unheilbare Wahrheit

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Sautter-Bihl

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Das beruhigende Blubbern der Sauerstoffflasche lässt Anna zurückzuschwimmen in den beschützenden Nebel aus Betäubungsmitteln und Ohnmacht, aber nur kurz, denn das rhythmische Fiepen der Monitore stört ihren Kampf gegen die unerbittliche Rückkehr des Bewusstseins. Die Augen hält sie geschlossen, niemand soll bemerken, dass sie bereits wach ist. Mit verstohlenem Blinzeln nimmt sie den flimmernden Bildschirm wahr, erkennt den Rhythmus ihres Herzschlages in den grün fluoreszierenden Wellen, leider auch ihr verschwommenes Spiegelbild, vielfach verkabelt, die blondierten Locken in fettigen Strähnen und einen durchgebluteten Kopfverband.

Kein Albtraum; Schockwellen des Erinnerns zerreißen den Schleier der Amnesie. Der Unfall, das berstende Blech des Mietwagens, viel Blut und der Notarzt mit der beruhigenden Stimme: “Wir kümmern uns um Sie, alles wird gut.“
Nichts ist gut. Ihre beide Hände werden gehalten, die eine gestreichelt, die andere kaltschweißig umklammert. An ihrem Bett sitzen zehn Jahre Ehe und ein Jahr Leidenschaft. Ein Flashback der Erinnerung katapultiert sie ein Jahrzehnt zurück zur ersten Begegnung mit Karl, auf einem IT-Symposium, kurz nach der Gründung ihrer Softwarefirma. Damals, mit dreiundvierzig Jahren, war die Furcht vor dem Welken der Weiblichkeit noch unterschwellig, aber bereits fühlbar, auch das Single-Sein als Lebenskonzept nicht mehr ganz erfüllend. Sie war zunächst beindruckt von der Brillanz des Systemanalytikers, seinen teils abwegigen, mitunter auch genialen Ideen und später geschmeichelt von der Unbeirrbarkeit, mit der er sie umwarb. Seine Vitalität und unerschöpfliche Potenz überwältigten sie, und als er dann noch darauf bestand, sie zu heiraten, überwand sie alle Bedenken und gab die kostbar gehütete Freiheit auf. Überraschend schnell gewöhnte sie sich an die neue Stabilität und Geborgenheit des Ehelebens. In den ersten Jahren erlag sie der romantischen Illusion, seine Libido bediene sich ihres Körpers auf der Suche nach ihrer Seele. Seine Eifersucht hielt sie für ein Zeichen der Liebe. Mit den Jahren divergierender beruflicher Entwicklung versickerten Seelensuche, Gesprächsthemen und Erotik unmerklich im Alltag. Sie hatten zwar noch regelmäßig Sex, den er jedoch zunehmend in der freundlichen Gedankenlosigkeit absolvierte, mit der er Mahlzeiten konsumierte, ohne sich für die Köchin zu interessieren. Nur seine Eifersucht änderte sich nicht und er protestierte, als sie eine Firmen-Filiale im 700 Kilometern entfernten Trosdorf eröffnete, die ihre regelmäßige Präsenz vor Ort erforderte.

Dort begegnete sie Simon, dem Werbefachmann, nach ersten Eindrücken ein unverbesserlicher Macho, der sie als Aufraggeberin nicht ganz ernst nahm. Nach der Eröffnungsfeier fanden sie sich überraschend als letzte Gäste auf der Dachterrasse. Simon entpuppte sich als sensibler Zuhörer, der so zielsicher Fragen stellte und ihre Antworten kommentierte, dass sie sich beunruhigt, aber mit wohligem Erschauern in ihren innersten Schichten durchleuchtet fühlte. Verwirrend fand sie, wie er beim Sex die Eskalation ihrer Erregung empathisch amüsiert beobachtete, während er sie mit unerbittlicher Geduld zum Schmelzen brachte. Beim ersten Nacktsein entdeckte sie die Narbe unter seinem Rippenbogen, die Folge einer Notoperation wegen Milzruptur nach einer Prügelei. Anlass: eine verheiratete Frau. Spontan beschloss sie, ihm ihre Ehe zu verschweigen und fand im folgenden Jahr und mit zunehmender Verstrickung weder den Zeitpunkt noch den Mut, dies zu korrigieren.

