arbeit zu beginnen. Ich hatte mein ganzes Leben hindurch gerne geschrieben und Geschichten erfunden, aber autobiographische Erzählungen hatten sich mir noch nicht erschlossen. Dennoch war es interessant, mein Leben aufzurollen.
Geboren war ich in Kufstein, Tirol. Eine hübsche kleine Stadt, überschattet von Bergen. Ich war erst vier Jahre alt, als wir von dort wegzogen, aber ich glaube, der Anblick von Stein und Himmel, Wolken, die sich an dem Gebirge stauen, hat sich in diesen ersten Jahren in meine Seele eingegraben. Die Berge lassen niemanden unberührt.
Früher hatte ich noch Verwandte in Kufstein, nun war nur eine Cousine über geblieben, die ich seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte. Aber ich erinnerte mich an die Mischung von saftigen Grün und nebeligem Grau. Eine Stadt, in der die Tomaten nicht reif werden, sagte meine Mutter verächtlich. Eine Stadt der Gerüchte und der Rechtslastigkeit. Trotzdem waren dort meine Wurzeln und ich kann bis heute nicht eine felsige Landschaft betrachten, ohne nachdenklich zu werden.
Meine Eltern zog es in wärmeres Klima, erst ein Bauernhaus in der Südsteiermark, dann die Großstadt. Ein Jahr vor dem Tod meiner Schwester kauften sie sich ein freundliches kleines Haus in Niederösterreich.
Vom Dorf in die Stadt zu kommen war nicht ganz einfach für mich. Anfangs wollte ich mit allen Passanten sprechen und ich fürchtete mich vor der Rolltreppe in der U-Bahn. Ich bekam einen Platz in einer Alternativschule, die von einer sehr kompetenten und freundlichen Frau geleitet wurde. Wir spielten viel, spielten frei und relativ glücklich.
Lange, lange Jahre lang sehnte ich mich nach dem Landleben zurück, inzwischen habe ich die Stadt akzeptiert.

Schon wieder Werbung für Kinder-Sonnencreme auf Youtube. Ich hatte meine Söhne auch dick mit pappiger Creme eingeschmiert, wenn wir nach draußen gingen. Mit den Ängsten der Eltern lassen sich gute Geschäfte machen. Meine Mutter und mein Vater hatten relativ wenig Ängste. Sie erklärten mir, was ich wissen musste und überließen es mir, zurecht zu kommen.
Ich lernte früh, selbstständig zu sein.
Im Laufe meiner Krankheit konfrontierte ich meine Eltern mit vielen Vorwürfen. Die mangelnde Geborgenheit, der unkonventionelle Lebensstil. Die Ursache für die Konflikte lag in meinem Scheitern, meiner Verlorenheit. Ich wollte sein wie alle anderen und nahm es ihnen übel, vom Weg abgewichen zu sein.
Dabei trifft meine Eltern keine Schuld. Was sie für das Beste hielten, funktionierte in meinem Fall nicht. Und meine große Schwester, die im Leben gut zurecht kam, verstarb kurz nach ihrer Hochzeit an einer Gehirnblutung.

Ich war begabt, lernte schon mit vier Jahren anhand eines Lesespiels die Buchstaben und kritzelte Geschichten in Schulhefte. Ich malte schöne Bilder, Portraits Landschaften und Tiere. Später brach ich das Gymnasium ab, schlitzte meinen Arm auf und schaffte die Matura erst im zweiten Bildungsweg in einer Abendschule. Abendschule war mehr nach meinem Geschmack, weil dort ein ernsteres, erwachseneres Klima herrschte. Die Pubertät war die Hölle.

