Winterstille

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Silbenstaub

Mitglied
Lautlos schweben die Schneeflocken auf den Waldboden. Wie Wattebäuschchen, flauschig anzusehen.
Klara sitzt in einem Unterstand, eingehüllt in eine dicke warme Decke, den Schal fest um den Hals geschlungen, Mütze, Handschuhe. Sie friert nicht und wird Teil dieses Balletts der stummen Tänzer. Wie sie Pirouetten drehen, sich anmutig zum Boden hin bewegen.
Rabenschwarze Baumstämme verharren vor ihr. Sie tragen weiß, auf einer Seite nur. Haben sich herausgeputzt. An den kahlen Zweigen erschuf ein Winterkünstler filigrane Kristallfiguren. Kühl und klar und kühn. Ranken schmiegen sich an die Borke, als ob sie den Baum wärmen wollen. Ein Eichhörnchen huscht den Stamm hinauf. Braunrot, ein Farbklecks in der Blässe.
Das Licht ist fahl, die Sonne verbirgt sich. Milchiges Glas. Die Luft ist leer. Nur Frische und Stille um sie herum.

Klara hält den Zeigefinger hinaus in die Schneeflocken und leckt ihn ab. Der Geschmack von Zuckerwatte liegt auf ihrer Zunge. Bilder werden in ihr lebendig vom Schlittenfahren auf dem Schulberg, Lachen und Weinen gleichzeitig, aufgeschlagene Knie und Kinderpflaster. Und es gab Früchtepunsch aus der weißgepunkteten roten Kanne und Würstchen mit Kartoffelsalat. Sie spürt eine Hand, die über ihre langen Haare streichelt.

Totholz liegt auf dem Erdboden, knorrige Äste mit löchriger Rinde. Sie erzählen ihr Geschichten von Herbststürmen. Sie betrachtet die abstrakten Muster und bizarren Formen. Eine Galerie in freier Natur.
Einen Schluck Tee trinkt Klara aus der Thermoskanne. Mit Orange, Nelke und einem Hauch Kardamom. Er dampft wie ihr Atem.
Der Waldboden ist übersät von einem Durcheinander von vertrockneten Halmen und braunen morschen Blättern, wie achtlos hingeworfen, fast verborgen unter der nassen Decke. Sie haben schwer zu tragen. Das Moos hat seine Farbe verloren und Tannenzapfen ihren Duft. Sie sind mit einer zarten Eiskruste überzogen, wie mit Mehl bestäubt.
In sanften Wellen ruht der Schnee unter den Tannen wie eine Sanddüne in der Wüste. Spuren verlaufen im Weiß.

Plötzlich strömen Tränen über Klaras kaltes Gesicht, sie wischt sie mit der Handschuhhand weg. Sie schluckt, ihr Hals wird eng.
Sie sieht die Mutter vor sich, wie sie in ihrem Bett lag, bewegungslos und völlig ruhig. Die Schmerzen hatten aufgehört. Wenigstens das. Kein Atmen, kein Zucken mit den Augenlidern. Klara hielt auch den Atem an und verharrte steif auf dem Stuhl, bis die Schultern und der Rücken schmerzten. Als sie aufstand, schwankte sie, oder schwankte der Raum? Die Stille quoll in jeden Winkel. Eine Kerze flackerte am gekippten Fenster. Ein kaum spürbarer Windhauch.
Krebs hatte ihre Mutter besiegt. Hatte sich ausgedehnt und war in den Bauchraum einmarschiert. Ein übermächtiger Feind auf Eroberungsfeldzug.
Noch einen Tag zuvor hatten sie im ‚Raum der Stille‘ im Hospiz gesessen. Sie sprachen nicht, ließen die Minuten verstreichen. Sie hielten sich an den Händen. Sie hatten keine Zeit mehr, das wussten sie.
Klara war so verlassen wie die Schirme und Taschen im Fundbüro, die keiner abholt. Alle Puzzleteile ihres Lebens, die vorher an ihrem Platz gelegen hatten, fielen auseinander. Wenn ich dieses Zimmer verlasse, so dachte sie, läuft draußen ein Film ab, an dem ich nicht teilhaben werde.

