Franklyn Francis
Mitglied
Abgestürzt
Ich betrachte das Foto, das mir zufällig in die Hände gefallen ist: Meine damalige Freundin und ich, wie wir an der Spitze eines Motorsportbootes sitzen, wie wir uns an der Reling halten und dem Fahrtwind trotzen. Die Sonne blendete und stach; verdrängtes Wasser peitschte uns gegen die Füße. Wehmütig denke ich zurück.
Tausend Autobahn-Kilometer hatten wir hinter uns gebracht, als wir bei Rijeka die Landstraße nahmen und auf die Küste zufuhren. Steile Felsen wuchsen dreißig oder vierzig Meter aus der glasklaren blauen Adria. Hier machte die Straße zwei 180-Grad-Knicke um das Wasser herum, manchmal keine zwei Schritte vom Abhang entfernt.
Jetzt lagen noch zweihundert Kilometer vor uns und jede Menge Fahrzeuge und Gespanne, die die schmale Straße entlang schlichen. Es gab Begrenzungssteine, selten Leitplanken.
Meine Freundin und ich hatten in der Nacht zuvor eingekuschelt zwischen Kissen und Decken geschlafen, während ihre Mutter als wachsame Beifahrerin die ganze Fahrt über ihren Mann am Steuer mit Kaffee und allerlei Lutschbonbons versorgt hatte. Unentwegt schimpfte sie, dass wir zu wenig Pausen machten.
„Letztes Jahr sind hier Deutsche abgestürzt“, sagte er mit müden Augen und deutete auf die gegenüberliegende Seite. „Wir haben gesehen, wie sie mit ihrem Auto samt Wohnwagen die Klippen runter sind. Das Auto war voll besetzt.“ Dann sagte er: „Schaut mal hin! Ab und zu verirren sich hier Delfine.“ Er sah nach unten und mir kam es vor, als folgte das Auto samt Trailer seinem Blick, als käme der Abgrund immer näher.
„Pass auf!“, sagte seine Frau, die gerne selbst gefahren wäre. Ihr Mann hatte als Einziger einen Führerschein.
Später erfuhr ich, dass es auch eine andere Route gab, die wir hätten nehmen können, über die Autobahn. Er nahm diesen Umweg nur wegen der schönen Aussicht.
Es war mittags, als wir nach insgesamt achtzehn Stunden unser Ziel erreichten. Am kleinen Hafen wurden wir herzlich von einem drahtigen Mann in Empfang genommen. Er war Novi Vinodolskis Hafenmeister und sprach ein lustiges Deutsch. Die beiden Männer hievten das Motorboot, eine fünf oder sechs Meter lange Reinell, mit dem Kran ins Wasser, und ich filmte alles mit meiner Videocam. Vater zahlte dem Hafenmeister fünfzehn D-Mark Gebühr und gab ihm dreißig weitere D-Mark sowie ein Passfoto von mir.
Vor uns lagen vier Wochen Bootstour über glasklares Wasser und ankern in von der Sonne geküssten, einsamen Buchten. Meine Freundin und ich saßen während der Bootstouren vorne an der Reling, ab und an durfte ich das Boot steuern. Zweimal sahen wir Delfine. Ihre Mutter bereite in der Kajüte Snacks vor, manchmal legten wir in Krk oder Rab oder an kleinen Häfen am Festland an und aßen Fisch. Bier floss tagsüber nur in kleinen Mengen. An den Abenden in Gesellschaft mit anderen Urlaubern oder der Hafenmeisterfamilie umso mehr. Neben Kruskovac und Julischka. Eines Morgens drückte mir der Hafenmeister meinen Boots-Führerschein in die Hand, international gültig für Küstengewässer, den man ab 16 Jahren machen darf.
Die meiste Zeit verbrachten wir mit Planschen und Schwimmen und Schnorcheln an einsamen Abschnitten, die vom Festland aus nicht erreichbar waren, oft nackt. Nachdem ich beim Wasserskifahren auf meine Weichteile gestürzt war, wollte ich Monoski gar nicht erst ausprobieren.
Eines Tages schipperten wir über einen kniehohen, warmen Wasserstand, so groß wie ein Fußballfeld und badeten dort im Schlamm. Dabei verlor ich meine goldene Kette, die wir trotz Schnorcheln im weichen, trüben Wasser nicht mehr wiederfanden. Schade um die Kette, die mir meine Freundin im Frühjahr zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte.
Ein andermal besuchten wir die Plitvicer Seen im Landesinneren. Eine Augenweide. In dem Nationalpark wurde früher Der Schatz im Silbersee gedreht.