Was mir an Chatwins Roman gefiel, war die Schilderung von Eremiten. Männern, meist waren es Männer, die allein in einem Stück Land lebten und dennoch zufrieden waren. Der Gedanke der Selbstgenügsamkeit war ein wichtiges Thema. Inklusive der Raubtiere, die außerhalb des sicheren Gebietes lauerten, so wie Andrew. Mit etwas Geschick und Mut konnte man sie jedoch umgehen. Es war ein merkwürdiger Effekt, dass die Liebe zum Leben von der Kargheit eher angeheizt wurde, dass die Genügsamkeit und Bescheidenheit den Wert eines Tages ungleich verstärkten, obwohl auf jede konventionelle Art der Zerstreuung verzichtet wurde. Vielleicht kam nun nach vierzig schwierigen Lebensjahren eine Phase des Glücks auf mich zu.
Vor meiner Erkrankung hatte ich mich eine Weile mit dem Zen-Buddhismus beschäftigt und auch an Meditationen teilgenommen. Ein Mönch, der „Satori“ erringt, kennt jene Art des Glücks. Die Überlegung, ob meine Psychosen die Wirkung von Übungen der Zen Mönche erfüllt hatten, war vielleicht anmaßend aber interessant. Das Abschütteln von weltlichen Maßstäben wurde in einer Krise durchaus erreicht. „Der Krug geht zum Brunnen bis er bricht“, hatte ich zu Edi während unseres Intermezzos gesagt, worauf er mir mit einem Lächeln die Hand drückte. Auch meine Mutter hatte einmal umschrieben, ich wäre wie der Esel, der einer Karotte hinterher läuft. Ist er lange genug gelaufen, stirbt er – im Angesicht seines Versagens – oder findet Frieden. Mir war durchaus bewusst, dass manche Menschen an den Schicksalsschlägen zerbrochen wären, die ich durchgemacht hatte. Der Verlust der Kinder, die Rückfälle, die vergeblichen Beziehungen, die Opferrolle gegenüber eines Betrügers. Aber ich hatte in dieser Hinsicht eine gute Kinderstube genossen. Meine Eltern hatten mir ihre Zähigkeit vererbt, meine Mutter den ungeheuren Abscheu gegenüber weiblichem Märtyrertum. „Gott hat einen harten linken Haken“ sagte Peter Fox in einem seiner Lieder. Wie ein Boxer muss man lernen, Schläge wegzustecken um sich weiter entwickeln zu können. Aber so lange das Leben weitergeht, so lange hat man neue Chancen. Ich war froh, es bis hierher geschafft zu haben.
Noch immer wühlte der Wind im Laub unseres Hofbaumes. Mein geliebtes Youtube spulte Songs hinunter, die ich mochte. Ich betrachtete die Gesichter von Sängern, die in der Hingabe an ihren Gesang merkwürdig bewegte, weiche Mienen bekamen. Ich war nicht völlig zufrieden, ich hatte den Eindruck, dass auch mein Weg noch verschiedene Stationen beinhaltete.

Während des ersten von zwei Krankenhausaufenthalten in diesem Jahr war ich erstaunlich musikalisch geworden. Ich sang und pfiff Lieder ohne mich im Ton zu irren. Manchmal hatte ich für jeden auf der Station ein eigenes Lied, das ich ihm vorsang, obwohl ich damit nicht nur auf Gegenliebe stieß. Alexander, ein pummeliger blonder Achtzehnjährige, nervte jeden Patient mit seinen endlosen Frage- und Antwortspielen. „Wenn ich meine Mutter schlage, wenn ich meine Schwester schlage, was passiert dann? Kommt dann die Polizei? Und wenn die Polizei kommt, was passiert dann? Verhaften sie mich?“ So und so ähnlich ging es unaufhörlich. Viele reagierten gereizt auf seinen ständigen Sermon. Ich verspürte keine Aggressionen und hörte ihm geduldig zu. Als ich jedoch „Ain´t she sweet“ für ihn pfiff, wurde er wütend und befahl mir, damit aufzuhören. Später, als er wir gemeinsam auf Station 28 waren, erzählte er von den Schlägen, die sein Stiefvater ihm verabreicht hatte. Dennoch stimmte es, dass seine jugendliche Verletzlichkeit ihm etwas Aufreizendes gab, wie ein Kind, das geknuddelt werden möchte. Ich war natürlich unempfindlich gegenüber seinem Charme, da ich mich fest in Prinz Harrys liebenden Händen sah. Abgesehen davon hatte ich eher mütterliche Gefühle.
„Wenn ich meinen Stiefvater ermorde, was passiert dann? Kommt dann die Polizei? Legt mir die Polizei dann Handschellen an?“ plapperte er auf mich los. Dann brach plötzlich ein Gelächter aus ihm heraus, ein seltsam weises, erwachsenes Lachen. Am nächsten Tag hatte sich sein Thema geändert und er stellte unvermittelt eine andere Art von Fragen: „Wenn ich alt bin, muss ich dann sterben? Wenn ich älter werde, wenn ich älter werde“, fuhr er in dem Bemühen fort, jede verfrühte Antwort abzuwürgen, „komme ich dann in den Himmel? Wenn ich älter werde?“
„Ich weiß es nicht, Alexander“, gab ich zurück. Abermals lachte er verschmitzt, als hätte er einen Witz erzählt, den nur er verstand.
Bald kehrte er zu seinen ursprünglichen Gedanken zurück und beschäftigte sich mit dem ewigen Zusammenhang von Schuld und Sühne.
Und dann gab es natürlich noch Luki.