Nun liegt sie mit gespreizten Armen - wie eine Gekreuzigte - zwischen ihren Lebenswelten, die sie mit minutiöser Organisation getrennt und geheim gehalten hat und die nun zerbröseln, da beide an ihrem Bett sitzen. Die fieberhafte Suche nach einem Ausweg wird vom Eintritt der diensthabenden Ärztin unterbrochen.
Dr. Verena Heil hatte im Übergabeprotokoll den Vermerk gefunden, die Patientin sei bei Bewusstsein und stabil, es gäbe jedoch familiäre Probleme; vielleicht einen Vater-Sohn-Konflikt? Als Nachtdienst-Ärztin hatte sie Anna zwei Tage zuvor in der Notaufnahme versorgt, wobei sie zu ihrem Bedauern die Verletzte aus ihrem kaschmir-seidenen Armani-Anzug schneiden musste. Laut Personaldaten war Anna Schmidt eine 53-jährige Unternehmerin, die wie eine Vierzigerin aussah und deren schlanke Gestalt eine durchtrainierte Vitalität und den kontinuierlichen Kampf gegen das Alter ahnen ließ.

Verena tritt ein und erfasst auf den ersten Blick die Bedeutung der Übergabenotiz. Adrenalin wabert über das Bett, durchdringend, wie ein Körpergeruch. Links sitzt der mutmaßliche Vater, ein Mittfünfziger, dessen üppige Grauhaarigkeit sie an Richard Gere erinnert, ebenso seine scharf geschnittenen Züge. Die feinen Knitterfalten um die Augen verleihen ihm den freundlich-ironischen Gesichtsausdruck eines Menschen, der schon viel gesehen und dennoch die Zuversicht bewahrt hat. Er ist von groß gewachsener Gestalt, mit anlehnungsfreundlich breiten Schultern, nur um die Taille deutet sich ein Ansatz von Leibesfülle an, die der Eleganz der Erscheinung jedoch keinen Abbruch tut.
Der gegenüber sitzende Mittdreißiger strahlt aggressive Sprungbereitschaft aus und verblüfft Verena zunächst durch das irritierende Blau seiner Augen, mit denen er sie anklagend anstarrt und deren Eisfarbe sie an einen sibirischen Husky denken lässt. Auch er hat scharf geschnittene Gesichtszüge, sein kantiges Kinn ist vorgereckt, das weiche Leder seiner metallisch-blauen Bomberjacke spannt sich hauteng über dem muskulösen Oberkörper. „Interessante Familienaufstellung“ denkt Verena und tritt ans Bett.
„Guten Morgen, Frau Schmidt, hören Sie mich?“ Als Antwort nur ein zustimmendes Schnauben. „Dürfen Ihre Angehörigen im Zimmer bleiben, während ich den Verband wechsle?“ Heftiges Kopfschütteln, worauf sich die Männer wortlos erheben und den Raum verlassen. Verena nimmt sich vor, ein familientherapeutisches Psycho-Konsil anzuregen. Anna bittet die Ärztin, eine Reha an der Nordsee zu beantragen, obwohl ihr die Idee zuwider ist, mit gebrechlichen Alten Medizinball zu spielen. Immerhin ein Rückzug, der ihr Zeit verschaffen würde, vielleicht zur Entscheidung, vielleicht auch, um sich zu wappnen für die verlernte Freiheit des Single-Lebens, in dem sie sich am Ende wieder zu finden fürchtet.

Nach der Visite findet die Ärztin beide Besucher vor dem Zimmer, sie wendet sich zunächst dem Grauhaarigen zu.
„Angenehm, Frau Doktor, mein Name ist Schmid, Sie können mir ruhig Auskunft geben, ich bin der Lebensgefährte“. Dann reicht sie dem Blauäugigen ihre Hand, die dieser heftig quetscht.
„Verdammt, Frau Doktor, schmeißen Sie den Kerl raus, mein Name ist Karl Schmidt, und ich bin der Ehemann."
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Sautter-Bihl, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Ein Ende mit Augenzwinkern - eigentlich aber eher ernst, denn das zeigt nur, welche Bilder und Erwartungen beim Leser fest im Kopf verankert sind. Die Du dann gelungen aushebelst!


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo Sautter-Bihl,
deine Geschichte hat mir gut gefallen.
Toller Satz: „An ihrem Bett sitzen zehn Jahre Ehe und ein Jahr Leidenschaft.“
„Kleinvieh“:
2. Satz: müsste „zurückschwimmen“ heißen.
3.Absatz, 2.Zeile: „Auftraggeberin“.
Viele Grüße
Silbenstaub
 

G. R. Asool

Mitglied
Hey Sautter-Bihl,

deine Geschichte hat mir wirklich gut gefallen. Am Ende habe ich erst etwas gestutzt bis ich deine Pointe verstanden habe.

Gruß
GR
 



 
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