Ich hatte nur drei Wochen Urlaub bekommen. In der dritten Woche nahm mich Vater – so wollte er von mir genannt werden – mit zu einer Arztpraxis. Zwei Pfund Jacobs Krönung wurden gegen eine Krankschreibung inklusive Reiseunfähigkeitsbescheinigung getauscht. Angeschaut hatte der Arzt mich nicht. Am nächsten Morgen rief ich bei meiner Ausbildungsstelle an und schickte die Papiere per Fax hinterher. Der Chef war sauer, meine Eltern eingeweiht – und ebenfalls sauer. Ich wollte nach meinem Abschluss im nächsten Jahr nicht dortbleiben. Nicht bei meinem Arbeitgeber, nicht bei meinen Eltern.
Noch drei weitere Male verbrachten wir mit ihren Eltern unseren Urlaub in Novi Vinodolski.
Beim zweiten Mal wurden wir zusammen mit vielen anderen Deutschen vom ADAC vorzeitig in einer Kolonne außer Landes begleitet.
Beim dritten Mal war ein Teil des Nationalparks zerstört. Im Landesinneren fuhren wir an verlassenen Häusern vorbei, die Einschusslöcher hatten.
Beim vierten Mal saßen wir zwei Männer abends gemeinsam mit einer freundlichen Horde fußballfanatischer Kroaten im Wohnzimmer des Hafenmeisters. WM-Viertelfinale Deutschland gegen Kroatien. Vater war zu siegessicher, fast schon überheblich. Je länger das Spiel lief, desto mehr schrumpften wir beide in unseren Sesseln. Das kroatische Pivo schmeckte uns danach auch nicht mehr.
Die selbst gedrehten Video 8-Filme liegen heute in einer Schublade. Ich habe keine Möglichkeit mehr, sie abzuspielen. Den Bootsführerschein habe ich danach nie wieder gebraucht, ich konnte auch keinen einzigen der Seemannsknoten, die man eigentlich für so eine Prüfung beherrschen sollte. Als ich letztes Jahr ein neues Portemonnaie bekam, passte der Führerschein nicht mehr rein.
Wieder betrachte ich das Foto und denke an unsere schöne Zeit zurück, an die abgestürzten Urlauber, an das abgestürzte Urlaubsparadies.
Ich betrachte das Foto, das mir zufällig in die Hände gefallen ist: Meine damalige Freundin und ich, wie wir an der Spitze eines Motorsportbootes sitzen, wie wir uns an der Reling halten und dem Fahrtwind trotzen. Die Sonne blendete und stach; verdrängtes Wasser peitschte uns gegen die Füße. Wehmütig denke ich zurück.
Tausend Autobahn-Kilometer hatten wir hinter uns gebracht, als wir bei Rijeka die Landstraße nahmen und auf die Küste zufuhren. Steile Felsen wuchsen dreißig oder vierzig Meter aus der glasklaren blauen Adria. Hier machte die Straße zwei 180-Grad-Knicke um das Wasser herum, manchmal keine zwei Schritte vom Abhang entfernt.
Jetzt lagen noch zweihundert Kilometer vor uns und jede Menge Fahrzeuge und Gespanne, die die schmale Straße entlang schlichen. Es gab Begrenzungssteine, selten Leitplanken.
Meine Freundin und ich hatten in der Nacht zuvor eingekuschelt zwischen Kissen und Decken geschlafen, während ihre Mutter als wachsame Beifahrerin die ganze Fahrt über ihren Mann am Steuer mit Kaffee und allerlei Lutschbonbons versorgt hatte. Unentwegt schimpfte sie, dass wir zu wenig Pausen machten.
„Letztes Jahr sind hier Deutsche abgestürzt“, sagte er mit müden Augen und deutete auf die gegenüberliegende Seite. „Wir haben gesehen, wie sie mit ihrem Auto samt Wohnwagen die Klippen runter sind. Das Auto war voll besetzt.“ Dann sagte er: „Schaut mal hin! Ab und zu verirren sich hier Delfine.“ Er sah nach unten und mir kam es vor, als folgte das Auto samt Trailer seinem Blick, als käme der Abgrund immer näher.
„Pass auf!“, sagte seine Frau, die gerne selbst gefahren wäre. Ihr Mann hatte als Einziger einen Führerschein.
Später erfuhr ich, dass es auch eine andere Route gab, die wir hätten nehmen können, über die Autobahn. Er nahm diesen Umweg nur wegen der schönen Aussicht.
