18 Minuten

3,40 Stern(e) 5 Bewertungen

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Regen klatscht auf den Sarg, der Himmel ist grau und trübe, am Boden vermischt sich der Schneematsch mit dem Schmutz der Schuhe und Stiefel.

Passendes Wetter für eine Beerdigung.

Das Loch ist tief, sehr tief, in das der Sarg verschwindet. Ich weiß das, doch jedes Mal ist wieder schrecklich. Ich blicke auf die Blumen, die die Oberfläche der letzten Behausung verdecken und wende mich zum Gehen.

Im Ohr habe ich noch den Satz "Wir beten besonders für den in unserer Mitte, der als nächster dem Verstorbenen nachfolgen wird." Wer wird es sein? Gut, dass man das niemals weiß.

Mein Blick fällt auf meine Armbanduhr.

18 Minuten sind vergangen, seit die Trauerfeier begonnen hat.

18 Minuten!

Und dann war die Frau beerdigt. 18 Minuten, um ein immerhin 92-jähriges Leben abzuschließen. Das ist ein neuer Rekord. Ich habe schon an vielen Beisetzungen teilgenommen, aber so rasch habe ich noch nie jemanden in der Erde verschwinden sehen.

Warum muss man so schnell Abschied nehmen? Warum bekommt man einen Wortgottesdienst mit vorgefertigten Sprachschablonen über ein Leben, dessen Tragweite sowieso niemand ermessen kann? Warum wird noch nicht einmal ein Lied gesungen? Nur am Beginn und am Ende ertönt etwas Musik von der kleinen Orgel.

Das ist Standard für eine katholische Beerdigung, wenn die Angehörigen keine besonderen Wünsche haben, erfahre ich.

Eine Standard-Beerdigung. Merkwürdiger Ausdruck. Aber wahrscheinlich sehr geläufig unter Bestattungsunternehmern. Ich erinnere mich an ein Gespräch wegen einer Beerdigung im Familienkreis. Der Bestatter sagte: "Mit dem Satz 'Ich möchte eine schöne Beerdigung' kann ich gar nichts anfangen. Ich brauche Fakten!"

Geschäft ist Geschäft. Arbeitslos wird man nie und die Konkurrenz ist groß.

Zurück zu der Frau, die nun ihren letzten Weg hinter sich gebracht hat, um in der kalten Erde zu ruhen. Ob der Standard in ihrem Sinne war?

Man weiß es nicht.

18 Minuten - mehr braucht es nicht. Es kommt mir vor wie eine Farce, eine Banalität, etwas Absurdes. Oder entspricht das dem Leben? Es ist eben banal. Und das Ende ist es auch.
 
U

USch

Gast
Hallo Doc,
ja, so ist die Welt in den Industrieländern, ökonomisch und standardisiert, wie in immer mehr Bereichen des menschlichen Daseins. Wenn man so alt wird und kein Verwandter da ist, der sich kümmert, geht´s diesen Weg.
Klar beschrieben! Ich sehe mal von einer [blue]standardisierten [/blue]Bewertung an dieser Stelle ab.
LG USch
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo USch, es waren durchaus Angehörige da, wie aus dem Text zu entnehmen, aber sie hatten halt keine besonderen Wünsche für die Gestaltung des Abschieds. Da blieb es bei 18 Minuten.
Die Bemerkung mit der Standard-Bewertung verstehe ich jetzt nicht, aber egal, ich freue mich über Deinen Kommentar.
LG Doc
 
Mit großer Befriedigung gelesen, da es an einem entscheidenden Punkt der Existenz die tiefe Fragwürdigkeit der Abläufe offenlegt und dies sprachlich angemessen und leicht nachvollziehbar geschieht.

Dann noch eine fragende Feststellung: Ein Teilnehmer, der nebenbei die Zeit stoppt, gehört in gewisser Weise doch wohl auch zum Gesamtbild? (Es sei denn, er war dort u.a. auch, um für einen Text zu recherchieren.)

In einem Punkt will ich widersprechen. Für banal halte ich das Leben durchaus nicht. Was an solchen Abläufen befremden kann, ist ja gerade das dem Ernst des Lebens und des Todes nicht Angemessene. Die leere Routine hat etwas Würdeloses (das aber bei weitem nicht jeder so empfinden muss). Noch übler sind zum Teil die Gebräuche um die Grabreden. Vielleicht sind Beerdigungen in aller Stille mit nur den Nächststehenden am Ende vorzuziehen.

Arno Abendschön
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Arno, es war Zufall, dass der Blick auf die Armbanduhr fiel. Es war nicht geplant, die Zeit zu stoppen. Aber das war der Anlass zum Text.
Das Leben ist sicher nicht banal, aber nach einer solchen Beerdigung kann einem schon der Gedanke kommen.

