Abschied vom Westsee

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Maridagni

Mitglied
I.

Hanna sah zum letzten Mal durch die große geöffnete Glasfront auf den See. Der Morgen war mild. Die Wasseroberfläche lag ruhig vor ihr. Fast zwei Jahre hatte sie hier gelebt, in dem eleganten Haus am Westsee, zwei äußerst bedeutsame Jahre ihres Lebens. Ihr wurde unwohl bei dem Gedanken, dass sie das bald alles aufgeben würde. Aber sie war bisher nie lange an einem Ort geblieben. Es hatte sie nach kurzer Zeit immer weiter getrieben. Zwei Jahre waren vergleichsweise viel. Die Koffer waren gepackt, bald würde ein Taxi sie abholen und zum Flughafen bringen. Sie schloss die Augen und spürte eine leise Brise, die plötzlich vom See herauf stieg. Die Einheimischen nannten den See auch den Nebelsee, weil er oft in so tiefen Nebelschwaden dalag, dass Wasser und Horizont in einem waschküchen ähnlichem gesättigtem Grau ineinander übergingen. Doch heute war die Luft klar, der Himmel blau, es würde ein schöner, sonniger Tag werden. Ihr letzter Tag, nein, ihr letzter Morgen an „ihrem See“. Um zwölf ging ihr Flieger. Kurz darauf würde ihre Kollegin hier einziehen. Als sie das Studio vor zwei Jahren gemietet hatte, war es eigentlich viel zu teuer für sie gewesen. Aber sie hatte sich auf Anhieb in diese Wohnung verliebt. Es war im Prinzip nur ein sehr großes, geräumiges Zimmer, in dessen vorderen Bereich eine riesige dreiseitige Glasfront direkt auf den See ging. Vom Schreibtisch aus, sah man sich ausschließlich von Wasser umgeben, wie auf einem Schiff. Tagsüber war der Raum von Licht durchströmt, nachts sah sie von ihrem Bett aus die Reflexe der Laternen und der beleuchteten Gebäude am gegenüberliegenden Ufer auf der Oberfläche des Wassers schimmern. Bis irgendwann in der Nacht die Lichter ausgingen und die Natur sich in tiefes Schwarz hüllte. Sie schloss erneut die Augen und sah das alles noch mal vor sich. Ob sie das je wiedersehen würde? Dass die Kollegin in ihre Wohnung einziehen würde, tröstete sie. Von ihr könnte sie vielleicht irgendwann den Job und auch die Wohnung wieder übernehmen . Es machte ihr den Abschied ein wenig leichter, zu wissen, es musste kein Abschied sein für immer. Es gab einen Weg zurück.
Das Hupen des Taxis riss sie aus ihren Gedanken. Sie schloss die Balkontür und warf einen letzten Blick durch die Wohnung und auf den See. Selten war ihr ein Abschied so schwer gefallen. Wenn sie die Tür hinter sich schließen würde, dann schloss sich auch ein Abschnitt ihres Leben hinter sich. Was dann kommen würde war ungewiss. Aber sie hatte es so gewollt, es war ihre Entscheidung gewesen. Die Zeit war reif zu gehen und etwas Neues zu beginnen, das wusste sie. Nur wohin sie gehen würde und welche Form das Neue annehmen würde, das wusste sie nicht. Aber das war ja meistens so gewesen. Sie war eine Meisterin des Aufbruchs und des Ankommens und auch diesmal würde sich irgendetwas ergeben. Das Leben würde weiter gehen. Die Frage war nur, wie lange sie noch die Kraft haben würde, sich immer wieder neu zu erfinden. Vielleicht war es an der Zeit, ein stabileres, sesshafteres Leben zu beginnen.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo Maridagni, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Franka

Redakteur in diesem Forum
 
Willkommen, Maridagni. Ich finde deinen Text durchaus ansprechend. Er gibt eine konkrete Situation und die ihr zugrunde liegende Struktur einer Person, die immer wieder neu anfängt, exakt und mit genügend Atmosphäre angereichert gut wieder. Sowohl die Situation als auch die sich am Ende erhebende Frage "Wie lange noch?" sind mir nur zu vertraut.

Überzeugend auch die sprachlich-stilistische Sorgfalt. Nur ein kleiner Einwand: Der Ausdruck "sich selbst neu erfinden" ist inzwischen inflationär weit verbreitet. Dabei entspricht er im Kern, nicht nur hier, nicht einmal den wirklichen Abläufen von Biografien. Kein Mensch erfindet sich selbst und schon gar neu. Diese Phrase ist Ausdruck eines Zeitgeistes, in dem das Individuum sich als Produkt zu verstehen hat, das marktfähig ist und vor allem Erfolg haben muß. So krempelt man vielleicht die Automobilindustrie um ... Aber vielleicht verwendest du den Ausdruck hier ja gerade, um die Person und ihr Bewusstsein kritisch zu beleuchten?

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 



 
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