Eine Meise zwitschert, ein Specht klopft, der Wald wacht auf. Der Frühling naht. Klara steht auf und packt die Decke ein. Es ist Zeit, weiter zu wandern. Der Schnee knirscht unter ihren Stiefeln. Ein Schneeglöckchen streckt seinen Kopf heraus.
 

Languedoc

Mitglied
Hallo Silbenstaub,

Dieser Text könnte gut ein Tagebucheintrag sein. Ihm würde möglicherweise die ICH-Perspektive besser stehen. Sollte Dir am Namen Klara gelegen sein (clarus: klar, hell), ließe er sich in der Passage über die Erinnerung an die Mutter einflechten.

Nur so ein Gedanke

von Languedoc
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo Languedoc,
das ist eine interessante Anmerkung, da der Text ursprünglich mal in der Ich-Perspektive war....
Danke und Grüße von Silbenstaub
 
G

Gelöschtes Mitglied 18005

Gast
Hallo Silbenstaub

Ein schöner Text, den ich aber - jetzt wo der Frühling schon praktisch da ist - zur falschen Zeit lese.

Die Naturbeschreibungen sind toll! Klara scheint trotz ihrer schrecklichen Einsamkeit und Verlorenheit in völliger Harmonie mit der Natur zu sein - das finde ich interessant.

LG
Peter

PS: Die vorletzte Passage, mit der Mutter, hast du sonderlich gut hinbekommen - das war für mich wie in einem Film, wo plötzlich so ein Flashback gezeigt wird und so rissig ein bisschen ... Flashback und zurück, Flashback und zurück, aber es stellt sich heraus, dass ich mich verlesen habe und es nur ein einziger langer Flashback ist, ohne derweil schnitt-artig wieder zurück in die Gegenwart zu springen.

Als Tagebucheintrag würde ich das Stück auch gerne lesen - hast du seitdem schon daran gearbeitet? Der Name Klara ist auch meiner Meinung nach streichbar - außer du bestehst darauf.
 

