Was soll denn sein?

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Was soll denn sein?

„Hey, alles in Ordnung?“ Ralph sieht mich fragend an. „Klar, was soll denn sein?“, antworte ich energisch, in der Hoffnung ihm damit zu verstehen zu geben, dass ich im Moment nicht an seiner aufdringlichen Fürsorge interessiert bin. Er sagt nichts mehr, wagt nur einen kurzen Blick über die Schulter Richtung Kneipeneingang. Eine große, schwere Holztür, die jeden hereinkommenden Gast mit einem Quietschen ankündigt um ihm dann, wenn die Falle wieder ins Schloss fällt, mit einem lauten Knallen zu salutieren. Als wolle sie sagen: „Seht her, wer hier kommt!“ Durch dieses Signal aufmerksam gemacht, wissen nun natürlich alle, dass sie da ist.

Vorne am Eingang wird es laut. In meinem Kopf noch lauter. „Heute schon? Ausgerechnet heute!“, denke ich. Ich wusste ja, dass das Jahr um ist, aber den genauen Tag kannte ich nicht. Jetzt steh ich hier und versuche verzweifelt entspannt zu wirken. „Ich werde einfach nicht hinsehen.“, beschließe ich innerlich. Das gelingt mir so ungefähr drei Sekunden ganz wunderbar, bevor ich meinen Schwur breche. Ich versuche mein Vorhaben zu tarnen, indem ich so tue als ließe ich meinen Blick einfach durch den Raum schweifen, während ich mich vom Tisch löse, um den Anschein zu erwecken, mich zu lockern und eine männlichere Position einzunehmen. Dabei kommt es mir vor, als ob alle anwesenden Gäste auf meine Reaktion warten. In Wirklichkeit interessiert sich wohl doch keiner für mein peinliches Gehabe.

Frank versucht eine rettende Unterhaltung zu starten, indem er erzählt, was heute an seinem Arbeitsplatz passiert ist und obwohl mich solche Informationen unter normalen Umständen interessieren wie die letzte Wasserstandsmeldung aus Timbuktu, bin ich jetzt doch froh, mich daran klammern zu können. Lange folgen kann ich ihm jedoch nicht. „Da kommt also dieser Kerl rein“, ist die einzige Information, die ich verwerten kann, bevor ich mich wieder dem Krach in meinem Kopf und der Vermeidung jeglichen Blickkontakts zu ihr widme. Unter gelegentlichem Nicken und gespieltem Lachen, versuche ich den Anschein zu erwecken seiner sinnfreien Erzählung zu folgen. Da Frank ein einfach gestrickter Typ ist, fühlt er sich gehört und verstanden.

Vorne am Eingang hat sich ein kleiner Pulk um sie gebildet. Da zwischen Tür und Bartresen nur gute drei Meter Abstand herrschen, ist dieser schmale Durchgang schnell mit stehenden und auf Barhockern sitzenden Menschen verstopft. Während sie die Leute überschwänglich begrüßt, rege ich mich innerlich darüber auf, dass durch dieses Zeremoniell der Weg zu den Toiletten versperrt ist. Und warum zum Teufel redet sie so laut? Möchte sie sichergehen, dass auch der letzte Gast in diesem Gewölbe ihre Anwesenheit bemerkt? „Hans! Hey Hans?!“ Ich schaue wieder zu Frank. „Hörst du mir überhaupt noch zu?“, fragt er mürrisch. Ich hatte offensichtlich vergessen, auf seine lasche Pointe mit einem künstlichen Lacher zu reagieren. Wie soll man sich auch unter diesen Umständen konzentrieren? „Natürlich hör ich dir zu!“, antworte ich, hoffend, dass er das als Entschuldigung akzeptierte. Ein leises „Naja wie auch immer“ gibt mir zu verstehen, dass zwischen uns alles gut ist. Er sieht demonstrativ auf seine Armbanduhr. Ich kann erkennen, dass es bereits Zwei Uhr ist. Für diese Zeit ist es noch ziemlich voll hier. Einige sitzen am Rand des Gastraumes auf Bänken und Stühlen. Andere sitzen auf Barhockern oder stehen wie wir an hohen Tischen, welche um metallene Säulen gebaut sind, die aus der Gewölbedecke ragen. Trotz der hohen Lautstärke hier, höre ich immer wieder ihre Stimme in einzelnen Fetzen durch das Gemisch aus Musik und lautem Geplapper schneiden. Ein seltsam vertrautes Geräusch.