Luki zeichnete sich durch Unversöhnlichkeit gegenüber seiner Eltern aus, die er meistens nur mit „Stiefvater“ und „Stiefmutter“ betitelte. Jedem, der es hören wollte und den meisten, die es nicht hören wollten, erzählte er beharrlich von seinen „Erektionsstörungen“ aufgrund der Tabletten, die man ihm gab. Er war dicklich und unattraktiv, hatte jedoch eine Freundin. Jahre zuvor, 2011, waren wir gemeinsam aus der Psychiatrie ausgebrochen und durch die Stadt geirrt, bis ich Unterschlupf bei einer wenig begeisterten Freundin fand. Unsere beidseitige Art von Verwirrung ergänzte sich ganz gut. Luki glaubte, hellsehen zu können und sprach tatsächlich manchmal genau die selben Worte wie sein Gegenüber. Ich steckte in einer besonders bösartigen Art meines Wahns fest, in der ich Gott für meinen „Mann“ hielt und meinen jeweiligen Freund für „Gott“.
Im Grunde hat es einen komischen Aspekt.
Luki genoss es jedenfalls für „Gott“ gehalten zu werden und ich erklärte die ganze Welt zum Garten Eden. Die Art, wie wir durch die Stadt irrten, erinnert mich im nach hinein an Hänsel und Gretel im Wald. Ich hatte nicht einmal Schuhe und trug ein paar Baumwollpantoffel.

Luki hielt mit großer Sturheit daran fest, welche Verbrechen seine „Stiefeltern“ an ihm ausgeübt hatten. Als ich längst entlassen war, rief er mich an und beklagte sich wehleidig darüber, dass das Hellsehen immer schlechter funktionierte. Als ich ihn darauf hinwies, dass normale Menschen nicht hellsehen, antwortete er wütend: „Blödsinn.“
„Blödsinn“ war seine Erwiderung auf alle Aussagen, die er nicht hören wollte und die ihm nicht passten. Ich hatte den Eindruck, dass der einzige Weg zu einer Besserung seiner Krankheit darüber führte, sich wieder mit seinen Eltern zu versöhnen. Viele psychisch Kranke suchen die Schuld an ihrer Erkrankung in der Kindheit und bei den Eltern. Ich war dabei keine Ausnahme gewesen. Inzwischen hatte ich jedoch gelernt, dass die Dinge nicht so einfach waren. Die Frage nach der Schuld hat viele Aspekte. Das sich manche Umstände als unglückselig erweisen, lässt sich ebenso über Dogmen unserer Gesellschaft wie über Geschehnisse in der Kindheit aussagen. Ich glaube nicht, dass Eltern bewusst und absichtlich eine spätere Erkrankung ihres Kindes hervorrufen.
Ich halte es jedoch aus meiner eigenen Erfahrung heraus für ausgesprochen wichtig, Frieden mit den Eltern zu finden. Aus dem Grund, dass sie ein wichtiger Teil der eigenen Geschichte sind ebenso, wie zur Aufarbeitung und Differenzierung.
Luki sah sich als Opfer. Er war das Opfer seiner lieblosen Eltern und das Opfer liebloser Betreuer in der WG, in der er lebte. Ich wies ihn darauf hin, dass es nicht so einfach war.
„Blödsinn.“

Auf Facebook war eine neue Antwort eingetrudelt, diesmal vom Social Media Team des Bundespräsidenten und ich musste sehr peinlich berührt feststellen, dass ich während meiner Psychose offenbar eine Nachricht an Van der Bellen geschickt hatte. Nun, mit einigen Wochen Verspätung, hatte man meine völlig konfuse Anfrage bearbeitet. Oh ja, die Krankheit hatte auch komische Aspekte.