Silbenstaub

Mitglied
Tagebucheintrag 08.02.2018

Lautlos schweben die Schneeflocken auf den Waldboden. Wie Wattebäuschchen, flauschig anzusehen.
Ich sitze in einem Unterstand, eingehüllt in eine dicke warme Decke, den Schal fest um den Hals geschlungen, Mütze, Handschuhe. Ich friere nicht und werde Teil dieses Balletts der stummen Tänzer. Wie sie Pirouetten drehen, sich anmutig zum Boden hin bewegen.
Rabenschwarze Baumstämme verharren vor mir. Sie tragen weiß, auf einer Seite nur. Haben sich herausgeputzt. An den kahlen Zweigen erschuf ein Winterkünstler filigrane Kristallfiguren. Kühl und klar und kühn. Ranken schmiegen sich an die Borke, als ob sie den Baum wärmen wollen. Ein Eichhörnchen huscht den Stamm hinauf. Braunrot, ein Farbklecks in der Blässe.
Das Licht ist fahl, die Sonne verbirgt sich. Milchiges Glas. Die Luft ist leer. Nur Frische und Stille um mich herum.
Ich halte den Zeigefinger hinaus in die Schneeflocken und lecke ihn ab. Der Geschmack von Zuckerwatte liegt auf meiner Zunge. Bilder werden in mir lebendig vom Schlittenfahren auf dem Schulberg, Lachen und Weinen gleichzeitig, aufgeschlagene Knie und Kinderpflaster. Und es gab Früchtepunsch aus der weißgepunkteten roten Kanne und Würstchen mit Kartoffelsalat. Ich spüre eine Hand, die über meine langen Haare streichelt.
Totholz liegt auf dem Erdboden, knorrige Äste mit löchriger Rinde. Sie erzählen mir Geschichten von Herbststürmen. Ich betrachte die abstrakten Muster und bizarren Formen. Eine Galerie in freier Natur.
Einen Schluck Tee trinke ich aus der Thermoskanne. Mit Orange, Nelke und einem Hauch Kardamom. Er dampft wie mein Atem.
Der Waldboden ist übersät von einem Durcheinander von vertrockneten Halmen und braunen morschen Blättern, wie achtlos hingeworfen, fast verborgen unter der nassen Decke. Sie haben schwer zu tragen. Das Moos hat seine Farbe verloren und Tannenzapfen ihren Duft. Sie sind mit einer zarten Eiskruste überzogen, wie mit Mehl bestäubt.
In sanften Wellen ruht der Schnee unter den Tannen wie eine Sanddüne in der Wüste. Spuren verlaufen im Weiß.
Plötzlich strömen Tränen über mein kaltes Gesicht, ich wische sie mit der Handschuhhand weg. Ich schlucke, mein Hals wird eng.
Ich sehe die Mutter vor mir, wie sie in ihrem Bett lag, bewegungslos und völlig ruhig. Die Schmerzen hatten aufgehört. Wenigstens das. Kein Atmen, kein Zucken mit den Augenlidern. Ich hielt auch den Atem an und verharrte steif auf dem Stuhl, bis die Schultern und der Rücken schmerzten. Als ich aufstand, schwankte ich, oder schwankte der Raum? Die Stille quoll in jeden Winkel. Eine Kerze flackerte am gekippten Fenster. Ein kaum spürbarer Windhauch.
Krebs hatte meine Mutter besiegt. Hatte sich ausgedehnt und war in den Bauchraum einmarschiert. Ein übermächtiger Feind auf Eroberungsfeldzug.
Noch einen Tag zuvor hatten wir im ‚Raum der Stille‘ im Hospiz gesessen. Wir sprachen nicht, ließen die Minuten verstreichen. Wir hielten uns an den Händen. Wir hatten keine Zeit mehr, das wussten wir.
Ich war so verlassen wie die Schirme und Taschen im Fundbüro, die keiner abholt. Alle Puzzleteile meines Lebens, die vorher an ihrem Platz gelegen hatten, fielen auseinander. Wenn ich dieses Zimmer verlasse, so dachte ich, läuft draußen ein Film ab, an dem ich nicht teilhaben werde.

Eine Meise zwitschert, ein Specht klopft, der Wald wacht auf. Der Frühling naht. Ich stehe auf und packe die Decke ein. Es ist Zeit, weiter zu wandern. Der Schnee knirscht unter meinen Stiefeln. Ein Schneeglöckchen streckt seinen Kopf heraus.
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo Peter,
vielen Dank für deinen freundlichen Kommentar.
Jetzt, da der „Frühling lässt sein blaues Band“, du weißt schon, in Berlin hat es heute jedenfalls schön geflattert, hatte ich diesen Text nicht mehr auf dem Schirm.
Ich habe eine Korrektur vorgenommen, ist aber wahrscheinlich noch nicht die letzte.
LG Silbenstaub
 
G

Gelöschtes Mitglied 19691

Gast
Liebe Silbenstaub,

als du deinen Tagebucheintrag "Winterstille" eingestellt hast, war ich in der Leselupe noch gar nicht geboren. Daher die verspätete Reaktion auf deinen sehr gelungenen Text. Ich habe ihn mit großer Freude gelesen, wenngleich es sich eher um eine bedrückende Thematik handelt. Besonders gefallen hat mir die wechselnde Rhythmik mit langen und kurzen, teilweise lakonisch anmutenden Sätzen. Die Schilderung der toten Natur (das Auge der Fotografin?) als Metapher zum Tod der Mutter und die Verknüpfung zur eigenen Befindlichkeit/den Erinnerungen ist sehr gelungen. – Aber im Kampf um die treffendste Formulierung wissen wir alle, die wir schreiben: Der Weg zur Perfektion entspricht immer einer Asymptote. Darum erlaube mir ein paar Anmerkungen, die den Text auf dem Weg zur Perfektion vielleicht noch ein wenig voran bringen.

