Schmelztiegel Bombay

titusklein

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Bombay, ein Schmelztiegel
Leise surrte die Il 62 der tschechoslowakischen Luftfahrtgesellschaft CSA durch die Nacht. Athen lag seit einer Stunde hinter uns. Noch eine Zwischenlandung in Al Kuweit, dann würde Bombay erreicht sein. In sieben Stunden würde ich indischen Boden wieder betreten. Anfang des Jahres 1979 war ich zuletzt da. Es war dies meine dritte Reise innerhalb von zwölf Monaten in dieses für uns Europäer immer noch im geheimnisvollen Licht der Ferne liegende Land, und eine prickelnde Erregung war auch diesmal nicht zu verhehlen.
Ich konnte im Flugzeug wieder nicht schlafen, obwohl Mitternacht schon vorüber war. Meine Gedanken gingen ein Jahr zurück. Damals war mir nicht viel anders zumute, nur war alles noch völlig unbekannt, und der Weg der Anreise war ein anderer. Wir kamen von Moskau nach Delhi, und beim Sonnenaufgang erblickten wir die schneebedeckten Gipfel des Himalayas. Ein märchenhaftes Bild. So empfand ich es damals.
Wir. Das waren vor einem Jahr und heute die gleichen. Mein Freund und Kollege Lutz, der auch heute, wie immer, wenn wir gemeinsam flogen, schlief, sich aber hin und wieder bewegte, wenn irgendetwas seinen Schlaf störte. Er würde erst erwachen, wenn die Maschine auf der Piste von Bombay aufsetzen würde.
Die Stunden vergingen, und die Sonne war über dem Horizont aufgegangen. Unter uns dehnte sich die Weite des Arabischen Meeres. Es war sieben Uhr, und in der Ferne wurde die Malabarküste sichtbar. Indien war erreicht.
Die Maschine zog eine große Schleife über das Küstengebirge, um von Land herkommend zur Landung anzusetzen. Langsam verlor sie an Höhe. Die Erde war zum Greifen nahe. Unter uns zogen sich langausgedehnte Wohngebiete hin, die Slums von Bombay, die immer näher an den Flughafen Santa Cruz heranwuchsen. Nicht zum ersten Mal verspürte ich den feuchtwarmen Lappen, den mir jemand um die Ohren schlug, als wir die Maschine verließen. Solche Wirkung hatte das Klima in Bombay auf mich. Achtunddreißig Grad Celsius bei extrem hoher Luftfeuchtigkeit hinterließen bei Lutz keine Spuren. Gesprochen hatte er außer dem Morgengruß noch kein Wort.
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Munshi stand am Flughafen. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, der gute alte Freund.
„Ich begrüße Dich herzlich auf indischem Boden und freue mich, Dich wieder einmal zu sehen!“ So war seine kurze Begrüßungsformel, how are you, und der feste Händedruck zu verstehen. Lutz kümmerte sich noch um die Koffer.
Die Straße vom Flughafen zur Stadt führt am pompösen Zentaur-Hotel, unmittelbar am Airport gelegen, vorbei und wird dann auf einer langen Strecke von den ausgedehnten Slums gesäumt. Großer Reichtum und bitterste Armut auf engstem Raum.
Bald erreichten wir die Küste des Arabischen Meeres. Während Lutz sich angeregt mit Mr. Munshi unterhielt, nutzte ich die Zeit, mich bei weit offenem Fenster vom Tropenschock zu erholen.
Hochhäuser wechselten sich mit kleinen Hütten ab. Die Fahrt wurde immer langsamer, der Verkehr immer dichter. Verkehrsstockungen führten zu ständigen Halts. Das Gehupe der Fahrzeuge wurde aufdringlicher und ausdauernder. Bombay zeigte sein buntes Bild, je mehr wir uns der Stadt näherten.
Hin und wieder wurde der Blick auf das Meer durch Häuser versperrt, dann wieder wurden Buchten sichtbar. An einer dieser Buchten richtete ich mich interessiert auf. Die Haji Ali Mosque kam in Sichtweite. Diese Moschee liegt mitten im Wasser. Ein Damm führt hin, der aber nur während der Ebbe begehbar ist. Bei Flut verschwindet er unter der Wasseroberfläche,
Das Ganze bot schon ein eigenartiges, etwas anachronistisches Bild. Am rechten Ufer der Bucht stehen zwanzigstöckige Hochhäuser, linkerhand am flachen Strand liegen einfache Fischerboote, dazwischen präsentiert sich die Moschee.
Vorbei führte die Fahrt auch an dem vom VEB Carl Zeiß Jena erbauten Planetarium, das für die vielfältige, wirtschaftliche Zusammenarbeit unserer beiden Länder zeugt.
Eine Stunde war in der Zwischenzeit vergangen, als wir vor dem West End Hotel in der Marine Lines Street hielten. Dreißig bis vierzig Kilometer waren es vom Airport bis in die City. Munshi verabschiedete sich, um in sein Büro zu gehen, das schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite lag. Ihn würden wir erst in ein paar Tagen treffen. Er war der Repräsentant unserer indischen Vertretung war.
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Wir waren jetzt zu dritt. Klaus Lanken war aus Delhi eingetroffen. Er war seit drei Jahren in Indien. Ein Indienkenner? Zumindest wusste er besser Bescheid als wir.