Als ich wieder einmal prüfen will, ob sie noch da steht, wo sie vor zwei Minuten und auch vor einer halben Stunde schon stand, kreuzen sich plötzlich unsere Blicke. Ich bin versteinert. Sie lächelt, ich sterbe. Nach einer gefühlten Ewigkeit lösen sich unsere Blicke wieder. Ich lasse mich wieder Richtung Tisch fallen. Mein Gesicht kommt über meinem halbleeren Bierglas zum Stehen. Ich versuche den Druck in meiner Brust zu ignorieren und zu sortieren, was ich in den wenigen Augenblicken sehen konnte. Sie trug einige modische Accessoires, die sie zweifelsohne auf ihren Reisen ergattert hat und die in diesem spießbürgerlichen Umfeld nur allzu gut auffielen. Neben ein paar indianisch wirkenden Ohrringen, diversen Armbändern, Ketten, einem mit Ornamenten bestickten Poncho und Federn im Haar, fiel mir allen voran ein großer, breitkrempiger Hut auf. Sollte sie so noch nicht genug auffallen, sorgt spätestens dieses fulminante Kleidungsstück dafür. Eigentlich ist das erfahrungsgemäß kein geeigneter Aufzug für die engstirnigen Stammgäste einer Kleinstadtbar, aber im Zuge ihrer langen Abwesenheit und erst kürzlichen Widerkehr verzeiht das Kollektiv ihr ihre modische Unangepasstheit.

Meine Gedanken kreisen und ich versuche wieder zu mir zu finden. Ich möchte noch einen kontrollierenden Blick riskieren. Eher zufällig drehen wir uns alle drei Richtung Eingang. Wir bemerken, dass sie sich loseist und auf uns zugeht. Schlagartig drehen wir uns wieder um, wobei meine Bewegung wohl am ruckartigsten ausfällt. „Sie kommt!“, sagt Ralph. „Ach was!“, entgegne ich ihm spitz. Und plötzlich wird es ganz ruhig an unserem Tisch, angesichts der drohenden Begegnung. Ich glaube, die leichte Bedrückung der anderen beiden kommt nur aus solidarischer Verbundenheit zu mir auf. Ich bin dankbar für diese brüderliche Geste der Peinlichkeit. Etwas ungelenk stehen wir da und starren in den Schaum. Wie drei Rekruten, die darauf warten, dass der Musterungsarzt ihre Weichteile untersucht.

Es klopft auf Ralphs Schulter. Er tut überrascht. Sie begrüßt ihn mit einem quietschenden und viel zu lauten „Heeeey!“ Ganz wichtig ist auch jetzt wieder das lautstarke Ausrufen der Vornamen der zu Begrüßenden, damit auch alle umstehen Leute merken, dass man diese Menschen gut kennt. Gepaart mit überschwänglichen Umarmungen ergibt das einen Cocktail aus Verhaltensmustern, den ich zeitlebens ablehnte. Mich begrüßt sie nur mit einem einfachen, leisen und doch warmen „Hey“. Das gibt mir das Gefühl von Individualität. „Hallo Lara“, sagt Frank freudig. Sie stellt sich zwischen mir und Ralph an den runden Tisch. „Na, wie läuft’s?“, fragt sie in die Runde. Eine wichtige Taktik von Rückkehrern, die gern genutzt wird um das Thema anschließend gekonnt auf ihre Reise zu lenken. „Gut!“, schallt es von Frank und Ralph im Duett. Frank ist höflich: „Und bei dir? Wie war dein Trip?“ Sie sagt, dass alles gut sei und erzählt vom Jetlag. „Hey Indiana Jones, den verlorenen Schatz gefunden?“, falle ich ihr provokant ins Wort, den Anschein erweckend, ihren Hut albern zu finden. In Wirklichkeit frage ich mich jedoch, warum ich nicht den Mut habe, ein solches modisches Statement zu setzen. Sie würdigt das mit keiner Antwort und lächelt nur. Als die anderen beiden auf Einzelheiten ihrer Abenteuer drängen, wird ihrem Wunsch gewährt und sie beginnt zu erzählen. Nach kurzem Ertragen ihrer Erklärungen, warum in zehntausend Kilometer entfernten Ländern alles besser ist als hier, seile ich mich mit einem etwas zu lauten „Ich geh pissen!“ auf die Toilette ab.