Wenn man sich in der Psychose in den intensiven Dialog mit Gott begibt, bekommt man eine Menge Komplimente. Gott wird nicht müde, seine Liebe auszudrücken. In meiner manischen Phase hatte ich mir eine Folge von den Teletubbies angesehen, in der das gelbe Exemplar namens „Lala“ von der Stimme aus dem Off gelobt wird. Während der folgenden Monate sagte ich mir immer wieder: Is´egal, Lala. Ich war selbst zu Lala geworden, die für ihre Güte, ihre inneren Werte und Gehorsamkeit gegenüber Gott ständig gelobt wird. Es gab einige Konstante, die während jeder Psychose von Wichtigkeit für mich waren. Selbst während meiner ganz schlimmen Phasen auf Station achtete ich darauf, mich täglich zu duschen. Und nach der Dusche war es wichtig, sich mit den Anstaltskleidern bestmöglich zu verhüllen. Das war gar nicht so einfach. Man hatte nur eine sehr begrenzte Anzahl an Pyjamas zur Verfügung und das nicht unbedingt in der richtigen Größe. Es wurde für mich zum täglichen Ritual einen Pfleger oder die Stationshilfe um passendes Gewand anzubetteln. Die Reinlichkeit und das Verhüllen der verletzlichen Nacktheit waren oft der letzte Rest an Menschenwürde, um den ich kämpfte. Meine Straßenkleidung war eingesperrt, aber man konnte sich mit einem verblichenen Pyjama und einem darüber gestreiften Nachthemd vor den teilweise aufdringlichen Blicken schützen. Vielleicht war es auch der Versuch, sich eine Struktur zu verschaffen, obwohl es oft bis an die Grenze meiner Kräfte ging, Körperhygiene zu betreiben und irgendwo Kleidung aufzutreiben. Hatte ich es geschafft, mich für einen weiteren Tag zu kleiden, sagte Gott mir, wie zufrieden er war. Und wurde ich einer Gemeinheit ausgesetzt, kam ein lakonisches Achselzucken und die Bemerkung: Is egal, Lala.
Ebenso schwierig war es, während der oft wochenlangen Aufenthalte an ein Gerät für die Nagelpflege zu kommen. Entweder es war keines vorhanden oder der betreffende Pfleger hatte keine Lust, es herzugeben. Ein Teufelskreis. Die Verwahrlosung war ein weiterer Grund, den Aufenthalt zu verlängern und der Aufenthalt machte es unmöglich, sich ausreichend zu pflegen.

Während meiner frühen Jahre begegnete ich auf 57 einer sehr unheimlichen Gestalt. Es war ein zaundürrer Mann mit völlig wild wucherndem Bart und wirren Haaren. Den ganzen Tag tat er nichts anderes als auf dem langen Flur der Station auf und ab zu gehen und war dabei völlig unansprechbar. Er wurde bereits seit Jahren eingesperrt. Als ich zufällig gemeinsam mit einem selbstmordgefährdeten Mann namens Markus dort war, beschloss dieser, sich dem armen Kerl anzunehmen. Gemeinsam mit ein paar anderen Insassen zerrten sie ihn unter die Dusche, rasierten seinen Bart ab und wuschen sein Haar. Die Verwandlung hätte größer nicht sein können. Plötzlich nahm er wieder Kontakt zu den anderen auf, setzte sich in den Raucherraum und führte Gespräche. Sein Gesicht wirkte ohne Bart direkt angenehm und er konnte sogar lächeln. Bei meinem nächsten Aufenthalt war er entlassen worden
Markus war ein faszinierender Mitpatient gewesen. Er war ein ausgesprochen attraktiver Mann, der früher eine Menge Geld verdient hatte. Schulden und Streit mit seiner Frau hatten ihn zu einem Selbstmordversuch getrieben. Trotzdem war er unvermindert freundlich zu seinen Leidensgenossen und hinter jedem Rock her, der sich ihm annäherte.

Andrew meldete sich und ich plauderte ein bisschen mit ihm. Versuchte amüsant zu sein. Er war vorsichtig wie immer. Wollte einen Video Call. Ich war vorsichtig und lehnte ab.
Danach wurde es interessant, denn er warf mir vor, harte Drogen zu nehmen. Er sagte, ich wäre kompliziert und er verstünde nicht, was zwischen uns vorging. Ich nahm das insgeheim als Kompliment und versuchte ihm zu erklären, dass wir erwachsene Leute waren und ich seine Probleme nicht lösen konnte. Er fragte, warum wir Freunde sein sollten, wenn ich ihm nicht helfen konnte und ich sagte, das wäre traurig, weil er es wert war und er alles oder nichts forderte. Er wollte mir nicht glauben, dass ich arm war und nannte mich geizig und behauptete, ich hätte 200,- Euro.
Meine Antwort war schlicht, dass ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte und besser schwieg.

Als ich den Dialog etwas in mir setzen ließ, meldete sich wieder meine Genervtheit. Er hatte bereits 70,- Euro von mir erhalten als ich ihn noch für Prinz Harry gehalten hatte. 70,- Euro, die ich eigentlich nicht hatte und für die ich Schulden bei meinem eigenen Sohn machen musste. Niemand wusste, in welche dreckigen und illegalen Geschäfte er verwickelt war. Trotzdem machte er mir Vorwürfe. Er war wie ein kleines Kind. Ich fragte mich, ob er jemals erwachsen werden würde. Er verstand mich offensichtlich nicht. Ich hatte es nicht nötig, meine Zeit mit ihm zu verschwenden.