Stadtbummel war angesagt. Zu Fuß das alte Bombay erobern! Verwirrend , immer wieder! Wir hatten unseren Weg über die Mahatma-Gandhi-Road genommen und waren vom Mahatma-Phule-Market in das Gewirr der kleinen und engen Gassen untergetaucht. Beiderseits reihten sich die verschiedenartigsten Shops aneinander. Zusätzlich hatten die Händler einfache Brettertische an den Bordsteinkanten auf dem Fahrdamm aufgebaut, und sie boten insbesondere Textilien feil, Hemden, Sarees, Teashirts, Dhoties, und bunte Tücher. Das Angebot unterschied sich durch nichts von den Waren der Shops. Ob die Tische dazugehörten, war nicht zu erkennen.
Zwischen den Tischen am Straßenrand standen zweirädrige Transportkarren und nahmen das letzte bisschen Platz weg. Dazwischen wälzte sich eine unübersehbare Menschenmenge in beide Richtungen, so dass kaum noch ein Durchkommen war. Etwas Loses dürfte man nicht am Körper haben, die Menge würde es mitreißen. Den Gipfel auf dieses Chaos setzten die Taxis, denen es auch noch gelang, sich ihren Weg durch das Gewimmel zu bahnen. Den Finger nahmen die Fahrer offenbar überhaupt nicht mehr von der Hupe. Mehrstimmig erklang ihr Geheul. Die Autos standen mehr als sie fuhren.
Wir versuchten uns vorwärts zu bewegen, ohne den Kontakt zueinander zu verlieren. So erreichten wir den Mumbadevi Tempel. In dieser Gegend sortieren sich die Geschäfte nach Warensortimenten. Es gibt einen Silbermarkt, einen Goldmarkt und einen Gewürzmarkt, der schon von weitem zu riechen war. Das Treiben blieb das gleiche.
Woher die Menschen nur alle kamen? Wo mochten sie wohnen? Kaum ein Ausländer war zu sehen. Wir waren mitten in Indien.
Mich reizte die große Markthalle, die sich Mahatma-Phule-Market nennt. Ich hatte mir vorgenommen, auf dem Rückweg einmal hineinzusehen. Mit viel Mühe und einzeln gelang es uns, die Lokmanya-Tilak-Marg mit ihrem flutenden Autoverkehr zu überqueren. Auf der anderen Seite befand sich die große Halle des Marktes. Irgendwie kam sie mir von innen bekannt vor. Sie hatte in ihrer Gestaltung etwas wie die alte Berliner Markthalle, genau so hässlich und anheimelnd. An den Ständen gab es alles zu kaufen, was lukullischen Ansprüchen genügte. Ein Stand neben dem anderen. Marktschreierische Atmosphäre!
Die Vir-Nariman-Road mündet auf einen Platz, an dem sich sechs Straßen treffen, ein Verkehrsknotenpunkt. Auf dieser Kreuzung stand ein Verkehrspolizist und versuchte den Verkehr zu regeln. Dabei schien es aber nicht sicher, wer wen lenkte. Trotzdem kam es zu keinen wesentlichen Staus, auch wenn die Hupen ständig für die Begleitmusik des indischen Straßenverkehrs sorgten.
Doch viel mehr interessierte mich der Polizist. Ich hatte diese Verkehrshüter schon oft gesehen, aber noch nie bewusst beobachtet. Er trug eine Uniform und ein Käppi von lilarötlichbrauner Farbe. Am Käppi befanden sich zwei gelbe Streifen, an der Uniformjacke drei Armwinkel, die eventuell Dienstgradabzeichen sein konnten, einer weiß, zwei gelb. Die Uniform hatte den Tropenbedingungen entsprechend kurze Hosen. Mit seinem Verkehrsstab wirbelte er scheinbar chaotisch durch die Luft. Aber offensichtlich verstand das jeder.
Durch die Vir-Nariman-Road erreichten wir den Marine Drive. An der Ecke zum Marine Drive hatten sich einige Bettler etabliert, die recht hartnäckig und fordernd von uns Geld verlangten.
Unser Ziel war das Sheraton-Oberoi Hotel, das sich gewaltig neben dem Air India Building an der Südspitze der Halbinsel Bombay erhebt. Eine Schar Kinder kam uns entgegen gerannt. Sie stürzten sich auf uns. Weithin war ihr gelernter Spruch zu hören: „No mother, no father, no air-conditioning, give me please one Rupee!”
Klaus Lanken wiederholte den Satz und erweiterte ihn nur noch um die Worte no television. Die Kinder stutzten, dann lachten sie laut. Sie hatten begriffen, dass sie keine Touristen vor sich hatten, denen sie mit einer fehlenden Klimaanlage Verständnis und Rupees entlocken konnten. Die meisten von ihnen hatten in ihrem Leben noch nicht mal eine solche gesehen. Die Kinder schlossen sich uns an und begleiteten uns lärmend. Ich fühlte plötzlich vorsichtig eine kleine Hand in der meinen. Ein kleiner Junge mit ängstlichen Augen, kleiner als alle anderen, versuchte meine Hand zu ergreifen. Ich fasste kräftig zu und ein Leuchten in seinen Augen verdrängte die Ängstlichkeit. Ein schmerzliches Gefühl blieb zurück, als die Kinder sich entfernten. Gerade Kinder, die Hoffnung der Menschen. Oftmals wird diese Bettelei durch Scharen von Kindern professionell betrieben, hinter irgendeiner Ecke aber wartet ein Oberbettler, der alles einsammelt. Den Kindern bleibt ein Bruchteil.
