Tschüss

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Jonny

Mitglied
Tschüss

Es war schlimm für die Dame, ewig nur in diesem Zimmer sein zu können. Sie war so alleine. Ab und zu ließen sich nur mal die Pfleger sehen, fragten blöde Sachen und taten ihr weh, wenn sie versuchten sie zu waschen. Die Ärzte redeten auch nur immer Zeugs, das die Dame nicht verstand. Ihre Kinder und Enkelkinder hatten sich zudem schon seit ewigen Zeiten nicht mehr blicken lassen.
Der einzige Mensch der sich um sie kümmerte war ein Mädchen. Es war ein liebes Mädchen. Einmal in der Woche –glaubte die Dame zumindest- kam das Mädchen zu ihr und brachte die einzige Freude mit, die die Dame noch bekam. An diesen Tagen wurde sie aus ihrer Einsamkeit gerettet und durfte auch mal etwas Schönes erleben. Anfangs hatte sie mit dem Mädchen auch noch etwas spielen können. Wie Malefitz. - Oh die Dame liebte dieses Spiel. - Jedoch fehlte ihr mittlerweile die Kraft dazu. Deshalb las ihr das Mädchen ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch etwas vor und unterhielt sich mit ihr. Die Unterhaltungen waren mittlerweile leider auch beinahe nur noch einseitig, ausgehend von dem Mädchen. Die Dame brachte es einfach nicht mehr zu Stande, die Worte, die in ihrem Kopf einen Sinn ergaben, über ihren Mund zu einem Satz zu formen. Das bedauerte die Dame sehr, da ihr das Mädchen immer so leid tat, wenn es versuchte, irgendwie mit ihr eine Kommunikation aufzubauen.
Aus diesem Grund bestand die einzige Freude, die ihr das Mädchen noch schenken konnte, aus dem Vorlesen. Diese Freude reichte aber vollkommen aus, um sie glücklich zu machen. So gerne hätte sie dem Mädchen in letzter Zeit noch einmal gesagt, wie sie es genoss, vorgelesen zu bekommen. Da die Dame nicht mehr aufstehen konnte, waren die Geschichten nämlich die einzigen Fenster, durch die sie noch schauen und andere Welten erblicken konnte, außer dem tristen Zimmer.
Auch an diesem Tag war das Mädchen wieder gekommen. Heute konnte sie das Mädchen nicht mal begrüßen. Sie bekam kein Wort zu Stande. Nicht mal die Hand zum Winken konnte die Dame bewegen. Es hätte einfach viel zu viel Kraft gekostet, die sie brauchte, um ihre Atmung, Herzschlag und weitere Organe am Laufen zu halten.
Das Mädchen war anfangs mit der Situation etwas überfordert. Dann setzte es sich aber einfach und begann zu lesen. Sie las!
Es war ein neues Buch. Die Dame kannte es noch nicht. Wohlsein umfing sie. Ganz entspannt lauschte sie den Worten des Mädchens. Das Gehör der Dame funktionierte an diesem Tag jedoch nicht so wie sonst. Der Alterungsprozess hatte heute auch das Gehör eingeholt. Dies störte die Dame aber keineswegs. Aus den wenigen Wörtern die sie noch verstand, formte sie sich ihre eigene kleine Geschichte und fing an zu träumen.
Die Dame stand auf einem Turm, der auf einem hohen Hügel stand. Es war ein angenehm milder Sommertag. So einer, an dem die Sonne alles zum Strahlen und Glitzern bringt. Der Wind strich ganz sanft durch ihr Haar und kitzelte ihre kleinen alten Ohren. Der Anblick, der sich ihr bot war wunderbar! Hinter dem Hügel erstreckten sich viele kleine Felder. Manche bewachsen mit strahlendem Raps, andere bildeten eine saftgrüne Wiese und wieder andere waren wild mit einzelnen bunten Blumen bewachsen. Sie konnte den Duft der vielen Blumen bis dort oben riechen. Ganz in der Ferne vor dem Horizont vollendete die schillernde Ostsee diesen unfassbaren Anblick. Es sah so aus, als würden lauter kleine Kristalle über dem Wasser schweben und in hellen Farben um die Wette funkeln. Die Dame wusste genau wo sie war. Dies war ihre richtige Heimat. Endlich war sie aus dem stinkenden Zimmer entkommen. Endlich zermürbten sie keine Schmerzen vom ewigen Liegen mehr.
Nein! Hier hatte sie sich schon früher immer wohl gefühlt. Und hier würde sie sich auch immer wohl fühlen.
Das Mädchen klappte mit einer Träne im Auge das Buch zu, aus dem sie nur ein paar wenige Seiten gelesen hatte. Sie ging wortlos aus dem Zimmer. Das war der letzte Besuch des Mädchens.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Jonny, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Eine anrührende Geschichte, passend zur Weihnachtszeit, mit tröstlicher Botschaft. Kleinere Schnitzer müsstest Du noch ausmerzen.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Ji Rina

