alles bleibt kurz

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seefeldmaren

Mitglied
ich wach auf und denk,
vielleicht ist das hier gar kein morgen.
die sonne hängt wie ein ladebalken
über den häusern,
alles wartet auf ein update,
auch die vögel,
auch ich. beim frühstück
sagt brudi: man müsse sich entscheiden,
aber wofür,
wenn jede richtung
bloß eine andere form von warten ist.
danach seh ich menschen im supermarkt
mit gesenkten köpfen,
verwelkt wie sonneblumen vor den kühlregalen,
die den fettrand ihrer sehnsucht mustern.
an der kasse lacht die kassiererin,
du lellek,
so hell,
dass für einen moment
alles ruckelt.
ich denk:
vielleicht war das glück,
oder bloß ein fehler in der wiedergabe.
 

Tula

Mitglied
Hallo Maren
irgendwie auch ein Herbstgedicht ;)

sehr treffend jedenfalls:
wenn jede richtung
bloß eine andere form von warten ist


LG Tula
 

seefeldmaren

Mitglied
Lieber Tula!

Danke für Deinen Kommentar!

Wenn jede Form bloß eine andere Richtung von Warten ist. Hehe

Und ja, etwas herbstet es! Wohl wahr. :)

Dir eine schöne Restwoche, Tula. Und danke für die Sterne.
Heute kurz angebunden, aber zu Wort melden wollte ich mich.

Maren
 

Frodomir

Mitglied
Hallo seefeldmaren,

letztens hatten wir ja über die Theorie des Anthropozäns gesprochen, also der Proklamation eines Erdzeitalters, in dem die Sphären von Mensch und Natur nicht mehr zu trennen sind. Im vorliegenden Gedicht verknüpfen sich nun auch zwei Bereiche unauflösbar miteinander: Die reale und die virtuelle Welt. Schauen wir uns das mal genauer an:

Auf den ersten Blick wirkt das Gedicht wie eine Alltagsbeschreibung, es hat zum Teil einen eher oberflächlichen, beschreibenden Stil, banal anmutende Verse wie

ich wach auf und denk
danach seh ich menschen im supermarkt
oder

an der kasse lacht die kassiererin
strukturieren das Gedicht. Doch solche Sequenzen sind, wenn man sich das Gedicht genauer anschaut, keineswegs nur Oberfläche, sondern sie sind gerade in ihrer Einfachheit notwendig, um die Metaebene des Textes zu verstehen. Denn sie sind sozusagen die Grafik, hinter der absichtlich Inhalt fehlt. Es erinnert dadurch auch an Filme wie Truman Show oder Simulacron. In diesem Sinne lese ich hier eine Gegenwartskritik, das Gedicht stellt die Frage nach dem Leben im kapitalistisch-digitalen Zeitalter und beantwortet sie eindeutig:
sagt brudi: man müsse sich entscheiden,
aber wofür,
wenn jede richtung
bloß eine andere form von warten ist.
Dies ist die entscheidende Passage im Gedicht. Hatten früher Lebensentwürfe noch ein klares Telos (z.B. der Erlösungsglauben der christlichen Weltanschauung), kann die Jetztzeit damit nicht aufwarten. Wir leben im Gegenwartsschock (Rushkoff), das Leben wird zunehmend weniger als Prozess gedacht, eher als Abfolge von Ereignissen, die auch keiner Kohärenz bedürfen. Egal, wohin man geht, man kommt immer an, weil es kein Ziel mehr gibt.

Die einzige sinnvolle Möglichkeit der Lebensgestaltung bleibt der Konsum. Das Gedicht macht aber auch dessen Wirkung auf die Lebendigkeit der Menschen deutlich:

danach seh ich menschen im supermarkt
mit gesenkten köpfen,
verwelkt wie sonneblumen vor den kühlregalen,
Die Menschen kommen gar nicht zur Lebendigkeit, vielleicht senken sie auch den Kopf, weil sie in Permanenz auf ihr Smartphone blicken müssen. Die Sonnenblumen (btw. hast du hier ein "n" vergessen) bekommen künstliches Licht ab, welches sie nicht wachsen lässt.