Danach der Gegensatz. Dicke Teppiche und kunstvoll geschnitzte Möbel garnierten die Empfangshalle des Sheraton-Oberoi. Die Preistafel auf dem Tresen wies das Hotel als eine ausgesprochene Nobelherberge aus. Das Wiener Cafe´ im Keller war ein Kleinod. Die Treppe hinunter war von Wasserspielen umrahmt. An den marmorverkleideten Wänden floss Wasser herab und sammelte sich in einem großen Becken. Über dieses Becken führte eine marmorne Brücke. Im Wiener Cafehausatmosphäre tranken wir unseren Kaffee und aßen eins der herrlichen indischen Gebäckstücke.
Die Etage mit dem Swimmingpool und dem herrlichen Blick über den Marine Drive und die Bucht von Bombay durften wir schon nicht mehr betreten. Wir konnten uns nicht als Hotelgäste ausweisen.
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Die langgestreckte Verkehrsader zieht sich vom Südzipfel Bombays bis zum Malabar Hill hin. Sie wird im Osten von modernen Gebäuden und im Westen von der See begrenzt. In der Nacht, wenn sie beleuchtet ist, hat sie Ähnlichkeit mit der Perlenkette einer Königin.
Dieser Text entstammt einem Fremdenführer von Bombay und charakterisiert bei aller Poesie recht treffend den Marine Drive. Wir befuhren ihn mit einem Taxi, um einen Besuch bei Dharma zu machen. Er wohnte auf dem Malabar Hill, einem vornehmen Wohnviertel der Hafenstadt. Während wir die Steigung zum Malabar Hill hinauffuhren, blieb die imposante Lichterkette des Marine Drive, der Perlenkette der Queen, hinter uns zurück. Vorbei führte der Weg an den Hanging Gardens, einem terrassenförmigen Park, der im Jahre 1880 angelegt und 1921 neu gestaltet wurde. Seine Besonderheit besteht darin, dass die hier wachsenden Hecken so geschnitten sind, dass sie tierische und menschliche Gestalten darstellen.
Dharma hatten wir vor einem Jahr kennengelernt. Er war ein aufregender, vitaler Mensch, der rastlos immer in Bewegung war, keine Gesprächspause aufkommen ließ und immer ein wenig Hektik verbreitete. Eigentlich hieß er V. Dharmarajan, so stand es auf seiner Visitenkarte. Was das V. bedeutete, hatte ich nie herausbekommen. Eine diesbezügliche Frage hatte er damit beantwortet, ich sollte das Mister einfach weglassen und Dharma zu ihm sagen. Das alles in den ersten Stunden unserer Bekanntschaft. Dieser erste Kontakt in seinem Office endete mit einer Einladung am selben Abend in sein Haus.
Das Wort Dharma war mir ein Begriff, wenn auch nicht als Name, sondern als Begriff für Sitte oder fromme Moral im Sanskrit, der Hochsprache der klassischen altindischen Literatur.
Auch damals, bei unserem ersten Besuch, waren wir denselben Weg gefahren. Dharma hatte uns sein Fahrzeug geschickt, um uns aus dem Hotel abzuholen. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl in die fünfte Etage. Eine Bedienstete des Hauses ließ uns ein. Gemeinsam mit Dharma trat uns seine Frau Daizie entgegen. Wir begrüßten die Dame des Hauses in der landesüblichen Sitte mit Namaste´, was sowohl bei der Begrüßung als auch bei der Verabschiedung verwendet wird. Wir legten dabei beide Handflächen aneinander und verbeugten uns leicht. Daizie zeigte sich über diese Geste sehr erfreut und ein Funke der Sympathie sprang über.
Dieses Namaste´ findet sich in vielen Sprachen wie Hindi oder Urdu wieder.
Das Wohnzimmer, in das wir geführt wurden, trug salonartigen Charakter und war mindestens vierzig Quadratmeter groß. Die gesamte Etage war eine Wohnung. Eine weitaufstehende Tür führte auf einen großen Balkon. Es war entsetzlich heiß. Eine Klimaanlage war nicht vorhanden, nur zwei Fans drehten sich langsam an der Decke.
An diesem Abend lernten wir uns näher kennen. Außer Daizie und Dharma war noch ein Freund des Hauses anwesend. Seinen ganzen Namen weiß ich bis heute nicht, aber sein Vorname war Vishnu, genauso wie der Name des Hindugottes, einem der drei Hauptgötter der Hindumythologie, der der Erhalter der Schöpfung ist, und dessen beliebteste und bekannteste Inkarnationen, Rama und Krishna, besonders verehrt werden.
Rama ist der Held des Epos Ramayana, dessen Frau Sita vom Dämonenkönig Ravana geraubt wurde, und den er mit Tausenden seiner Dämonen durch Unterstützung des Affengottes Hanuman und seines Bruders Lakshmana tötet.
Krishna dagegen ist der Sohn eines Königs. Er wird als der Gott der Liebe verehrt, angebetet von allen sterblichen Frauen und Mädchen und von den Göttinnen. Er tritt auf in Gestalt eines Hirten. Mit seiner Flöte betört er die Hirtinnen. Seine Abenteuer, seine derben Späße und seine Heldentaten sind verewigt im anderen großen Heldenepos, dem Mahabharata. Um ihn, den in Mathura geborenen, ranken sich Fabeln, Sagen, Mythen…
Es ist nicht selten, dass die Menschen in Indien Namen von Göttern tragen.