Wie Wattebäuschchen, flauschig anzusehen.
Die Wattebäuschchen finde ich ein wenig abgegriffen. Würde ich ersatzlos weglassen. Dem Leser Raum für seine Vorstellungskraft lassen – schließlich kennt jeder das Bild der herabschwebenden Schneeflocken.

Ich friere nicht und werde Teil dieses Balletts der stummen Tänzer.
Du befindest dich in der Position der Beobachterin, und die Beobachtungen sind sehr bildhaft/eindrucksvoll beschrieben. Warum willst du plötzlich Teil des Balletts werden? Was willst du damit ausdrücken? Könnte es sein, dass du das Bild so zauberhaft fandest, dass du dich davon nicht lösen wolltest/konntest? Ich würde die Beobachtungsposition nicht verlassen.

...als ob sie den Baum wärmen wollen.
Nach "als ob" steht der Konjunktiv: wärmen woll [red]t[/red] en

Der Geschmack von Zuckerwatte liegt auf meiner Zunge.
Vorschlag: [red]Ich spüre den Geschmack von Zuckerwatte.[/red] Warum? 1.)Wenn ich etwas ablecke (im Vor-Satz erwähnt) muss ich die Zunge nicht mehr explizit nennen. Außerdem "liegt auf meiner Zunge" liest sich etwas hölzern. 2.) Dass du plötzlich Zuckerwatte schmeckst, kommt für den Leser unverhofft (was ich aber sehr gut finde). Um ihn quasi auf einen Gedankensprung einzustimmen, nennst du die Zuckerwatte am Satzende. Und leitest auf diese Weise auch besser über zu den Bildern (Erinnerungen), die du im nächsten Satz ansprichst. So verkürzt sich der gedankliche Sprung vom Erlebnis des Geschmacks (der rein logisch nach dem Grund käme) zum Grund dafür.

Ich spüre eine Hand, die über meine langen Haare streichelt.
Um die Doublette mit dem o.g. "spüren" zu vermeiden, mein Vorschlag: [red]Eine Hand streichelt über meine langen Haare.[/red]

Totholz liegt auf dem Erdboden, knorrige Äste ...... Der Waldboden ist übersät von einem Durcheinander....
Mit dem Satz "Einen Schluck Tee trinke ich aus der Thermoskanne. Mit Orange, Nelke und einem Hauch Kardamom. Er dampft wie mein Atem." unterbrichst du ohne Not eine der schönsten Passagen deiner Geschichte.
Vorschlag: Ich würde die beiden Erd-/Waldboden-Passagen zusammennehmen und den Satz dazwischen "Einen Schluck Tee ..." direkt nach "Spuren verlaufen im Weiß." anfügen.

Sie erzählen mir Geschichten von Herbststürmen
Der Satz fällt im Zusammenhang mit der ansonsten viel anschaulicheren Schilderung deiner Beobachtungen stark ab. Ich würde ihn ersatzlos streichen.

In sanften Wellen ruht der Schnee unter den Tannen wie eine Sanddüne in der Wüste
Den Vergleich von Schnee mit einer Sanddüne in der Wüste halte ich für verunglückt, weil die Assoziation zu Wüste immer Hitze ist (wenn sie nicht durch eine Worterweiterung – z.B. Eiswüste – spezifiziert ist) Ich würde den Vergleich einfach weglassen und nach ...Tannen den Punkt setzen. Nicht jedes Bild muss mit einem Vergleich unterstrichen werden. Wenn man eine treffende Formulierung anbietet kann man den Rest der Fantasie des Lesers überlassen bzw. sie damit anregen.

Plötzlich strömen Tränen über...
"strömen" halte ich für etwas übertrieben.
Vorschlag: Plötzlich [red]rinnen[/red] Tränen über mein kaltes Gesicht.

Ich sehe die Mutter vor mir, wie sie in ihrem Bett lag, bewegungslos und völlig ruhig.
Zweierlei: 1. "die Mutter" wirkt m.E. merkwürdig distanziert. Es ist doch die Mutter der Ich-Erzählerin, also würde ich das vertrautere [red]Ich sehe Mutter vor mir[/red]... schreiben. 2. Innerhalb von Haupt- und Nebensatz (nur durch ein Komma getrennt) sollte die Zeitenfolge stimmen. Daher also [red]liegt[/red]. Du kannst dann trotzdem mit dem Präteritum im nächsten Satz fortfahren: "Die Schmerzen hatten aufgehört." Der Leser versteht dann schon, dass du vom unmittelbaren Bild (...wie Mutter daliegt) zur gedanklichen Erinnerung überleitest.