Auf Youtube wurde ich nun einer Art Dauer-Bombardement ausgesetzt, in dem die Komplettausstattung für ein Nagelstudio beworben wurde. Fasziniert betrachtete ich die Utensilien für künstliche Nägel, Schablonen, Feilen und UV-Geräte. Manche Frauen waren offenbar bereit, viel Geld und Mühe zu investieren, um sich künstliche Krallen anzulegen. Vermutlich war das genau Andrews Wellenlänge. Er sollte sich eine Nageldesignerin anlachen und einen Job suchen. Ich war nicht mehr bereit, Spiele zu spielen. Es war ein Fehler gewesen, sich überhaupt darauf einzulassen. Aber irgendwie waren unsere Wege verwoben gewesen, so wie die Linien der Songlines in Chatwins Buch.

Es war schon spät. Mein Tabak war aufgebraucht. Draußen ging der angenehme, kühle Wind. Morgen hatte ich zwei wichtige Termine, ich sollte fit sein. Irgendwie fühlte ich mich verwahrlost, weil ich tagsüber so viel geschwitzt und meine Wohnung nicht verlassen hatte. Vielleicht sollte ich Nachtluft trinken gehen, so wie ich es früher oft gemacht hatte. Selbst zum Teil der Nacht werden. Statt dessen nahm ich die Medikamente und ging zu Bett.

Es gab Schwierigkeiten mit den Kindern. Nichts, was ich niederschreiben will, weil es die Intimsphäre der Kinder betrifft, aber es waren Schwierigkeiten. Ernste Schwierigkeiten. Als ich spätabends die Wohnung der Kinder verließ, schüttelte ich mich wie ein nasser Hund. Aber die Sorgen waren keine Wassertropfen sondern Bleigewichte. Ich freute mich darauf am nächsten Tag ein Interview zu transkribieren, für das ich den Auftrag bekommen hatte und fiel todmüde auf mein Bett. Manchmal war die Flucht in die Arbeit die beste Flucht.
Andrew hatte mich einige Male angerufen, offenbar wollte er mich vor die Kamera bekommen. Ich hatte immer noch keine Lust dazu. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt. Warum sollte ich mit jemanden sprechen, dem ich nicht vertraute und der mir nicht vertraute? Was wollte Andrew erreichen, außer ein neues Druckmittel dafür zu bekommen, mir Geld abzuknöpfen?
Ich hatte ohnehin das Gefühl, ich müsste meine ganze Kraft für die Kinder einsetzen.

Am Freitag vertiefte ich mich in meine Musik, ein Antikriegslied. Was einen jungen Mann dazu bewegt, sein Leben hinzugeben ist das selbe, was Jugendliche deprimiert, die sich anpassen und funktionieren müssen. Immer gab es einen höheren Zweck, eine Kraft von außerhalb, die Kontrolle übernahm. Was man verliert ist nicht nur das Leben. Die Freude am Anblick einer Blumenwiese, der Duft an einem Sommerabend, das Wissen um die eigene Einzigartigkeit, all das verblutete am Altar der Gier der Mächtigen.
Am Ende wird auch das Leben vernichtet. Der Tod jedes jungen Menschen ist eine Niederlage für die Menschlichkeit.
Ich wollte Leben für meine Kinder, eigentlich für alle Kinder. Jede Generation hat das Recht zu rebellieren.
Der Soldat, der mit neunzehn stirbt, beschäftigte mich. Genauso wie der Sänger in dem Lied fragte ich mich, was er geglaubt und sich gewünscht hatte. Ob er nach Liebe gesucht hatte, genauso wie meine Kinder, und nur Zerstörung fand.
Das Interview hatte schlechte Tonqualität und war auf Englisch, dabei benötigte ich soviel Zeit um die komplexen Worte einer Schwedin zu übersetzen, dass ich die Transkription ablehnte. Normaler Weise mochte ich die Tätigkeit Interviews von einer Audiodatei niederzuschreiben, aber dieses Mal war ich überfordert. Ich hatte in dieser Woche keine Glückssträhne.