Mozart erklang. Dharma hatte eine Schallplatte aufgelegt. „Ich habe sie bei meinem letzten Besuch in der DDR gekauft.“ Damit erübrigte sich die Frage, ob er schon einmal bei uns zu Hause war.
Mozart erklang nur als background. Dharma hatte das Gespräch an sich gerissen. Er war nicht mehr zu stoppen.
„Wie gefällt es Dir in Bombay?“
Ich zögerte mit der Antwort.
„Viel habe ich noch nicht gesehen…“
„Das wird sich ändern. Von nun an nehme ich das in die Hand. Da Ihr noch einige Zeit hier seid, werden wir jeden Tag zum Kennenlernen dieser schönen Stadt nutzen.“
Ich dachte daran, dass wir „nebenbei“ auch noch etwas anderes zu tun hatten.
„Bombay als Hauptstadt des Unionsstaates Maharashtra“, fuhr er fort, „ist der wichtigste Seehafen unseres Landes mit vielen Sehenswürdigkeiten. Ich bin selbst erst vor einigen Jahren ohne eine Rupee aus meiner südindischen Heimat nach Bombay gekommen…“
Ganz ohne Rupees waren wir nicht nach Bombay gekommen, aber er hatte uns wohl auch nicht als Vergleich gewählt, denn über Geld hatten wir bis dahin noch nicht gesprochen. Er sprach ohne Pause weiter. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen.
„…nach Bombay gekommen, um, wie ich glaubte, mein Glück hier zu machen. Mir ist es als einem der Wenigen von Hunderttausenden gelungen, nicht in den Elendsvierteln der Stadt zu landen, von denen man nicht genau weiß, wie viele Menschen dort wirklich leben.“
Stolz klang aus seinen Worten.
„Ich machte eine Volontärzeit in der Werbebranche durch und fasste dort allmählich Fuß. In dieser Wohnung hatte ich ein Zimmer beim Managing Director dieser Firma. Er war ein alter, kranker Mann, der Hilfe nötig hatte. Ich gab sie ihm. Als er starb, erbte ich diese Wohnung, die heute gut und gerne an die zwei Millionen Rupees kostet, wenn man sie überhaupt bekommt. Außerdem bekam ich seinen Aktienanteil in Höhe von fünfundzwanzig Prozent. Die anderen drei Hauptaktionäre leben in den USA und kümmern sich nicht um die Firma. Seit dieser Zeit leite ich das Unternehmen. Jahrelang liefen Erbschaftsprozesse, denn die Verwandten kamen nach dem Tode auf den Plan. Vorher haben sie sich nicht um den Alten gekümmert.“
Ich hatte damals den Eindruck, dass die Hilfe von Dharma auch nicht ganz uneigennützig war.
„Ich habe die Prozesse gewonnen“, fuhr er fort, „und vor zwei Jahren habe ich Daizie geheiratet.“
Das kam überraschend. Erst zwei Jahre verheiratet, die beiden? So jung waren sie auch nicht mehr. Einiges über dreißig.
Na, wer weiß!
Der Abend wurde noch sehr lang.
Am anderen Morgen waren wir schon sehr früh unterwegs, zumindest für indische Verhältnisse. Dharma hatte uns in seinen Club eingeladen. Um neun Uhr fuhren sie mit zwei Autos vor unserem Hotel vor. Wir waren für den ganzen Tag seine Gäste. Die Fahrt führte in nördlicher Richtung aus Bombay heraus. Es ist ohnehin der einzige Landweg, um Bombay zu verlassen. Der Flughafen blieb rechterhand liegen. Dann verließen wir die Landstraße. Es ging kreuz und quer durch die Slums. Ich hätte gern einmal angehalten, aber eine unerklärliche Scheu hielt mich davon ab, einen solchen Vorschlag zu unterbreiten.
Nach etwa einstündiger Fahrt erreichten wir unser Ziel. Unmittelbar am Meer gelegen, erhob sich ein zweistöckiges Gebäude, ähnlich einer Zwingburg, dem Besucher den Einlass verwehrend. Doch Dharma war bekannt. Es wurde uns höflich der Eingang freigegeben. Doch wehe dem Fremden, der es allein wagt, diese Spielwiese des Reichtums zu betreten. Ihm treten die Wächter des Mammons entgegen und sperren seinen Weg. Doch wen wundert es?! Ich hatte Dharma einmal nach der finanziellen Seite dieser Freizeitbeschäftigung gefragt. Die Antwort war präzise – fünfzigtausend Rupees Aufnahmegebühr und jährlich fünftausend Beitrag. Doch mit der Aufnahme war noch eine Empfehlung verbunden. Ohne eine solche nutzte auch das beste Geld nichts. Man musste salonfähig sein. Auch die indische Geldaristokratie möchte unter sich bleiben.
Der exklusive Otters-Club nahm uns als Gäste eines Mitglieds auf.