LG Doc
 

Karinina

Mitglied
Für Doc Schneider

Hallo Doc Schneider,als mein Sohn sich das Leben genommen hatte, er hatte gerade das Abitur als bester seine Klasse abgelegt, kamen als erstes zwei seiner Schulfreunde und eröffneten mir, dass sie sich einmal in einer bestimmten Situation geschworen hätten, einander zu Grabe zu tragen, falls es erforderlich würde. Da ich sowieso außer mir war, fiel mir das abstruse der Situation gar nicht auf. Aber gemeinsam mit meinem Mann und dem Friedhofsmeister wurde es dann doch so besprochen. Einer der Freunde hielt die Grabrede, Freunde aus seinen 2 Bands,wo er Schlagzeuger war, spielten danach und am Grab und einer der Freunde senkte die Urne ins Grab. Viel später erklärte uns der Friedhofsmeister, dass es für ihn die beeindruckendste Beerdigung überhaupt gewesen sei, vor allem, weil die vielen, vielen jungen Leute so lange er das Grab verfüllte, dabei gesessen hätten und immer wieder Steine, Fotos, Muscheln und anderes, auch Gedichte, ins Grab gelegt hätten. Seine Vorstellung von der Jugend habe sich dadurch grundlegend gewandelt.
Entschuldige, wann ich Dich damit belästigt habe. Es ging mir aber durch den Kopf bei Deinem Text, und ich stimme Dir zu, dass es eigentlich unglaublich ist, wie banal es eben leider auch sein kann und nicht sein sollte.
L.G. von Karin
 

sonah

Mitglied
Hallo Doc,

mir gefällt der Text über die "Standard-Beerdigung" sehr gut. Es ist Dir gelungen, das Thema feinfühlig zu beschreiben und den Leser nachdenklich zu stimmen. Die dargestellte Szene erscheint wie eine Abfertigung und man fragt sich, wollten oder konnten die Angehörigen nicht mehr tun. Ich schätze, oft erscheint der Tod als etwas lästiges oder unangenehmes, das man so schnell wie möglich hinter bringen möchte, genauso wie auch alles, was dazugehört. Es ist schade, denn die Beisetzung ist ja auch eine Chance, den Toten noch zu würdigen und zu trauern.

Herzliche Grüße,

sonah.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
@ Karinina:
Du hast mich nicht belästigt. Es freut mich eher, dass der Text sehr weit über seinen Inhalt hinausgehende Assoziationen weckt!

@Sonah:
Vielen Dank für die positive Einschätzung - das Ende des Lebens ist wie der Anfang oft noch immer ein Tabu und das gilt es vielleicht zu brechen ...

Liebe Grüße, Doc
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Ich oute mich hiermit als extrem unsentimental und frage: Was ist die Alternative? Was ist die Alternative, wenn niemand dem Grabredner sinnvolle Infos gibt, aus der er die Rede basteln kann? Wenn niemand da ist, der sich in der Lage oder berufen fühlt, über Musik zu entscheiden, die dem Verstorbenen angemessen wäre? Niemand, der eben diese Sonder-Wünsche für die Beerdigung äußert? Eine Alternative wäre, die Standard-Zeremonie von Anfang an "größer" anzulegen, aber das würde nichts daran ändern, dass eine Standard-Zeremonie wäre.

Ja natürlich: Man hat - so losgelöst wie Tod heutzutage vom Leben ist – oft den Eindruck, dieser Moment müsste "groß" sein. Ein Tod müsste die Welt erschüttern oder zumindest für eine "angemessene Zeit" aus dem Takt bringen, einfach nur, weil es eben der Tod eines Menschen ist. So ist es aber nicht, der Tod eines Menschen ist nicht an sich erschütternd, es sind immer nur die Umstände und die Wahrnehmenden, die das Maß an Erschütterung der Menschen rundrum (nicht der Welt!) bestimmen.

Ich glaube, das eigentlich Beklemmende an solchen Erfahrungen wie dieser Standard-Beerdigung ist, dass man sehr klar vor Augen geführt bekommt, dass das Ende eines Menschenlebens eben nicht automatisch die Welt erschüttert. Auch das Ende des eigenen Lebens nicht.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich weiß schon, was Du meinst, jon. Jeden Tag sterben zig Menschen, der Tod gehört dazu und ist nichts Besonderes.
Er wird es erst, wenn die eigene kleine Welt davon erschüttert wird. Und das wird sie - niemand kann sich freimachen von Gefühlen, die durch eine Beisetzung enstehen. Drastisch wird einem das eigene Ende vor Augen geführt. Staub bist Du und zum Staub kehrst Du zurück.
Ganz zu schweigen von den Gefühlen des Verlusts, falls der Verstorbene einem nahe stand.

Wie im Text gesagt, hatten die Angehörigen keine besonderen Wünsche und bekamen so eine "Standard"-Beerdigung. Diese ist sicher noch besser als anonymes Verscharren.

Trotzdem stimmt es traurig, wenn jemand so alt wird und erhält nur Sprachschablonen als Nachrede.

Hab versucht, die Banalität des Todes und seine trotzdem besondere Bedeutung für den Einzelnen auszuloten.

Danke fürs Interesse und lg,
Doc
 

APO

Mitglied
Hallo Doc,

ein nachdenklich machender Text, der zeigt, dass das Geschäft mit dem Tod eben auch nur ein Geschäft ist, das teils mit Schablonen und Routine abgehandelt wird. Der Mensch nach dem Tod findet in diesem Rahmen eigentlich nicht mehr statt.
Standard-Beerdigung hätte ich als Titel auch gut gefunden.
Von dem Text nehme ich etwas mit. Danke.

Gruß von APO
 



 
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