Dort angekommen fühle ich mich ungewohnt krank. Ich weiß nicht, ob es das Bier ist oder der späte Abend der mich so müde werden lässt. „Schlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr“, denke ich, als ich mich selbst im Spiegel betrachte, ein falsches Lächeln hervorzaubernd. Obwohl ich nur zur Erholung hier her geflüchtet bin, stelle ich mich ans Urinal. „Wenn ich schon mal hier bin“, sage ich leise zu mir selbst. Gut so Hans, immer schön pragmatisch bleiben. Während ich so dastehe, denke ich an die Zeit zurück, bevor sie gegangen ist. Wie ich mich zum Affen machte, diese Beziehung zu retten. Wie ich alles viel zu lange hab geschehen lassen. Wie wir letztendlich schlussmachten und sie dann flugs verschwand. Wie ich mich freute, mich mit dem Thema nicht mehr auseinandersetzen zu müssen. Und jetzt stehe ich hier. Schwelge in Gedanken. Erinnere mich an Gespräche, die wir führten. Ärgere mich über die, die wir nicht führten. Was sie wohl alles erlebt hat? Hat sie sich verändert? Ich weiß nicht, ob ich ihr die Freuden einer solchen Reise gönnen will. Nach dem vierten Mal Abschütteln muss ich mir eingestehen, dass da wohl nichts mehr kommt und ich keinen Grund mehr habe, so dazustehen. Ich verstaue alles sicher und werfe einen letzten kontrollierenden Blick in den Spiegel. „Cool bleiben“, fordere ich mich selbst auf. Ich atme tief durch und gehe zurück in den Gastraum.

Auf dem Rückweg gehe ich straff auf unseren Tisch am anderen Ende des Etablissements zu und - biege instinktiv zur alten Holzpforte ab, um ins Freie zu gelangen. Ihr gewohntes Quietschen untermalt höhnisch meine Flucht. Dann der Salut. Bumm! Zu! Endlich Ruhe! Dass sich die Zahl der Gäste in meiner kurzen Abwesenheit fast halbiert hat, kriege ich gar nicht mit.

Ich setze mich auf die alte Steinbank, die sicher schon vielen melancholischen Typen in ihrer Not eine Sitzgelegenheit bot. Obwohl die eigene Beobachtung zeigt, dass sie häufiger als Schlaf- und Ruheplatz für Gäste genutzt wird, welche nach anstrengenden Kneipenabenden die Orientierung verlieren. Ich erinnere mich, wie Ralph hier lag und muss lächeln. Aus der Brusttasche meines Hemdes ziehe ich eine Schachtel Zigaretten und zünde eine an. Während ich den Rauch einatme, blicke ich auf den Platz vor mir und versinke wieder in Gedanken. Es bleibt natürlich nicht bei einer Zigarette und ehe ich mich versehe, liegen einige ausgetretene Stummel zwischen meinen Füßen. Neben mir signalisieren in regelmäßigen Abständen die Geräusche der alten Tür, dass weitere Gäste den Heimweg antreten. Auch Frank und Ralph sind unter ihnen, bleiben kurz vor mir stehen um mir zu berichten, dass sie meine Rechnung schon übernommen hätten. Wir verabreden uns für morgen. Ich danke herzlich und sie ziehen von Dannen. Mich wundert, dass sie mich nicht zum Mitgehen auffordern. Andererseits hab ich das auch nicht vor. Irgendetwas hält mich auf dieser Bank. Es wird ruhig. „Sie hat zugenommen“, sage ich zu mir selbst, um mir die Illusion von Triumph einzureden, wohlwissend, dass sie toll aussieht.

Als ich mir gerade die nächste anstecke, höre ich wieder das bekannte Quietschen. Ein Hut mit einer jungen Frau dran schaut aus der Tür. „Na Prima“, denke ich. Sie tritt heraus. Bumm! Zu! Wir sind zu zweit! Kommentarlos setzt sie sich zu mir auf die Bank, zieht eine Zigarette aus meiner Schachtel und zündet sie an. Eine Geste, die sich jeher nur sie ungestraft erlauben konnte. Wir sehen uns an. Sie lächelt. Ich lächle. Dann werden wir beide wieder Ernst. Sie fragt: „Alles in Ordnung?“ Ich antworte ganz leise: „Klar, was soll denn sein?“
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Matthias Auwald, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Schöne Geschichte um ein uraltes Thema! Einige kleine Rechtschreibfehler kannst Du noch ausbessern.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 
A

Alberta

Gast
Hallo, Matthias Auwald, auch von mir ein herzliches Willkommen: Deine Kurzgeschichte hat mir sehr gut gefallen, solches Szenario "Begegnung mit dem Ex" ist mir aus der Mädels-Ecke wohlbekannt.
Der sympathisch-verletzliche Mr. Prota geht mir ans Herz, vor allem Sätze wie: Zit: "...Sie lächelt. Ich sterbe..."
 