Das Gedicht bietet noch deutlich mehr Ansätze zur Interpretation und zur weiteren Analyse, aber ich will es für heute erstmal gut sein lassen und verbleibe mit einem: gern gelesen! In meinen Augen ein sehr intellektuelles Gedicht, welches zur tieferen Betrachtung einlädt.

Viele Grüße
Frodomir
 

seefeldmaren

Mitglied
Hey Frodomir,

erstmal danke für deinen wirklich durchdachten Kommentar! Ich merke, dass du dir die Passage richtig vorgenommen hast. Und ja, du hast den Kern ziemlich gut getroffen: Die scheinbar banalen Alltagsfetzen sind bewusst so gesetzt, damit genau dieses „Grafik-ohne-Inhalt“-Gefühl entsteht, dieses Leerlaufen des Alltäglichen. Wenn die Welt zunehmend aus Oberflächen besteht, muss die Sprache das irgendwo spiegeln.

Deine Verbindung zu Truman Show und Simulacron fand ich spot-on. Mir gings beim Schreiben tatsächlich um dieses Gefühl, dass man permanent durch irgendwas durchschaut, aber trotzdem drin feststeckt. Und ja, Kapitalismus + Gegenwartsschock trifft die Stoßrichtung ziemlich gut. Dieses „man muss sich entscheiden, aber wofür?“ ist genau diese seltsame Mischung aus Freiheit und völliger Zielverlustigkeit, die du beschreibst.
Der Punkt mit der „künstlichen Sonnenblume“ bzw. dem künstlichen Licht gefällt mir extrem, weil es die Szene im Supermarkt fast noch härter macht. Die Leute, die da im Neonlicht hängen, halb lebendig, halb automatisiert... das war schon eine Intention, aber du hast das Bild noch sauber weitergedreht.
Freut mich ehrlich, dass du das Gedicht nicht nur als alltägliche Momentaufnahme liest, sondern als Einladung zum tieferen Blick. Genau so wars gemeint: schlicht geschrieben, offen für alles!

Ein zusätzliches Danke für deine Kommentiermühe - gefällt mir! Und weiß ich zu schätzen.

Maren

Danke außerdem an alle Sternenspender: @Hundsstern @fee_reloaded @Ubertas @petrasmiles @lietzensee und @klausKuckuck
 

Frodomir

Mitglied
Hallo Maren,

vielen Dank für deine freundlichen Worte. Es macht mir viel Freude, mich mit Texten zu beschäftigen, welche gebildet und poetisch gleichermaßen sind. Das ist bei dir der Fall.

Viele Grüße
Frodomir
 

seefeldmaren

Mitglied
Liebe Maren, dazwischen ist es. Danke für dein Gedicht. Vielleicht war das oder bloß?
Wonderful.
ubertühü
Manchmal auch im Dazwischendazwischen! :D
Liebe Ubertas, ich danke Dir! :))
Heute habe ich Kraftpost für Dich! Und schwupps, ging diese mit Express Richtung ubertasianische Gefilde!

Hallo Maren,

vielen Dank für deine freundlichen Worte. Es macht mir viel Freude, mich mit Texten zu beschäftigen, welche gebildet und poetisch gleichermaßen sind. Das ist bei dir der Fall.

Viele Grüße
Frodomir
Wenn ich darf: Arbeitest du mit Bjorn Hayer zusammen?
Danke für die Anerkennung! Ich finde deine Kommentare sehr wertvoll - sie sind, wie ich finde, eine Bereicherung für das Forum.
Und definitiv eine Bereicherung in meinen Fäden.


Lieber Otto,

das kam sehr unerwartet, desto mehr freue ich mich! Danke!

Maren
 



 
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