Mitglied
Willkommen Jonny!
Mit dem ausmerzen von Schnitzern kann ich Dir leider nicht helfen...
Aber mir hat Deine kleine liebvolle Geschichte gut gefallen!
Mit Gruß,
Ji
 

TaugeniX

Mitglied
Ein wenig naiv, aber sehr liebenswürdig geschrieben. Mädchen, die zum Vorlesen kommen, sind ein Segen! Danke für die schöne Geschichte.

Einen "Schnitzer" möchte ich zur Korrektur vorschlagen:

Es hätte einfach viel zu viel Kraft gekostet, die sie brauchte, um ihre Atmung, Herzschlag und weitere Organe am Laufen zu halten.

Atmung und Herzschlag sind ja keine Organe. Also entweder "Atmung, Herzschlag und andere Organfunktionen" (klingt aber fürchterlich nach einem Stationsdekurs) oder "Lungen, Herz und andere Organe"
 

Jonny

Mitglied
Danke für die beiden Antworten und Beurteilungen!
Das "schöne" an der Geschichte ist, dass sie tatsächlich auf einer wahren Begebenheit beruht.
An TageniX: deine Anmerkung ist gut. Da könnte man die Geschichte tatsächlich noch einem über arbeiten.
 

HelenaSofie

Mitglied
Hallo Jonny,

eine leise, schöne Geschichte mit dem Thema Mitmenschlichkeit, gut passend in die sogenannte stille Zeit.
Ein paar kleine Änderungsvorschläge hätte ich.

Es war schlimm für die Dame, immer (ewig) nur in diesem Zimmer sein zu können. Sie fühlte sich (war) so allein(e). (Ab) Nur ab und zu ließen sich (nur mal) die Pfleger sehen, fragten blöde Sachen und taten ihr weh, wenn sie versuchten, sie zu waschen. Die Ärzte redeten (auch nur) immer Zeugs, das die Dame nicht verstand.

Der einzige Mensch, (Komma) der sich um sie kümmerte, (Komma) war ein Mädchen. Es war ein liebes Mädchen. Einmal in der Woche, ( –)glaubte die Dame zumindest, (-) kam das Mädchen zu ihr und brachte die einzige Freude mit, die die Dame noch bekam. An diesen Tagen wurde sie aus ihrer Einsamkeit gerettet und durfte auch einmal (mal) etwas Schönes erleben. Anfangs hatte sie mit dem Mädchen auch noch etwas spielen können, wie Malefitz. Die Dame liebte dieses Spiel, ( -) jedoch fehlte ihr mittlerweile die Kraft dazu.

Das bedauerte die Dame sehr, da ihr das Mädchen immer so leid tat, wenn es versuchte, irgendwie mit ihr ein Gespräch (Kommunikation,passt nicht zum Erzählstil) aufzubauen.

Da die Dame nicht mehr aufstehen konnte, waren die Geschichten nämlich die einzigen Fenster, durch die sie noch schauen und andere Welten erblicken konnte (,außer dem tristen Zimmer).
(Es hätte einfach viel zu viel Kraft gekostet, die sie brauchte, um ihre Atmung, Herzschlag und weitere Organe am Laufen zu halten.- Weglassen. Einzelne Diagnosen und medizinische Erklärungen sind unnötig und passen nicht zum Text)
(Sie las!)

(Der Alterungsprozess hatte heute auch das Gehör eingeholt- Weglassen)

Der Anblick, der sich ihr bot, (Komma) war wunderbar! Hinter dem Hügel erstreckten sich viele kleine Felder. Manche (bewachsen) mit strahlendem Raps, andere bildeten ...

Die Dame wusste genau, wo sie war.

Endlich zermürbten sie keine Schmerzen vom langen (ewigen) Liegen mehr.


Jonny, vielleicht kannst du etwas damit anfangen.
Ich wünsche dir alles Gute im neuen Jahr und Freude am Schreiben

HelenaSofie
 



 
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