Was soll denn sein?

„Hey, alles in Ordnung?“ Ralph sieht mich fragend an. „Klar, was soll denn sein?“, antworte ich energisch, in der Hoffnung ihm damit zu verstehen zu geben, dass ich im Moment nicht an seiner aufdringlichen Fürsorge interessiert bin. Er sagt nichts mehr, wagt nur einen kurzen Blick über die Schulter Richtung Kneipeneingang. Eine große, schwere Holztür, die jeden hereinkommenden Gast mit einem Quietschen ankündigt um ihm dann, wenn die Falle wieder ins Schloss fällt, mit einem lauten Knallen zu salutieren. Als wolle sie sagen: „Seht her, wer hier kommt!“ Durch dieses Signal aufmerksam gemacht, wissen nun natürlich alle, dass sie da ist.

Vorne am Eingang wird es laut. In meinem Kopf noch lauter. „Heute schon? Ausgerechnet heute!“, denke ich. Ich wusste ja, dass das Jahr um ist, aber den genauen Tag kannte ich nicht. Jetzt steh ich hier und versuche verzweifelt entspannt zu wirken. „Ich werde einfach nicht hinsehen.“, beschließe ich innerlich. Das gelingt mir so ungefähr drei Sekunden ganz wunderbar, bevor ich meinen Schwur breche. Ich versuche mein Vorhaben zu tarnen, indem ich so tue als ließe ich meinen Blick einfach durch den Raum schweifen, während ich mich vom Tisch löse, um den Anschein zu erwecken, mich zu lockern und eine männlichere Position einzunehmen. Dabei kommt es mir vor, als ob alle anwesenden Gäste auf meine Reaktion warten. In Wirklichkeit interessiert sich wohl doch keiner für mein peinliches Gehabe.

Frank versucht eine rettende Unterhaltung zu starten, indem er erzählt, was heute an seinem Arbeitsplatz passiert ist und obwohl mich solche Informationen unter normalen Umständen interessieren wie die letzte Wasserstandsmeldung aus Timbuktu, bin ich jetzt doch froh, mich daran klammern zu können. Lange folgen kann ich ihm jedoch nicht. „Da kommt also dieser Kerl rein“, ist die einzige Information, die ich verwerten kann, bevor ich mich wieder dem Krach in meinem Kopf und der Vermeidung jeglichen Blickkontakts zu ihr widme. Unter gelegentlichem Nicken und gespieltem Lachen, versuche ich den Anschein zu erwecken seiner sinnfreien Erzählung zu folgen. Da Frank ein einfach gestrickter Typ ist, fühlt er sich gehört und verstanden.

Vorne am Eingang hat sich ein kleiner Pulk um sie gebildet. Da zwischen Tür und Bartresen nur gute drei Meter Abstand herrschen, ist dieser schmale Durchgang schnell mit stehenden und auf Barhockern sitzenden Menschen verstopft. Während sie die Leute überschwänglich begrüßt, rege ich mich innerlich darüber auf, dass durch dieses Zeremoniell der Weg zu den Toiletten versperrt ist. Und warum zum Teufel redet sie so laut? Möchte sie sichergehen, dass auch der letzte Gast in diesem Gewölbe ihre Anwesenheit bemerkt? „Hans! Hey Hans?!“ Ich schaue wieder zu Frank. „Hörst du mir überhaupt noch zu?“, fragt er mürrisch. Ich hatte offensichtlich vergessen, auf seine lasche Pointe mit einem künstlichen Lacher zu reagieren. Wie soll man sich auch unter diesen Umständen konzentrieren? „Natürlich hör ich dir zu!“, antworte ich, hoffend, dass er das als Entschuldigung akzeptierte. Ein leises „Naja wie auch immer“ gibt mir zu verstehen, dass zwischen uns alles gut ist. Er sieht demonstrativ auf seine Armbanduhr. Ich kann erkennen, dass es bereits zwei Uhr ist. Für diese Zeit ist es noch ziemlich voll hier. Einige sitzen am Rand des Gastraumes auf Bänken und Stühlen. Andere sitzen auf Barhockern oder stehen wie wir an hohen Tischen, welche um metallene Säulen gebaut sind, die aus der Gewölbedecke ragen. Trotz der hohen Lautstärke hier, höre ich immer wieder ihre Stimme in einzelnen Fetzen durch das Gemisch aus Musik und lautem Geplapper schneiden. Ein seltsam vertrautes Geräusch.