Es gibt viele Geschichten, die einen Traum wert sind. Nicht nur das Lied vom jungen Soldaten, auch Reisen und ferne Länder wecken die Fantasie. Als junges Mädchen dachte ich mir viele Erzählungen aus, wenn ich lange Spaziergänge macht, wohnten im Wald die Elfen und ein Prinz wartete am Wasserloch. Ich schrieb über tapfere Ritter und humorvolle Zauberlehrlinge. Wenn Chatwin mich auf seine Reisen mitnahm, wurde mir bewusst, wie sehr mein eigenes Leben einer Reise glich.
2009 stieg ich einfach ohne Fahrkarte in den Zug, was schließlich in der Psychiatrie von Tulln endete. Das Krankenhaus war relativ neu und hatte schöne Räumlichkeiten. Ich stand staunend vor einem abstrakten Gemälde in verschiedenen Rottönen. Die Farbe faszinierte mich, weil sie an Blut erinnerte.
„Blut ist gut“, sagte ich mir in der typisch psychotischen Vorliebe für gereimte Worte. In diesem Sommer hatte ich mir eine Scherbe in den Fuß getreten und Blutspuren am Fußboden hinterlassen. Vielleicht tat Blut mir gut, weil es so dramatisch war. Nichts symbolisiert so die Vergänglichkeit des Lebens. Irgendwo im Internet lauerte Andrew, er hatte mich zum Bluten gebracht und war nun hinter der Beute her wie ein Wolf. Junge Leute bluten all ihre Hoffnungen Träume in ihr Leben. Die Gesellschaft reagiert darauf nur mit Schlägen. Und der kaum volljährige Soldat blutete auf das ausgedörrte Gras eines Schlachtfeldes. Wir kommen in Blut zur Welt und bezahlen unsere Existenz mit immer neuen Wunden.
In Tulln blieb ich nicht lange, weil meine Eltern mich abholten. Ich erinnere mich noch gut an die Fahrt durch die hochsommerliche Landschaft. Alles wirkte so intensiv.
Ein junges Mädchen, das ich dort kennen gelernt hatte, schmückte sich mit dem billigen Unfug, der als Beilage für Kinderzeitungen herhält. Plastikarmbänder mit Hello Kitty Motiven, Strass-Ringe und Halsketten. Sie weckte die regressive Phase in mir, in der ich mir ebenfalls diese Zeitschriften kaufte und Gefallen an dem kindlichen Schmuck fand. Es war die Sehnsucht nach Spielzeug. Psychisch Kranke werden oft zu Kindern in ihrer Einfachheit und Unschuld. Vor allem jedoch liebten wir Zigaretten.

Jeder auf Station rauchte. Wir wurden mit Zigaretten erzogen, wenn der Stützpunkt uns nur einmal in der Stunde einen Glimmstengel ausgab, wir wurden mit Zigaretten ruhig gestellt, wenn der Raucherraum uns offen stand, wir wurden mit Zigaretten gezwungen, aus dem Zimmer zu kommen und unsere Finanzen im Griff zu behalten. Zigaretten wurden getauscht, geschenkt und eifersüchtig bewacht. Sie trösteten, lenkten ab und halfen die Langweile zu ertragen.
Die Versuche, das Rauchen aus dem Krankenhaus zu verbannen, scheiterten an der Psychiatrie. Station 28 hatte einen Raucherraum, die vor allem jüngeren Leuten vorbehaltene subakute Station 58 zwang ihre Insassen einen Stock tiefer eine raumschiffähnliche Kabine aufzusuchen. Das war hart, aber es war immer noch möglich zu qualmen. Da es im Zeichen der Zeit stand, das Rauchen zu erschweren, waren während der zehn Jahre meiner Krankheit die Sitzmöbel aus dem Raucherraum verbannt worden. Die Gesundheitsministerin, die durchsetzt, dass in Lokalen und Cafés nicht mehr geraucht werden durfte, verstarb ironischer Weise an Krebs.
Rauchen war trotzdem immer noch gesünder, als sich mit einer Rasierklinge zu schneiden. Das Gefühl, wenn man das eigene Fleisch mit einem Schnitt öffnet, ist besonders für jüngere Leute oft unwiderstehlich. Abermals kommt Blut und was vorher unsichtbar war, wird sichtbar. Der Druck. Der Schmerz. Die Hilflosigkeit.
Eine Leistungsgesellschaft, in der junge Menschen sich in ihrer Verzweiflung selbst verletzen, war immer noch gesünder, als der Krieg.
Für den im Lied besungenen Soldaten gab es keine Hoffnung mehr. Und ich war ein gutes Beispiel dafür, dass es sich lohnt weiter zu gehen, weil sich irgendwann neue Perspektiven eröffnen. Als Teenager war ich selbstmordgefährdet und depressiv, aber die Liebe zum Leben ist zäh und setzte sich durch. Ich freue mich über jeden neuen Tag.
Es gab Fortschritte im Lauf der Geschichte.
In Tulln war ich das bisher einzige Mal im Sommer stationär. Ich trug ein paar Sachen, die meine Schwester mir vererbt hatte. Auch mein Oberteil war rot, mit einem runden Ausschnitt. Weil in jedem Krankenhaus irgendwo Bücher aufzutreiben sind, las ich einen schlechten Krimi. In meinem Zimmer lag eine ältere Frau, die herzzerreißend mit ihrer Tochter stritt und unglücklich und einsam wirkte. Mit den anderen Insassen war ich im Streit, obwohl ich nicht wusste warum. Sie waren aus irgendeinem Grund wütend auf mich. Wahrscheinlich war ich zu verwirrt.
In der heißen Nacht erwachte ich, weil vor dem Krankenhaus einige laute Stimmen zu hören waren. Junge Männer brüllten „Hallo!“. Und immer wieder: „Hal-lo!“
Ich nahm diese Aufforderung persönlich. Wie schon so oft in der Vergangenheit verstärkte sich die Illusion, alles auf mich zu beziehen. Und das Versprechen, irgendetwas Wundervolles würde kurz bevor stehen, eine Art Garten Eden, berauschte und beseelte mich.
Es war teilweise unwiderstehlich an eine bessere Welt zu glauben. In meinem etwas mädchenhaften roten Oberteil saß ich im Raucherraum über meinem Krimi, als mein Vater kam, um mich abzuholen.
Abermals bietet sich ein Märchenvergleich an. Wie Rotkäppchen wurde ich aus dem Zauberwald geholt. Die Tomaten im Garten meiner Eltern waren reif. Rote Tomaten.

