Schaustellergespenster

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Anila

Mitglied
Sie trägt keinen Namen für die Menschen, die ihre kleine Bühne tagtäglich passieren, trägt stattdessen eine Bezeichnung, eine eingravierte Inschrift, die überall auf ihrem Körper in universeller Schrift zu lesen ist, während sie dort sitzt und sich ihrem Publikum präsentiert, ohne dass der Vorbeieilende nach ihrer Präsenz, ihrer Existenz fragen würde, ohne, dass sie jemand ansieht, in der Erwartung, sie würde die Show in irgendeiner Weise mitgestalten. Durch unzugängliche, im Grabe liegende Löcher, im Schatten eingefallener Brauen, scheint sie auf ihre eigene Vorstellungsplattform zu schielen, sitzend am Rande eines Ortes, der zum Durchreisen gedacht, nicht zum Leben gemacht ist.
An ihr vorbei stiefeln hochgehackte, rotbemalte Botoxlippen, schnurstracks und erhobenen Hauptes, zu einem neuen Kostümsaal, um sich dort wieder kleiden zu lassen, wie Mitte zwanzig, wie man sich eben fühlt, wie man sich fühlen darf, damit der Applaus nicht vergeht, die Blicke weiter begehren und das Alleinsein nur die gerade gewählte Option bleibt, die sich mit jedem neuen Schritt revidieren lässt. Ehrfürchtige Blicke wirft ihr zu, der kleine huschende Gebeugte, der die Attraktion still umschwirrt, ohne sie zu lange zu betrachten, ohne das veredelte Antlitz der Glorifizierten, einen Moment länger zu ertragen, als es einem gesitteten Verehrer die Regeln der Vorstellung gestatten. Für ihn ist sie unerreichbar, sie ist nur aus der Entfernung zu genießen, er hätte auch nicht den Mut, sie anzusprechen, er ist unsichtbar für diese Frauen, diese freien Frauen, die wählen können, und sich nicht für einen entscheiden, der sich selbst verlor, sich nicht wieder findet, in den labyrinthischen Wegen sich kreuzender Geschichten, in dunkelroten Lippen und den schweren Worten leerer Versprechungen.

Unzählige Paare zusammengehöriger Schuhe schlagen den Weg ein, über Kopfsteinpflaster einer anderen Zeit, um in dieser Zeit nach einer Reise mit verschiedenen Stationen, anzukommen, an dem Ort, an welchem sich alle Wege kreuzen, die Wege der Eilenden und der lange schon Verweilenden, die allesamt dort, gemeinsam mit den auf den Gleisen tanzenden Tauben, erwartend einem Moment des Aufbruchs entgegen schauen.
Es ist ein Eintritt in ein unbekanntes Stück, mit fremden Gestalten, einem neuen Ziel, welches den Dableibenden verschlossen bleibt und lebendig wird, in dem Moment, in welchem sich Türen öffnen und wieder schließen, um die Karten neu zu mischen. Bisherige Akteure sind dann wie weggezaubert und werden irgendwo, an irgendeinem Ort, vielleicht in ganz anderer Rolle wieder einen Part übernehmen und dann verschwinden. Man entdeckt sie zwischen den Zeilen erzählter Geschichten, die Schaustellergespenster. Es gibt sie an jedem Ort, an dem Redende aufeinander treffen und von den Shows dieser Welt berichten. Sie sind namenlos und kollektiv und überall, auf den großen Bühnen weltlichen Lebens. Und es heißt, dass wenn sie gehen, wenn der Zauber gelüftet, die Magie verpufft ist, dann bleiben nur die Tauben zurück. Aber die erwähnt meist niemand.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo Anila , herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Franka

Redakteur in diesem Forum
 



 
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