ADHS

Coccinelle

Mitglied
Immer wieder musste ich auf die Skala blicken. Ich konnte kaum fassen, dass die Zahlen sich so sehr verändert hatten. Warum haben wir nur so lange gewartet? Es hätte sich alles schon viel früher ändern können.
Mir war warm. Ich durchlebte mehrere emotionale Vulkanausbrüche hintereinander und wusste nicht, ob ich Lachen oder Weinen sollte. Ich hasste meine Gefühlsduselei. Und ich hasste es, so nah am Wasser gebaut zu sein. Obwohl mein Mann immer wieder der Meinung ist, es wäre nicht schlimm Gefühle zu zeigen. Doch für mich kamen sie immer im falschen Moment.
Ich nutzte meine langen Haare um mein Gesicht zu verdecken, in der Hoffnung Niemand würde merken, was in mir vorging. Ich wollte mir diese Blösse nicht geben und meiner Tochter wollte ich diese Peinlichkeit einfach nur ersparen. Also schluckte ich all die Tropfen, die sich den langen Weg in den Tränenkanal machten, wieder runter.
Ich beobachtete meine Tochter und bewunderte ihre Gelassenheit. Ihre Ruhe und Freundlichkeit, mit der sie dasass und der Stimme des Schulsozialleiters lauschte. Wie war ich froh, dass sie nicht solch eine Heulsirene war wie ihre Mutter. Sie sollte niemals so sein. Dies war eine Eigenschaft, die ich ihr keinesfalls weitergeben wollte.
Stolz überfuhr mich, wie eine ungebremste Dampfwalze. Es kribbelte in mir und ich spürte wie meine Mundwinkel sich sanft nach oben neigten. Zeitgleich schossen mir all die Erinnerungen durch den Kopf, die uns hier in dieses Sitzungszimmer haben kommen lassen. Wie tief unsere Tochter fallen musste, um in dieser Schule aufgenommen zu werden. Dass wir überhaupt Kenntnis davon bekamen, dass es solche Einrichtungen gibt. Dies vermochte uns eher der Zufall vermitteln, als irgendeine staatliche Schule. Diese hätten Jil lieber mit den spärlichen Hilfsmittel, die ihnen zur Verfügung standen, durch den Schulalltag quälend mitgeschleift.
Das Kribbeln in mir wurde stärker. Noch mehr Stolz erfüllte mein Innerstes. Ich konnte nicht nur eine emotionale Heulsuse sein, nein ich konnte diese Gefühle auch in die andere Richtung steuern. In eine Richtung die eine ältere Dame, dessen Kleidung sich unermüdlich versuchte ihrer zerzausten Frisur anzupassen um in Einklang zu glänzen, zu spüren bekam.

„Hören Sie Mrs. Johnson, Jil ist ein tolles Mädchen. Und ja, sie weist enorme Defizite in diversen Bereichen auf. Dennoch bin ich der Meinung, dass das Schulheim St.Johnes die falsche Einrichtung für ihre Tochter ist. Dort sind nur die ganz extremen Fälle untergebracht. Solche die in den Regelklassen nicht tragbar sind.“ Selbstherrlich glotzte mich dieser Naturhippie, mit grossen dunklen Kulleraugen an - die, wenn sie denn gekonnt hätten, mich bereitwillig angesprungen hätten und ich wusste, wenn ich jetzt nicht reagiere – geht mein Kind unter.
Ich setzte meine Arme auf den Tisch, rückte etwas näher heran und holte Luft.
„Ich habe mit dem Director des St.Johnes telefoniert und ihm unsere Situation geschildert. Er meinte nur, dass Kinder mit Suizidgedanken sehr wohl unter die Kategorie „Extremfall“ gehören und unsere Tochter somit sehr gut dort aufgehoben wäre. Und auch wenn Sie dagegen sind und Sie behaupten es gäbe eh keinen Platz mehr, und die Anmeldefrist wäre längst vorbei, möchten wir unsere Tochter dort anmelden. Also tun Sie uns allen den Gefallen und befürworten diese Entscheidung mit Ihrer Unterschrift.“
Mrs. Carson wich zurück. Ihre Kulleraugen verschwanden still und heimlich in den fleischigen Höhlen und ihr Gesichtsausdruck normalisierte sich.

Ich spürte den Drang nach Erklärungen. Meine Stimme wurde bestimmt und eine Stufe lauter.
„Es ist grausam mit anzusehen, dass das eigene Kind keinen Lebensmut mehr hat und keine Perspektiven erkennt, stattdessen nur noch sterben möchte. Dass die tröstenden Worte einer Mutter nur noch an der zarten Schale dieses zerbrechlichen Geschöpfes abprallen und die Sehnsucht nach dem Tod stärker wird und alles andere unter sich begräbt. Mitunter ein Grund warum wir das Schulheim St.Johnes wählten war auch, dass Jil medikamentenfrei sein könnte und nicht nur zur Ruhigstellung Tabletten, welche ihr übrigens extrem den Appetit hemmen, in sich stopfen muss, damit die Lehrerschaft der Regelschule mit ihrem Verhalten nicht überfordert ist. Es geht hier nicht um Jil’s Konzentration. Diese ist auch mit der Medikation leider nicht gegeben. Dennoch soll sie täglich ihre Dosis einnehmen und weiterhin abnehmen, weil sie keinerlei Hunger fühlt? Jeden Tag den Kampf um einen Bissen Essen haben, nur damit die Regelschule zufrieden mit ihr arbeiten kann?
Ich wünsche mir doch nur, dass mein Kind mit ein bisschen Freude zur Schule gehen kann, sich medikamentenfrei darin bewegen darf und sie so angenommen wird wie sie ist. Dass sie Freunde ihresgleichen findet und sie lernen kann, dass es noch ganz viele andere Kinder mit ADHS gibt.
Dass sie nicht alleine mit dieser Angst vor Zurückweisung ist. Und sie nicht das einzige Kind auf Erden ist, die anders ist als alle anderen. Können Sie das verstehen, Mrs. Carson?“

Ja das Gespräch damals hatte den ersten Stein ins Rollen gebracht.
Es fühlte sich gut an, dieses Kribbeln in meinem Innersten. Ich war noch immer voller Stolz und lauschte nun auch der Stimme des Schulsozialleiters.
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo Coccinelle, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von Franka

Redakteur in diesem Forum
 



 
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