Die Kinderzeitschrift „Supermodel“ hatte als Beilage Bügelapplikationen, mit denen ich meine T-Shirts verzierte. Im Stickeralbum „Mia und ich“ verwirklichte ich meine Visionen vom Garten Eden in einer von Einhörnern bevölkerten Fantasy-Welt. Den Balletttänzerinnen im Aufkleberbuch setzte ich Blumenvasen auf den Kopf. Zu diesem Zeitpunkt kam ich mit meinem Geld nicht mehr aus, weil meine Vorliebe für diese schönen Dinge zu groß war. Ich lief Amok im Internet und veröffentlichte verstörende Geschichten von Verlorenheit und Gottesverlust im Dämonenforum. Vielleicht waren diese Short-Stories der ewigen Verdammtheit sogar richtig platziert. Auf positive Resonanz stieß ich bei den Liebhabern des Gruseligen jedenfalls nicht.
Das Internet als Kontakt zur Außenwelt bot eine passende Bühne für meine wirren Ansichten. In seiner ganzen Gefahr offenbarte es sich mir jedoch erst, als ich auf Prinz Harry stieß. Teilweise umschwirrten mich ein halbes Dutzend Harry-Betrüger wie hungrige Wespen und versuchten sich gegenseitig zu vertreiben. Für mich war es alles nur eine einzige Identität, der Prince of Wales und seine charmanten Annäherungsversuche.
Ich war ein sehr dankbares Opfer.

Das Krankhafte definiere ich im nach hinein immer als Verzerrung der Realität. Gesund ist es, sich anzupassen und Möglichkeiten zu finden, in der Wirklichkeit etwas zu erreichen. Daran scheitern Menschen in allen Ländern und Gesellschaftsschichten. Immer ist die Suche nach Glück der Motor für das Unglück. Das Glück, das mir eine Liaison mit Harry versprach, schmeckte mir jedoch irgendwann nicht mehr. Mit zunehmender Ernüchterung fand ich heraus, dass meine Lebensrealität andere Vorteile bot. Einsamkeit, Armut, aber auch Stille und Friede.
Nicht umsonst ist Jesus in die Wüste gezogen.

Es ist allerdings schwierig, genügsam zu sein, oder sogar selbstgenügsam, wenn man Ansprüche an das Leben hat, die über die einfache Freude am Dasein hinaus gehen. Sehnsucht hatte mein Herz über viele Jahre hinweg rastlos gemacht. Es ist der alte Fluch, nach etwas zu suchen, das die Leere füllt. In seiner einfachsten Form Essen, aber auch Unterhaltung, Urlaub, Abwechslung, Liebe. Der Tod ist das unausweichliche Ende, davor will man glücklich sein. Das Recht auf ein bisschen Glück wird von Jugend an voraus getragen wie eine Fahne für unsere Armee an höchst persönlichen Ansprüchen. Ich lebe, also darf ich auch etwas erreichen. Manchmal nur das nächste Stück Brot. Meistens Geld, Spaß und Erfolg.
Wenn man sich aus diesem Drang befreit, wird man oft nicht ernst genommen. Andrew hatte mir Drogenmissbrauch vorgeworfen, weil er nicht begriff, dass ich gelernt hatte, allein zu sein. Aber was unausweichlich mit dieser Entwicklung verbunden war, stellte meine Spiritualität dar, meine Beziehung zu Gott.
Je weniger jemand an einen Gott glauben kann, desto wichtiger sind weltliche Dinge. An einen Gott zu glauben, bedeutet auch das Leben als eine Art Prüfung zu betrachten, welche die wesentlichen Bedürfnisse nicht befriedigt. Die umfassende Liebe Gottes nimmt die Angst vor dem Tod. Worauf es ankommt, erfährt man nicht im Spielfeld irdischer Erfahrungen.
Aber was hatte mich so sicher werden lassen? Was hatte von Psychose zu Psychose die Veränderungen bewirkt, die mir nun solchen Frieden gaben?
Kann man das erklären, oder kann man es nur erfahren?