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Machte das Gebäude von außen noch einen etwas ungepflegten Eindruck, so war innen im Gelände alles auf das Beste hergerichtet. In der Mitte der Anlage befand sich der Swimmingpool in Form eines großen L. Die Sprungturmanlage aus Naturstein prägte den Eindruck des Besonderen. Rasen umgab den Pool, verstreut standen Stühle und Tische. An der Seeseite, unter kleinen Palmen, ließen wir uns an einem großen Tisch nieder. Zu unserem Schutz wurden sofort zwei Sonnenschirme aufgestellt, denn obwohl es Anfang November war, brannte die Sonne erbarmungslos vom Himmel. Getränke, Bier und alkoholfreie, waren schon auf dem Tisch. Ein erster Imbiss, Kuchen und anderes Gebäck, folgten sofort. Schnell waren lebhafte Gespräche im Gange, kreuz und quer über den Tisch. Daizie hatte ein unbekanntes Geschicklichkeitsspiel aus Australien mitgebracht. Jeder probierte seine Findigkeit mit mehr oder weniger großem Erfolg aus.
Nach dem Lunch ging jeder mehr oder minder seinen eigenen Ambitionen nach. Lutz probierte den Sprungturm aus und schwamm als einziger Badegast im Pool herum. Klaus war mit Dharma und Vishnu ins Haus gegangen. Sie wollten Squash miteinander spielen. Daizie und ich saßen schweigsam am Tisch und nuckelten an unserem Lemonwater.
„Was ist mit Dir? Hast Du Sorgen?“ Ich war es, der als Erster das Schweigen brach.
Sie lächelte gedankenverloren.
„Nein, ich habe keine eigentlichen Sorgen. Mir geht es gut. Ich habe nur an meine Mutter gedacht, und dann werde ich immer ein wenig traurig. Ich habe sie sehr lange nicht gesehen und werde sie wohl auch nie wiedersehen.“
Ich sah sie erstaunt an.
„Deine Familie lebt doch in Bombay, oder habe ich das falsch verstanden?“
„Ja, schon, meine Mutter lebt in Bombay, aber ich kann sie trotzdem nicht sehen. Sie will es nicht.“ Ihre Stimme war kaum noch zu hören.
„Dharma hat gestern erzählt, dass wir vor zwei Jahren geheiratet haben. Vorher war ich schon einmal verheiratet. Wir lebten in den USA und sind dort geschieden worden. Das ist für Hindus etwas undenkbares, wenn sie noch tief im Kastengeist verwurzelt sind. Meine Familie lebt so. Als ich aus den Staaten zurückkam, war ich zunächst bei meiner Familie, ohne ihnen gleich die Wahrheit zu sagen. Allmählich bin ich dann damit herausgerückt in der irrigen Hoffnung, auf Verständnis zu treffen. Sie haben mich ausgestoßen…“
Sie brach ab. Ich saß stumm und ein wenig erschüttert da und wusste nicht, wie ich auf diese Lebensbeichte reagieren sollte, ich, ein Fremder, den sie ja erst seit Stunden kannte. Wieso tat sie das? Doch sie unterbrach meine Gedanken.
„Manchmal kommen dann die Gedanken und ein wenig Trauer, aber ich weiß, dass es keinen Weg zurück gibt.“
„Für mich ist es unverständlich, dass die Frau in Indien noch immer teilweise gedemütigt und unterdrückt wird. Warum kämpft sie nicht dagegen, lehnt sich nicht auf?“
„Das wird noch lange dauern, bis sich das ändert“, entgegnete Daizie, „dazu ist der Status und die der Frau zugeteilte Rolle zu tief in ihr selbst verwurzelt.“
Sie überlegte einen Moment, ob sie fortfahren sollte.
„Du wirst sicher schon gemerkt haben, dass indische Frauen und Mädchen in der Regel Männern gegenüber sehr zurückhaltend sind. Sie sind so erzogen, dass sie auf den Mann zu warten haben, den ihre Eltern für sie aussuchen werden. Sie können und wollen darauf keinen Einfluss nehmen. Eine Inderin heiratet erst und beginnt dann zu lieben. Wenn sie verheiratet ist, stellt sie ihr ganzes Leben auf den Ehemann ein. Alles außerhalb der Ehe existierende ist für sie nicht mehr wichtig. Ihr Lebenskreis wird nur durch ihren Ehemann bestimmt.“
Sie unterbrach ihre Schilderung für einen Augenblick, um einen Schluck zu trinken. Ich blickte sie erwartungsvoll an. Ihre Darstellungen hatten mich gefangen genommen.
„Die Inder leben in großen Familien zusammen, die Eltern mit den verheirateten Söhnen und den unverheirateten Töchtern und Söhnen. Der Vater ist das absolute Oberhaupt der Familie. Die Söhne liefern ihr Arbeitseinkommen ab, und die Schwiegertochter ist ganz auf die Gunst des Patriarchen angewiesen. Ganz hoch steht sie darin, wenn sie ein oder mehrere Söhne geboren hat, da diese später für den Lebensunterhalt sorgen. Sie wird unter diesem Aspekt vergöttert und umsorgt. Angesehen ist sie auch, wenn sie überhaupt Kinder geboren hat, denn wenn es Mädchen sind, können diese später für eine hohe Mitgift verheiratet werden. Aber wehe der Schwiegertochter, die kinderlos bleibt. Sie wird wie eine Aussätzige und schlimmer als eine Dienstmagd behandelt, und sie muss alle niederen Arbeiten ohne Lohn verrichten. Dann kommt es vor, dass ihr Mann eine zweite Frau nimmt, die dann an erster Stelle steht, sofern sie nach angemessener Frist die Erwartungen erfüllt. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass die kinderlose Schwiegertochter zu ihrer Familie zurückgeschickt wird. Doch es geht ihr auch dort nicht besser, weil es als eine Schande betrachtet wird, zurückgegeben zu werden. Sie fristet in der eigenen Familie ein genauso elendes Dasein.“
Daizie hatte ohne Pause mit einer Leidenschaft geredet, die für indische Frauen geradezu erstaunlich war. Sie hatte offenbar ihren eigenen Kummer vergessen, aber war davon ausgehend zur sozialpolitischen Verallgemeinerung des Lebens der indischen Frau gelangt.