Die Stille quoll in jeden Winkel.
"in" oder besser: "aus"? Oder noch anders? Vorschlag: [red]Die Stille lagerte bedrückend im Raum.[/red]


Ich war so verlassen wie die Schirme und Taschen im Fundbüro, die keiner abholt.
Im Zusammenhang mit dem Tod der Mutter halte ich den Vergleich, insbesondere im sonstigen, hochwertigen Kontext, für unpassend. Da mache ich aber mal keinen Vorschlag ;-)

Nur ein winziges Schrittchen zum Schnittpunkt der Asymptoten im Unendlichen, aber vielleicht ein bemerkbarer Schritt zu einem noch besseren Text. :)

Gruß
Gondoliere
 

Silbenstaub

Mitglied
Lieber Gondoliere,
wow, ich danke dir sehr für deinen Kommentar und die hilfreichen Verbesserungsvorschläge.
Den grammatikalischen und stilistischen Anregungen schließe ich mich weitestgehend an.
Die Wattebäuschchen sind in der Tat etwas abgegriffen. Mit dem Satz: „Ich friere nicht und werde Teil dieses Balletts der stummen Tänzer“, gibt die Ich-Erzählerin ihre beobachtende Position auf, das ist richtig, und das war auch gar nicht so beabsichtigt, werde ich ändern.
„Die Geschichte von den Herbststürmen“, da bin ich mir noch nicht so sicher.
Zum Vergleich des Schnees mit der Sanddüne: Im Winter habe ich auf Waldspaziergängen exakt diese Formationen beobachtet, ich stimme dir aber zu, dass Sanddüne eher mit Hitze assoziiert wird, von daher werde ich darüber auch noch einmal nachdenken. Und ja, die Schirme und Taschen im Fundbüro passen nicht in diesen Text.
Ich lasse das alles ein wenig sacken und werde mir dann den Text noch einmal vornehmen. Und nicht erst im nächsten Winter. ;-)
Viele Grüße
Silbenstaub
 
G

Gelöschtes Mitglied 19691

Gast
In der Ruhe liegt die Kraft!

