Hallo seefeldmaren,
letztens hatten wir ja über die Theorie des Anthropozäns gesprochen, also der Proklamation eines Erdzeitalters, in dem die Sphären von Mensch und Natur nicht mehr zu trennen sind. Im vorliegenden Gedicht verknüpfen sich nun auch zwei Bereiche unauflösbar miteinander: Die reale und die virtuelle Welt. Schauen wir uns das mal genauer an:
Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht wie eine Alltagsbeschreibung, es hat zum Teil einen eher oberflächlichen, beschreibenden Stil, banal anmutende Verse wie
danach seh ich menschen im supermarkt
oder
an der kasse lacht die kassiererin
strukturieren das Gedicht. Doch solche Sequenzen sind, wenn man sich das Gedicht genauer anschaut, keineswegs nur Oberfläche, sondern sie sind gerade in ihrer Einfachheit notwendig, um die Metaebene des Textes zu verstehen. Denn sie sind sozusagen die
Grafik, hinter der absichtlich Inhalt fehlt. Es erinnert dadurch auch an Filme wie
Truman Show oder
Simulacron. In diesem Sinne lese ich hier eine Gegenwartskritik, das Gedicht stellt die Frage nach dem Leben im kapitalistisch-digitalen Zeitalter und beantwortet sie eindeutig:
sagt brudi: man müsse sich entscheiden,
aber wofür,
wenn jede richtung
bloß eine andere form von warten ist.
Dies ist die entscheidende Passage im Gedicht. Hatten früher Lebensentwürfe noch ein klares Telos (z.B. der Erlösungsglauben der christlichen Weltanschauung), kann die Jetztzeit damit nicht aufwarten. Wir leben im
Gegenwartsschock (Rushkoff), das Leben wird zunehmend weniger als Prozess gedacht, eher als Abfolge von Ereignissen, die auch keiner Kohärenz bedürfen. Egal, wohin man geht, man kommt immer an, weil es kein Ziel mehr gibt.
Die einzige sinnvolle Möglichkeit der Lebensgestaltung bleibt der Konsum. Das Gedicht macht aber auch dessen Wirkung auf die Lebendigkeit der Menschen deutlich:
danach seh ich menschen im supermarkt
mit gesenkten köpfen,
verwelkt wie sonneblumen vor den kühlregalen,
Die
Menschen kommen gar nicht zur Lebendigkeit, vielleicht senken sie auch den Kopf, weil sie in Permanenz auf ihr Smartphone blicken müssen. Die
Sonnenblumen (btw. hast du hier ein "n" vergessen) bekommen künstliches Licht ab, welches sie nicht wachsen lässt.
Das Gedicht bietet noch deutlich mehr Ansätze zur Interpretation und zur weiteren Analyse, aber ich will es für heute erstmal gut sein lassen und verbleibe mit einem: gern gelesen! In meinen Augen ein sehr intellektuelles Gedicht, welches zur tieferen Betrachtung einlädt.
Viele Grüße
Frodomir