„Ganz schlimm ist die Witwe dran. Ihr wird die Schuld am Tode ihres Mannes gegeben. Die Götter haben sie gestraft, dass sie dieses Mannes unwürdig war, besonders wenn sie keine Kinder hat. Das ist auch eine der Ursachen für das Entstehen des Brauches der Witwenverbrennung, die erstmals von den Engländern verboten wurde und unter strengster Strafe für die beteiligten Angehörigen stand. Oftmals sahen die Witwen den einzigen Weg darin, ihrem unerträglichen Schicksal zu entgehen. Heute ist das seltener geworden. “
„Seltener geworden?“ wiederholte ich ihre letzten Worte als Frage, „gibt es das denn immer noch?“
„Es ist nahezu verschwunden, aber noch während der Zeit der Unabhängigkeit Indiens, in der Regierungszeit Jawaharlal Nehrus, kam es besonders in Gujarat zu einer Welle von Selbstverbrennungen. Nehru fuhr damals in dieses Gebiet und appellierte an die Frauen, lieber ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und um ihre Rechte zu kämpfen, statt ihrem Leben selbst ein Ende zu machen. Er wollte sein Volk aus dem tiefen, religiösen Dahinvegetieren herauszuführen und diesen selbstzerstörischen Bräuchen ein Ende bereiten. Aber noch heute sind diese Traditionen besonders auf dem Lande lebendig. Und es wird noch viel Zeit vergehen, bevor dieses Handeln ein Ende findet.“
Trotz allen Engagements war Daizies Worten eine deutliche Resignation zu entnehmen. Ihre Anklage war ein Bekenntnis zur Sache der Frau, eine Anklage ohne greifbaren Angeklagten, eine Darstellung der Situation ohne das Begreifen, wo der Ausweg lag. Sie war zweifelsohne eine Frau, die weit über der Denkweise der durchschnittlichen indischen Frau stand und die herrschenden Zustände kritisierte, die sie als ungerecht und unmoralisch empfand, sie aber nicht selbst bekämpfen wollte oder konnte, sondern sich damit abfand, das der Weg zur Veränderung noch weit war.
Wir schwiegen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Ich musste zugeben, dass mich ihre Aussage doch beeindruckt hatte, vielleicht auch gerade deshalb, weil sie mir, einem Fremden, ihre Qual gezeigt, ihr Innerstes offengelegt hatte.
„Ich habe lange genug einen schönen Tag mit düsteren Gedanken bewölkt. Lass uns von etwas anderem reden.“ Sie stand auf und ging, in der Gewissheit, dass ich ihr folgen würde.
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Wir erreichten Dharmas Wohnung in der Zenia-Abad Little Gibbs Road. Ein Mädchen führte uns in das Wohnzimmer. Es war noch alles wie beim letzten Mal. Daizie erschien. Sie war überrascht und erfreut zugleich, denn wir hatten uns nicht angemeldet. Es sollte eben eine Überraschung sein.
Bei aller Freude zeigte Daizie sich etwas zurückhaltend und unsicher. Lutz fragte endlich nach Dharma. Nun wurde die Zurückhaltung klar. Dharma war nicht anwesend. Er sollte erst mit der letzten Maschine aus Calcutta kommen. Wir hatten uns eine schöne Überraschung geleistet. Auch eine so aufgeschlossene Frau wie Daizie konnte sich den Besuch von drei Männern in Abwesenheit ihres Gatten nicht so ohne weiteres erlauben. Ich erinnerte mich sogleich an unsere Gespräche im Otters-Club. Trotzdem bot sie uns Platz und einen Drink. Doch nun hatten wir allmählich begriffen. Wir lehnten dankend ab und verabschiedeten uns. Daizie hielt uns nicht zurück.
„Dharma wird sich melden, sobald er zurück ist“, waren ihre Abschiedsworte. Er meldete sich telefonisch kurz vor Mitternacht. Am anderen Morgen holte uns sein Wagen ab, um uns in den Otters-Club zu bringen.
Das Auto bewegte sich nur im Schritttempo durch die Slums. Auf ehemals asphaltierten Straßen versuchte der Fahrer nach rechts und links den tiefen Schlaglöchern auszuweichen. Lose liegender Schotter behinderte die Fahrt zusätzlich.
Das also waren die Wohngebiete der Arbeiter, Arbeitslosen und Zugewanderten, die sich in Bombay ein besseres Lebensniveau erhofften. Sie hatten mit ihrer ganzen Habe, ohnehin sehr wenig, und der ganzen Familie ihre Dörfer verlassen, wo sie überhaupt keine Lebensbedingungen mehr hatten. Doch auch hier lebten sie nicht besser. Aber sie gaben die Hoffnung nicht auf. Basti werden die Slums dieser Menschen genannt. Sie bauen ihre Hütten aus allem, was sie irgendwo finden können. Jetzt sah es für hiesige Verhältnisse noch manierlich aus, aber in der Monsunzeit, wenn es tage- und wochenlang regnet, verwandelt sich das ganze Gebiet in eine Wasser- und Morastlandschaft. Es gibt kein trockenes Plätzchen mehr, und trotzdem müssen die Menschen hier ausharren.