Gruß Gondoliere
 

Silbenstaub

Mitglied
Tagebucheintrag 08.02.2018

Sanft schweben die Schneeflocken auf den Waldboden. Ein Ballett stummer Tänzer. Wie sie Pirouetten drehen, sich anmutig zum Boden hin bewegen.
Ich sitze in einem Unterstand, eingehüllt in eine dicke warme Decke, den Schal fest um den Hals geschlungen, Mütze, Handschuhe. Ich friere nicht.
Rabenschwarze Baumstämme verharren vor mir. Sie tragen weiß, auf einer Seite nur. Haben sich herausgeputzt. An den kahlen Zweigen erschuf ein Winterkünstler filigrane Kristallfiguren. Kühl und klar und kühn. Ranken schmiegen sich an die Borke, als ob sie den Baum wärmen wollten. Ein Eichhörnchen huscht den Stamm hinauf. Braunrot, ein Farbklecks in der Blässe.
Das Licht ist fahl, die Sonne verbirgt sich. Milchiges Glas. Die Luft ist leer. Nur Frische und Stille um mich herum.
Ich halte den Zeigefinger hinaus in die Schneeflocken und lecke ihn ab und spüre den Geschmack von Zuckerwatte. Bilder werden in mir lebendig vom Schlittenfahren auf dem Schulberg, Lachen und Weinen gleichzeitig, aufgeschlagene Knie und Kinderpflaster. Und es gab Früchtepunsch aus der weißgepunkteten roten Kanne und Würstchen mit Kartoffelsalat. Eine Hand streichelt über meine langen Haare.
Totholz liegt auf dem Erdboden, knorrige Äste mit löchriger Rinde. Sie erzählen mir Geschichten von Herbststürmen. Ich betrachte die abstrakten Muster und bizarren Formen. Eine Galerie in freier Natur.
Der Waldboden ist übersät von einem Durcheinander von vertrockneten Halmen und braunen morschen Blättern, wie achtlos hingeworfen, fast verborgen unter der nassen Decke. Sie haben schwer zu tragen. Das Moos hat seine Farbe verloren und Tannenzapfen ihren Duft. Sie sind mit einer zarten Eiskruste überzogen, wie mit Mehl bestäubt. In sanften Wellen ruht der Schnee unter den Tannen. Spuren verlaufen im Weiß.
Einen Schluck Tee trinke ich aus der Thermoskanne. Mit Orange, Nelke und einem Hauch Kardamom. Er dampft wie mein Atem.
Plötzlich rinnen Tränen über mein kaltes Gesicht, ich wische sie mit der Handschuhhand weg. Ich schlucke, mein Hals wird eng.
Ich sehe die Mutter vor mir, wie sie in ihrem Bett liegt, bewegungslos und völlig ruhig. Die Schmerzen hatten aufgehört. Wenigstens das. Kein Atmen, kein Zucken mit den Augenlidern. Ich hielt auch den Atem an und verharrte steif auf dem Stuhl, bis die Schultern und der Rücken schmerzten. Als ich aufstand, schwankte ich, oder schwankte der Raum? Die Stille quoll in jeden und aus jedem Winkel. Eine Kerze flackerte am gekippten Fenster. Ein kaum spürbarer Windhauch.
Krebs hatte meine Mutter besiegt. Hatte sich ausgedehnt und war in den Bauchraum einmarschiert. Ein übermächtiger Feind auf Eroberungsfeldzug.
Noch einen Tag zuvor hatten wir im ‚Raum der Stille‘ im Hospiz gesessen. Wir sprachen nicht, ließen die Minuten verstreichen. Wir hielten uns an den Händen. Wir hatten keine Zeit mehr, das wussten wir.
Ich war verlassen und alle Puzzleteile meines Lebens, die vorher an ihrem Platz gelegen hatten, fielen auseinander. Wenn ich dieses Zimmer verlasse, so dachte ich, läuft draußen ein Film ab, an dem ich nicht teilhaben werde.

Eine Meise zwitschert, ein Specht klopft, der Wald wacht auf. Der Frühling naht. Ich stehe auf und packe die Decke ein. Es ist Zeit, weiter zu wandern. Der Schnee knirscht unter meinen Stiefeln. Ein Schneeglöckchen streckt seinen Kopf heraus.
 

revilo

Mitglied
Guten Morgen......auch wenn mir persönlich die Sprache und die Naturbeschreibungen mitunter ein wenig zu blumig sind, habe ich den Text sehr gerne gelesen.....er passt bestens zu den schönen Meeresfotos auf Deiner HP.....LG revilo
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo revilo, vielen Dank für deinen Kommentar; sprachlich habe ich nach einer eher reduzierten Phase wieder mehr Fleisch auf das Skelett gepackt, na ja, ist halt Geschmackssache. Als „Fischkopp“ habe ich viele Meeresfotos gemacht, zum Teil auch in schwarz/weiß. LG Silbenstaub
 

Marker

Mitglied
liebe silbenstaub,
schoene, fast meditative winterbilder, die du da erzeugt hast. sehr poetisch.
sollte man nicht schreiben weiterzuwandern, anstatt weiter zu wandern? (ich weiss, eine lappalie ...), da auf dem Verb weiterwandern basierend?
lg, marker
 