Als ich wieder einmal prüfen will, ob sie noch da steht, wo sie vor zwei Minuten und auch vor einer halben Stunde schon stand, kreuzen sich plötzlich unsere Blicke. Ich bin versteinert. Sie lächelt, ich sterbe. Nach einer gefühlten Ewigkeit lösen sich unsere Blicke wieder. Ich lasse mich Richtung Tisch fallen. Mein Gesicht kommt über meinem halbleeren Bierglas zum Stehen. Ich versuche den Druck in meiner Brust zu ignorieren und zu sortieren, was ich in den wenigen Augenblicken sehen konnte. Sie trug einige modische Accessoires, die sie zweifelsohne auf ihren Reisen ergattert hat und die in diesem spießbürgerlichen Umfeld nur allzu gut auffielen. Neben ein paar indianisch wirkenden Ohrringen, diversen Armbändern, Ketten, einem mit Ornamenten bestickten Poncho und Federn im Haar, fiel mir allen voran ein großer, breitkrempiger Hut auf. Sollte sie so noch nicht genug auffallen, sorgt spätestens dieses fulminante Kleidungsstück dafür. Eigentlich ist das erfahrungsgemäß kein geeigneter Aufzug für die engstirnigen Stammgäste einer Kleinstadtbar, aber im Zuge ihrer langen Abwesenheit und erst kürzlichen Widerkehr verzeiht das Kollektiv ihr ihre modische Unangepasstheit.

Meine Gedanken kreisen und ich versuche wieder zu mir zu finden. Ich möchte noch einen kontrollierenden Blick riskieren. Eher zufällig drehen wir uns alle drei Richtung Eingang. Wir bemerken, dass sie sich loseist und auf uns zugeht. Schlagartig drehen wir uns wieder um, wobei meine Bewegung wohl am ruckartigsten ausfällt. „Sie kommt!“, sagt Ralph. „Ach was!“, entgegne ich ihm spitz. Und plötzlich wird es ganz ruhig an unserem Tisch angesichts der drohenden Begegnung. Ich glaube, die leichte Bedrückung der anderen beiden kommt nur aus solidarischer Verbundenheit zu mir auf. Ich bin dankbar für diese brüderliche Geste der Peinlichkeit. Etwas ungelenk stehen wir da und starren in den Schaum. Wie drei Rekruten, die darauf warten, dass der Musterungsarzt ihre Weichteile untersucht.

Es klopft auf Ralphs Schulter. Er tut überrascht. Sie begrüßt ihn mit einem quietschenden und viel zu lauten „Heeeey!“ Ganz wichtig ist auch jetzt wieder das lautstarke Ausrufen der Vornamen der zu Begrüßenden, damit auch alle umstehen Leute merken, dass man diese Menschen gut kennt. Gepaart mit überschwänglichen Umarmungen ergibt das einen Cocktail aus Verhaltensmustern, den ich zeitlebens ablehnte. Mich begrüßt sie nur mit einem einfachen, leisen und doch warmen „Hey“. Das gibt mir das Gefühl von Individualität. „Hallo Lara“, sagt Frank freudig. Sie stellt sich zwischen mir und Ralph an den runden Tisch. „Na, wie läuft’s?“, fragt sie in die Runde. Eine wichtige Taktik von Rückkehrern, die gern genutzt wird um das Thema anschließend gekonnt auf ihre Reise zu lenken. „Gut!“, schallt es von Frank und Ralph im Duett. Frank ist höflich: „Und bei dir? Wie war dein Trip?“ Sie sagt, dass alles gut sei und erzählt vom Jetlag. „Hey Indiana Jones, den verlorenen Schatz gefunden?“, falle ich ihr provokant ins Wort, den Anschein erweckend, ihren Hut albern zu finden. In Wirklichkeit frage ich mich jedoch, warum ich nicht den Mut habe, ein solches modisches Statement zu setzen. Sie würdigt das mit keiner Antwort und lächelt nur. Als die anderen beiden auf Einzelheiten ihrer Abenteuer drängen, wird ihrem Wunsch gewährt und sie beginnt zu erzählen. Nach kurzem Ertragen ihrer Erklärungen, warum in zehntausend Kilometer entfernten Ländern alles besser ist als hier, seile ich mich mit einem etwas zu lauten „Ich geh pissen!“ auf die Toilette ab.