Es war mittags, als wir nach insgesamt achtzehn Stunden unser Ziel erreichten. Am kleinen Hafen wurden wir herzlich von einem drahtigen Mann in Empfang genommen. Er war Novi Vinodolskis Hafenmeister und sprach ein lustiges Deutsch. Die beiden Männer hievten das Motorboot, eine fünf oder sechs Meter lange Reinell, mit dem Kran ins Wasser, und ich filmte alles mit meiner Videocam. Vater zahlte dem Hafenmeister fünfzehn D-Mark Gebühr und gab ihm dreißig weitere D-Mark sowie ein Passfoto von mir.
Vor uns lagen vier Wochen Bootstour über glasklares Wasser und ankern in von der Sonne geküssten, einsamen Buchten. Meine Freundin und ich saßen während der Bootstouren vorne an der Reling, ab und an durfte ich das Boot steuern. Zweimal sahen wir Delfine. Ihre Mutter bereite in der Kajüte Snacks vor, manchmal legten wir in Krk oder Rab oder an kleinen Häfen am Festland an und aßen Fisch. Bier floss tagsüber nur in kleinen Mengen. An den Abenden in Gesellschaft mit anderen Urlaubern oder der Hafenmeisterfamilie umso mehr. Neben Kruskovac und Julischka. Eines Morgens drückte mir der Hafenmeister meinen Boots-Führerschein in die Hand, international gültig für Küstengewässer, den man ab 16 Jahren machen darf.
Die meiste Zeit verbrachten wir mit Planschen und Schwimmen und Schnorcheln an einsamen Abschnitten, die vom Festland aus nicht erreichbar waren, oft nackt. Nachdem ich beim Wasserskifahren auf meine Weichteile gestürzt war, wollte ich Monoski gar nicht erst ausprobieren.
Eines Tages schipperten wir über einen kniehohen, warmen Wasserstand, so groß wie ein Fußballfeld und badeten dort im Schlamm. Dabei verlor ich meine goldene Kette, die wir trotz Schnorcheln im weichen, trüben Wasser nicht mehr wiederfanden. Schade um die Kette, die mir meine Freundin im Frühjahr zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte.
Ein andermal besuchten wir die Plitvicer Seen im Landesinneren. Eine Augenweide. In dem Nationalpark wurde früher Der Schatz im Silbersee gedreht.
Ich hatte nur drei Wochen Urlaub bekommen. In der dritten Woche nahm mich Vater – so wollte er von mir genannt werden – mit zu einer Arztpraxis. Zwei Pfund Jacobs Krönung wurden gegen eine Krankschreibung inklusive Reiseunfähigkeitsbescheinigung getauscht. Angeschaut hatte der Arzt mich nicht. Am nächsten Morgen rief ich bei meiner Ausbildungsstelle an und schickte die Papiere per Fax hinterher. Der Chef war sauer, meine Eltern eingeweiht – und ebenfalls sauer. Ich wollte nach meinem Abschluss im nächsten Jahr nicht dortbleiben. Nicht bei meinem Arbeitgeber, nicht bei meinen Eltern.
Noch drei weitere Male verbrachten wir mit ihren Eltern unseren Urlaub in Novi Vinodolski.
Beim zweiten Mal wurden wir zusammen mit vielen anderen Deutschen vom ADAC vorzeitig in einer Kolonne außer Landes begleitet.
Beim dritten Mal war ein Teil des Nationalparks zerstört. Im Landesinneren fuhren wir an verlassenen Häusern vorbei, die Einschusslöcher hatten.
Beim vierten Mal saßen wir zwei Männer abends gemeinsam mit einer freundlichen Horde fußballfanatischer Kroaten im Wohnzimmer des Hafenmeisters. WM-Viertelfinale Deutschland gegen Kroatien. Vater war zu siegessicher, fast schon überheblich. Je länger das Spiel lief, desto mehr schrumpften wir beide in unseren Sesseln. Das kroatische Pivo schmeckte uns danach auch nicht mehr.
Die selbst gedrehten Video 8-Filme liegen heute in einer Schublade. Ich habe keine Möglichkeit mehr, sie abzuspielen. Den Bootsführerschein habe ich danach nie wieder gebraucht, ich konnte auch keinen einzigen der Seemannsknoten, die man eigentlich für so eine Prüfung beherrschen sollte. Als ich letztes Jahr ein neues Portemonnaie bekam, passte der Führerschein nicht mehr rein.
Wieder betrachte ich das Foto und denke an unsere schöne Zeit zurück, an die abgestürzten Urlauber, an das abgestürzte Urlaubsparadies.
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