In das Schweigen hinein erklang plötzlich mein an den Fahrer gewandter Stopp. Ich wollte mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Slums aus der Nähe kennenzulernen. Als ich ausstieg, war ich augenblicklich von einer Schar Kinder umgeben. Auch die Erwachsenen blickten neugierig. Hierher verirrte sich sicher nur selten ein Tourist, und ein Fremder war in dieser Gegend schon etwas Außergewöhnliches.
Ich drang in das Gewirr der Hütten ein. Sie waren wirklich aus allem Erdenklichen errichtet. Wellblech, Autokarosserien und Führerhäuser von Lastkraftwagen, Holz und Bretter aller Art, Säcke, zerschlissene Zeltbahnen, alles, was irgendwie Schutz bot.
Ich versuchte immer wieder vergeblich, ins Gespräch zu kommen, aber anscheinend sprachen viele kein Englisch, oder die Scheu vor dem Fremden hielt sie zurück. Doch schließlich hatte ich doch noch Glück. Ein Mann mittleren Alters zeigte sich aufgeschlossener und nickte zustimmend, ob er mir ein paar Fragen beantworten würde. Er saß vor seiner Hütte, die die Größe von vielleicht zwei mal vier Metern hatte.
„Seit wann leben Sie hier?“ war meine erste vorsichtige Frage. Ich merkte bei mir selber eine Scheu, diesen Mann so direkt über seine Not auszufragen. Er selbst empfand das offensichtlich nicht so, denn sein Verhalten war offen und freimütig, wie ich im Verlaufe des Gesprächs noch feststellen sollte.
„Seit drei Jahren!“
„Und woher sind Sie gekommen?“ Er nannte den Namen eines Dorfes, den ich nicht verstand und erklärte weiter, dass dieses Dorf etwa 200 Kilometer nördlich von Bombay liegt.
„Sie leben hier mit Ihrer Familie“, drang ich weiter in ihn, „wie viel Personen sind Sie?“
„Sieben Personen, meine Frau, meine Mutter, und vier Kinder.“ Er bemerkte meinen erstaunten Blick und mein Suchen, wo diese Menschen alle wohnen sollten und kam meiner Frage zuvor.
„Sie können sich auch drinnen umsehen.“
Ich machte von dem Angebot Gebrauch. Es sah innen genauso armselig wie draußen aus. Ein paar wenige Gegenstände, spärlich, füllten den einzigen Raum. Kein Tisch, zwei Kisten, die sicher verschiedenen Zwecken dienten, war alles. Kein Bett oder wenigstens eine Art Liegestatt war zu sehen. Wahrscheinlich schliefen auch diese Menschen wie die Obdachlosen einfach auf der blanken Erde. Die Frage danach verkniff ich mir dann doch.
„Haben Sie Arbeit?“ sollte meine letzte Frage sein.
„Nein, ich habe, solange ich in Bombay bin, noch keine Arbeit gehabt. Nur meine zwei Söhne haben hin und wieder Gelegenheitsbeschäftigung der verschiedensten Art. Sie kommen dafür auch tagelang nicht nach Hause, weil der weite Weg in die Stadt ja nicht jeden Tag zu bewältigen ist. Man läuft mehr als einen Tag.
Kommen nicht nach Hause, so dachte ich, hatte der Mann gesagt.
Zuhause.-
Diese armselige Unterkunft war also das Zuhause. Ich hatte plötzlich das Gefühl, helfen zu müssen. Ein Einzelschicksal berührt mehr als das allgemeine Wissen um Not und Elend. Ich hatte mich eingemischt, war tiefer in eine Situation eingedrungen und fühlte mich dadurch irgendwie beteiligt und zugehörig. Dieses Gefühl war sicher anmaßend, ich, der gemessen an dem Lebensniveau dieser Leute in Saus und Braus lebte, wähnte sich zugehörig!
Ich tat das, was man in dieser Situation am allerwenigsten tun sollte, ich bot Geld an. Der Mann lehnte freundlich aber bestimmt mit dem Bemerken, dass er kein Bettler sei, ab. Ich war beschämt, erzählte ihm davon, dass wir in unserer Heimat öfter Geld spenden, um damit irgendwo in der Welt zu helfen. Hier sei die Solidarität einmal nicht anonym. Er begriff. Zum Abschied sagte er mir noch, dass er mich in sein Haus bitten würde, wenn ich wieder einmal in der Gegend sei. Ich sollte dann mehr Zeit mitbringen – zum Essen. Für einen Gast reiche es allemal.
Gastfreundschaft! Selbst da, wo kaum etwas ist.