Silbenstaub

Mitglied
Tagebucheintrag 08.02.2018

Sanft schweben die Schneeflocken auf den Waldboden. Ein Ballett stummer Tänzer. Wie sie Pirouetten drehen, sich anmutig zum Boden hin bewegen.
Ich sitze in einem Unterstand, eingehüllt in eine dicke warme Decke, den Schal fest um den Hals geschlungen, Mütze, Handschuhe. Ich friere nicht.
Rabenschwarze Baumstämme verharren vor mir. Sie tragen weiß, auf einer Seite nur. Haben sich herausgeputzt. An den kahlen Zweigen erschuf ein Winterkünstler filigrane Kristallfiguren. Kühl und klar und kühn. Ranken schmiegen sich an die Borke, als ob sie den Baum wärmen wollten. Ein Eichhörnchen huscht den Stamm hinauf. Braunrot, ein Farbklecks in der Blässe.
Das Licht ist fahl, die Sonne verbirgt sich. Milchiges Glas. Die Luft ist leer. Nur Frische und Stille um mich herum.
Ich halte den Zeigefinger hinaus in die Schneeflocken und lecke ihn ab und spüre den Geschmack von Zuckerwatte. Bilder werden in mir lebendig vom Schlittenfahren auf dem Schulberg, Lachen und Weinen gleichzeitig, aufgeschlagene Knie und Kinderpflaster. Und es gab Früchtepunsch aus der weißgepunkteten roten Kanne und Würstchen mit Kartoffelsalat. Eine Hand streichelt über meine langen Haare.
Totholz liegt auf dem Erdboden, knorrige Äste mit löchriger Rinde. Sie erzählen mir Geschichten von Herbststürmen. Ich betrachte die abstrakten Muster und bizarren Formen. Eine Galerie in freier Natur.
Der Waldboden ist übersät von einem Durcheinander von vertrockneten Halmen und braunen morschen Blättern, wie achtlos hingeworfen, fast verborgen unter der nassen Decke. Sie haben schwer zu tragen. Das Moos hat seine Farbe verloren und Tannenzapfen ihren Duft. Sie sind mit einer zarten Eiskruste überzogen, wie mit Mehl bestäubt. In sanften Wellen ruht der Schnee unter den Tannen. Spuren verlaufen im Weiß.
Einen Schluck Tee trinke ich aus der Thermoskanne. Mit Orange, Nelke und einem Hauch Kardamom. Er dampft wie mein Atem.
Plötzlich rinnen Tränen über mein kaltes Gesicht, ich wische sie mit der Handschuhhand weg. Ich schlucke, mein Hals wird eng.
Ich sehe die Mutter vor mir, wie sie in ihrem Bett liegt, bewegungslos und völlig ruhig. Die Schmerzen hatten aufgehört. Wenigstens das. Kein Atmen, kein Zucken mit den Augenlidern. Ich hielt auch den Atem an und verharrte steif auf dem Stuhl, bis die Schultern und der Rücken schmerzten. Als ich aufstand, schwankte ich, oder schwankte der Raum? Die Stille quoll in jeden und aus jedem Winkel. Eine Kerze flackerte am gekippten Fenster. Ein kaum spürbarer Windhauch.
Krebs hatte meine Mutter besiegt. Hatte sich ausgedehnt und war in den Bauchraum einmarschiert. Ein übermächtiger Feind auf Eroberungsfeldzug.
Noch einen Tag zuvor hatten wir im ‚Raum der Stille‘ im Hospiz gesessen. Wir sprachen nicht, ließen die Minuten verstreichen. Wir hielten uns an den Händen. Wir hatten keine Zeit mehr, das wussten wir.
Ich war verlassen und alle Puzzleteile meines Lebens, die vorher an ihrem Platz gelegen hatten, fielen auseinander. Wenn ich dieses Zimmer verlasse, so dachte ich, läuft draußen ein Film ab, an dem ich nicht teilhaben werde.

Eine Meise zwitschert, ein Specht klopft, der Wald wacht auf. Der Frühling naht. Ich stehe auf und packe die Decke ein. Es ist Zeit, weiterzuwandern. Der Schnee knirscht unter meinen Stiefeln. Ein Schneeglöckchen streckt seinen Kopf heraus.
 

Silbenstaub

Mitglied
Ja, lieber Marker, du hast völlig recht, ich habe es schon verbessert. Irgendwas ist immer noch....
Danke und lg aus Berlin in die Schweiz
Silbenstaub
 



 
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