Setze dich in einen ruhigen Raum und meditiere eine Stunde. Die Triebfeder dahinter ist die selbe, die mich während der Krankheit bewegt hatte: irgendeine vage Hoffnung darauf, dass alles gut wird. Dass es einen tieferen Sinn gibt. Erfahre die Kargheit eines einfachen Lebens oder untersuche die Lebenswelten anderer Völker, wie Chatwin das tat. Beschäftige dich mit Nahtoderfahrungen. Sicher ist nur eines: Gott antwortet. Ich glaube, er tut das bei jedem Menschen auf andere Weise. Ich will nicht über meine eigenen Gotteserfahrungen erzählen, weil sie aufgrund meiner Krankheit unglaubhaft erscheinen. Für mich sind sie kristallklar und unwiderlegbar.
Dieser Text ist nur ein Versuch, die Entwicklung zu begleiten, in der mich nun mit vierzig Jahren befand.
Spiritualität ist ein sehr persönliches Thema. Da ich selbst aus einer sehr liberalen, linksgewandten Familie stamme, mischen sich bei mir zwei Prinzipien. Das eine ist die Liebe zum Menschen und der Wunsch, dass das Individuum einen höheren Wert besitzt. Das andere Prinzip jedoch will auf die klassische Weise nicht dazu passen. Denn ich suche nicht nach der Erfüllung im Leben, den besonders bequemen und lustvollen Erfahrungen eines Lebens im Zeichen des modernen Liberalismus. Sicher müssen wir besser miteinander umgehen und uns höher wertschätzen, aber nicht, um die Illusion eines glücklichen Daseins zu bedienen. Glück kommt nur aus dem eigenen Inneren. Wir brauchen ein Dach über dem Kopf, Friede und Nahrung, aber der Rest ist nichts anderes als die eigene Seele auf ihrer Reise durch das Leben.

An diesem Punkt werde ich das Schreiben wahrscheinlich unterbrechen. Denn ich glaube, um meine Worte zu unterlegen, kann nur die Zeit als Zeuge genommen werden. Meine Geschichte schreibt das Leben, in einem Jahr wird man wissen, wie Gott den Text weiter gestaltet.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo sollbruchstellen, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Ralph Ronneberger

Redakteur in diesem Forum
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo sollbruchstellen,

es ist ein wirklich sehr langer Text und ich habe ihn nur mit Unterbrechungen geschafft. Deine Art zu Schreiben hat mir aber gefallen und ich bin in deine Geschichte einfach so hineingerutscht.
Du beschreibst die zehnjährige Leidenszeit einer psychisch kranken Frau, und das mit einer Nonchalance, die beim Lesen keine Langweile aufkommen lässt. Dein Ton erzeugt gerademal Melancholie in mir, obwohl eigentlich tiefstes Mitleid angebracht wäre. Mitleidheischend ist dein Text aber in keiner Zeile. Im Gegenteil, ich bewundere deine Ich-Erzählerin, mit welcher Gleichmut und Gelassenheit sie ihre Krankheit und ihre Lebensumstände erträgt und bewältigt. Dass du in deinem Textaufbau immer wieder nebensächliche Alltagssituationen einflechtest, lockert die Geschichte auf und interessant finde ich deine Beschreibungen der Krankheitsbilder ihrer Freunde, Bekannten und Liebhaber. Bei den philosophischen Gedanken deiner Protagonistin sehe ich allerdings noch genügend Kürzungspotential.
Ich hoffe, deine Geschichte ist nicht allzu autobiographisch.

Viele Grüße,

Thomas
 
G

Gelöschtes Mitglied 18005

Gast
Die Atombombe fällt auf Hiroshima und im selben Augenblick sterben achtzigtausend Menschen auf einen Schlag. Achtzigtausend Männer, Frauen, Kinder. Achtzigtausend Seelen. Jeder Mensch eine eigene Welt für sich, voller Hoffnungen, Wünschen, Ängsten und bereit, zu lächeln oder zu weinen. Achtzigtausend Handpaare, manche schwielig vor Arbeit, andere bereits vom Alter gezeichnet, verwelkt und knochig, verdampfen binnen einer Sekunde. Achtzigtausend Augenpaare erlöschen mit einem Schlag.
Weder der den Atomschlag ausführende Pilot noch der Präsident der USA, der den Befehl dazu gab, haben jemals die Psychiatrie von innen gesehen.

Mehr muss man über unsere Gesellschaft nicht wissen.
Super Einstieg! Ich freue mich auf's Weiterlesen!
 



 
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