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In einem Land, in dem das Lebensniveau der Bevölkerung sehr unterschiedlich, von extremer Armut bis zum extravagantesten Reichtum alles vertreten ist, hat auch die Unterhaltung sehr differenzierten Charakter. Indien besitzt ein den Kulturbedürfnissen der Inder entsprechendes Fernsehen. Aber die Massenwirkung wie in Europa und Amerika hat es nicht, da nur relativ wenig Menschen die Möglichkeit zum Fernsehen haben. Wo es oftmals am Nötigsten fehlt, wo der Hunger ständiger Gast ist, und wo noch heute Menschen an Nahrungsmangel sterben, ist Fernsehen für die Masse unerschwinglicher Luxus. Trotzdem ist das Unterhaltungsbedürfnis bei allen vorhanden. Den ersten Platz in der Kategorie der erschwinglichen Unterhaltung ist dabei das Kino. Indische Städteverfügen über eine große Zahl von Filmtheatern, und was für unsere Begriffe beeindruckend ist, sie sind fast immer ausverkauft, obwohl auch der Kinobesuch noch ein teures Vergnügen ist.
Wir hatten viel von der Attraktivität indischer Kinos gehört, und so entschlossen wir uns zu einem Besuch. Mittels einer Tageszeitung wühlten wir uns durch die Angebote an Hindu- und ausländischen Filmen. Doch schon die sprachliche Seite ließ die Entscheidung gegen einen Hindufilm fallen. Die Wahl fiel auf den amerikanischen Science-fiction-Film „Star wars. Ort der Vorführung das New Empire Cinema.
Eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung waren wir dort. Das Kino war in einem großen Gebäude ohne Fenster untergebracht, doch alle Karten waren leider verkauft. Unschlüssig standen wir herum.
„Wir müssen uns umsehen. Oft werden noch Karten unter der Hand gehandelt“, bemerkte Klaus. Lutz, für so etwas prädestiniert, machte sich auf den Weg, und schon nach kurzer Zeit hatte er Karten erstanden, wenn auch ihr Kaufpreis das Dreifache des nominellen Wertes betrug. Der Schwarzhändler hatte bei vier Rupees Einsatz pro Karte acht Rupees verdient.
Wir betraten das Gebäude, auf unserer Eintrittskarte stand fourth floor. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was in einem Kino die vierte Etage bedeuten konnte. Ein breiter Mitteleingang gab einen Blick auf einen Teil der Leinwand frei, doch mehr war zunächst nicht zu sehen. Wir wandten uns an einen der Platzanweiser. Er zeigte uns den Weg zu einem an der Seite befindlichen Treppenhaus. Wir stiegen von Etage zu Etage bis in die vierte. In jedem Stockwerk mündete das Treppenhaus in saalartige Räume, Sitzgruppen waren zu sehen, und an den Frontseiten befanden sich Tresen, an denen Fanta, Seven up und Cola, Imbisswaren und Zigaretten angeboten wurden. Mein Erstaunen wurde immer größer. Das würde manches Großstadttheater zu Hause an Mangel dessen vor Neid erblassen, was hier ein simples Kino bot.
Immer mehr Leute strömten die Treppe hinauf, eine nicht enden wollende Menschenschlange quoll aus dem Treppenhaus. So viel Platz konnte doch gar nicht sein. Noch war mir zu diesem Zeitpunkt unklar, was wir eigentlich im vierten Stock wollten
Als wir den Saal endlich betraten, waren wir beeindruckt. Steil abfallend zogen sich die Sitzreihen über vier Etagen hin. Eine halbrund gespannte Leinwand zog sich über die Vorderfront bis zu den Seiten. Ecken gab es nicht, sie waren weitgehend abgerundet. Mindestens dreitausend Menschen fanden Platz in dieser Arena. Fast alle Plätze waren besetzt. Wir setzten uns. Das Kino war hervorragend klimatisiert, von oben kam kalte Luft nach unten, die sich aber bald als zu kalt erwies, denn wir saßen alle nur mit Campinghemden bekleidet da, ohne dass wir Jacken mithatten. Der Film begann. Es war ein typischer amerikanischer Science fiction mit allen Showeffekten und fernab der Realität, den Harrison Ford und Alec Guinness weltberühmt machten. Den Zuschauern gefiel es. Sie gingen mit, als wären sie auf dem Kricketplatz. Vergleichbar war das nur mit dem Gebaren von Fußballfans auf heutigen Fußballplätzen. Bei brenzlichen Situationen für die Filmhelden ging ein Stöhnen durch die Massen und ein befreites Aufatmen, wenn sie der Gefahr entrannen. Wenn es spannend wurde, riss es die Zuschauer förmlich von den Sitzen. Unterstützt wurde das noch durch die Technik. Weil der Ton von allen Seiten kam, immer zur Handlung passend, erweckte das den Eindruck, als wenn wir uns mitten in der Handlung befanden. Die runde Leinwand verstärkte noch diesen Eindruck. Man konnte sich nur schwer dem Einfluss des Filmes entziehen.
Durch die Nacht entfernten wir uns schnell von dieser Unterhaltungsstätte. Die nächsten Tage hielten viel Arbeit für uns bereit. Da war kein Raum mehr für Vergnügungen.
Übrigens…… Daizie und Dharma habe ich nie wiedergesehen. Zwei Jahre danach traf ich auf der Leipziger Herbstmesse anlässlich eines Empfangs des indischen Botschafters den Stellvertreter von Dharma. Er erzählte mir, dass Dharma vor einem Jahr quasi über Nacht mit seiner Frau verschwunden sei. Seine Firmenanteile und seine Wohnung hatte er verkauft. Seine Spur verlor sich in Singapur.
 

DocSchneider

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Hallo titusklein, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Dein Text bietet einen umfangreichen Einblick in ein fremdes Land. Vielleicht kannst Du ihn noch ein bisschen straffen.


Viele Grüße von DocSchneider

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