Dort angekommen fühle ich mich ungewohnt krank. Ich weiß nicht, ob es das Bier ist oder der späte Abend der mich so müde werden lässt. „Schlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr“, denke ich, als ich mich selbst im Spiegel betrachte, ein falsches Lächeln hervorzaubernd. Obwohl ich nur zur Erholung hierher geflüchtet bin, stelle ich mich ans Urinal. „Wenn ich schon mal hier bin“, sage ich leise zu mir selbst. Gut so Hans, immer schön pragmatisch bleiben. Während ich so dastehe, denke ich an die Zeit zurück, bevor sie gegangen ist. Wie ich mich zum Affen machte, diese Beziehung zu retten. Wie ich alles viel zu lange hab geschehen lassen. Wie wir letztendlich schlussmachten und sie dann flugs verschwand. Wie ich mich freute, mich mit dem Thema nicht mehr auseinandersetzen zu müssen. Und jetzt stehe ich hier. Schwelge in Gedanken. Erinnere mich an Gespräche, die wir führten. Ärgere mich über die, die wir nicht führten. Was sie wohl alles erlebt hat? Hat sie sich verändert? Ich weiß nicht, ob ich ihr die Freuden einer solchen Reise gönnen will. Nach dem vierten Mal Abschütteln muss ich mir eingestehen, dass da wohl nichts mehr kommt und ich keinen Grund mehr habe, so dazustehen. Ich verstaue alles sicher und werfe einen letzten kontrollierenden Blick in den Spiegel. „Cool bleiben“, fordere ich mich selbst auf. Ich atme tief durch und gehe zurück in den Gastraum.

Auf dem Rückweg gehe ich straff auf unseren Tisch am anderen Ende des Etablissements zu und - biege instinktiv zur alten Holzpforte ab, um ins Freie zu gelangen. Ihr gewohntes Quietschen untermalt höhnisch meine Flucht. Dann der Salut. Bumm! Zu! Endlich Ruhe! Dass sich die Zahl der Gäste in meiner kurzen Abwesenheit fast halbiert hat, kriege ich gar nicht mit.

Ich setze mich auf die alte Steinbank, die sicher schon vielen melancholischen Typen in ihrer Not eine Sitzgelegenheit bot. Obwohl die eigene Beobachtung gezeigt hat, dass sie häufiger als Schlaf- und Ruheplatz für Gäste genutzt wird, welche nach anstrengenden Kneipenabenden die Orientierung verlieren. Ich erinnere mich, wie Ralph hier lag und muss lächeln. Aus der Brusttasche meines Hemdes ziehe ich eine Schachtel Zigaretten und zünde eine an. Während ich den Rauch einatme, blicke ich auf den Platz vor mir und versinke wieder in Gedanken. Es bleibt natürlich nicht bei einer Zigarette und ehe ich mich versehe, liegen einige ausgetretene Stummel zwischen meinen Füßen. Neben mir signalisieren in regelmäßigen Abständen die Geräusche der alten Tür, dass weitere Gäste den Heimweg antreten. Auch Frank und Ralph sind unter ihnen, bleiben kurz vor mir stehen um mir zu berichten, dass sie meine Rechnung schon übernommen hätten. Wir verabreden uns für morgen. Ich danke herzlich und sie ziehen von dannen. Mich wundert, dass sie mich nicht zum Mitgehen auffordern. Andererseits hab ich das auch nicht vor. Irgendetwas hält mich auf dieser Bank. Es wird ruhig. „Sie hat zugenommen“, sage ich zu mir selbst, um mir die Illusion von Triumph einzureden, wohl wissend, dass sie toll aussieht.

Als ich mir gerade die nächste anstecke, höre ich wieder das bekannte Quietschen. Ein Hut mit einer jungen Frau dran schaut aus der Tür. „Na Prima“, denke ich. Sie tritt heraus. Bumm! Zu! Wir sind zu zweit! Kommentarlos setzt sie sich zu mir auf die Bank, zieht eine Zigarette aus meiner Schachtel und zündet sie an. Eine Geste, die sich jeher nur sie ungestraft erlauben konnte. Wir sehen uns an. Sie lächelt. Ich lächle. Dann werden wir beide wieder ernst. Sie fragt: „Alles in Ordnung?“ Ich antworte ganz leise: „Klar, was soll denn sein?“
 



 
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