Als die Zeit sich die Freiheit nahm, mich bleiben zu lassen

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ENachtigall

Mitglied
Als die Zeit sich die Freiheit nahm
eeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeemich bleiben zu lassen
die Sprache mich
verschlug
wie die Uhr
eeeeeee auf dem Turm
eeeeeee die stummen Stunden
eeeeeee setzte ich Fuß
auf den Weg
und ertrug
das betretene Schweigen

teilte mich
den Mücken mit
in der Muttersprache des Blutes

kampierte imaginär
vorort
im Wort meines Namens

gedachte
der Papiermacher
aus Tigall

fiel
in Liebe
mit dem Regengeräusch
trank die Milch
von der
ganz großen Straße

remontierte
die ins Becken
gespuckten
eeeeeee Zeiger der Küchenuhr
eeeeeee ans firmamentale
eeeeeee Blau ihrer Scheibe

entdeckte
in Nachtland den
Schwestern

eeeeeee betrachtete
eeeeeedie Zuckungen
eeeeeee des Sekundenzeigers
beim chronischen Scheitern
des Aufstiegs
zur Zwölf

Ich
Ist eine Insel

In Dividuum



©️ elkeNachtigall
2021
 

Tula

Mitglied
Moin Elke
Sehr schön. Aber eine Frage habe ich bei dieser Stelle:

Entdeckte
In Nachtland den
Schwestern

d.h. das klingt merkwürdig, schon weil der Rest des Gedichts auf ähnliche Schlingen verzichtet. Also die schlichte Frage: warum nicht 'die Schwestern'? Das ergäbe im Kontext des Suchens und Findens durchaus einen Sinn.

LG
Tula
 

Scal

Mitglied
Gilt für mich. Einige wunderbare Empfindungsmomente beim Lesen:

Die Sprache mich
Verschlug

Kampierte imaginär

Teilte mich
Den Mücken mit
In der Muttersprache des Blutes

Fiel in Liebe
Mit dem Regengeräusch
Trank die Milch
Von der
(absichtlich "von" ?
Ganz großen Straße

Betrachtete
Die Zuckungen
Des Sekundenzeigers
Beim chronischen Scheitern
des Aufstiegs
Zur Zwölf


Freundlichen Gruß
Scal




 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
gefällt mir sehr. nur an der stelle, die tula schon angesprochen hat, stolpere ich ebenfalls. aber vielleicht ist ja gerade das gewollt, wenn ja - es funktioniert.
ansonsten ist das gedicht sehr sprachstark, gut formuliert und genau in der richtigen länge.

lg
patrick
 
G

Gelöschtes Mitglied 22298

Gast
beachtlich
lesenswert

eine zeitdiskussion ganz anderer art
das 'ticken' der zeit - das gedicht scheint selbst in seinem leicht holprigen gang vorgaben zu machen für den zeitfluss
alles wird dünner punktueller
sogar das individuum bleibt ohne rettung zurück

gruß
gun.
 
G

Gelöschtes Mitglied 21589

Gast
Hallo ENachtigall,

dein Gedicht ist sprachlich unglaublich verdichtet. Dadurch gelingt es dir, das Schicksalhafte der Zeit mit einem Lyrischen Ich zu verweben, welches diesem Schicksal ausgeliefert und auf eine bedrückende Weise nicht gewachsen zu sein scheint. Ich habe selten ein dunkleres Gedicht gelesen.

Sprachlich kann ich allerdings nur staunen, Verse wie z.B.

Die stummen Stunden
Setzte ich Fuß
Auf den Weg
Und ertrug
Das betretene Schweigen
oder

Teilte mich
Den Mücken mit
In der Muttersprache des Blutes
sind von herausragender Qualität!

Ein Gedicht, das mich auf allen Ebenen sprachlos zurücklässt.

Liebe Grüße
Frodomir
 

ENachtigall

Mitglied
warum nicht 'die Schwestern'?
Danke, Tula! Das kommt davon, wenn mensch beim Nachdenken über die Schwestern zu lange in den Nachthimmel schaut. Da transgendert auf einmal das Substantiv und der Plural singularisiert sich.
Denkst du, dass es zum literarischen Stilmittel taugt? Jedenfalls ist "es" (das Möchtegernstilmittel) einer der Gründe, warum ich es in Experimentelles eingestellt habe.
Es freut mich, dass du dich mit dem Text auseinandergesetzt und ihn so reichlich "besternt" hast.
Es ist schön, wieder hier zu sein!
 

ENachtigall

Mitglied
Gilt für mich. Einige wunderbare Empfindungsmomente beim Lesen:
Hallo Scal, danke für dein freundliches Feedback zum Text, den ich mir nach langer Zeit - irgendwie auch - abgerungen habe; um diese gärende Rohmasse einmal aus der Umlaufbahn meiner Gedankenwelt zu werfen. - In der Hoffnung, dass aus ihr noch einmal was wird :confused: (und selbst kaum glaubend, dass das alles in ein Gedicht passt).
Und ja, absichtlich: von der ganz großen Straße.
Wir lesen uns - und schöne Grüße.
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo Elke,

herzliche Grüße aus dem "Clockdown"

ich assoziere mich einmal durch ein Stück und beginne für mich mit dem Entscheidenen, der letzten Strophe:

"Ich
ist eine Insel
in Dividuum"

Einerseits das "Individuum" das Unteilbare, - meinem Verständnis nach eine Erfindung der Moderne:
das "Ich" als Einheit gegenüber der Gesellschaft. Das Wesen des Individuums liegt in seiner eigenen Erkenntnis bei der als unüberwindbaren empfundenen Anschauung der "Anderen".
So gesehen ist das Individuum derjenige Teil des "Ich", der ich nicht in der Schnittmenge mit allen Anderen befindet.
" Hier stehe "Ich", "ich" kann nicht anders.

An diesem Punkt bin ich einzig und "allein".

Andererseits : "Dividuum"
Ein Begriff der das Gegenteil behauptet. Das finde ich schon dei Nietzsche. Es gibt auch das Teilbare im Unteilbaren. Eine Behauptung?

Sprachlich kompetent in dieser Strophe,quasi gemeinsam entwickelt:
"Ich
ist eine Insel
in Dividuum"
Hiier sind alle Begriife in einer Strophe gefasst: Das Ich (als Individuum), das Bild einer Insel, der feste Grund, der von anderen Gründen durch Wasser getrennt ist, und jetzt:
in Dividuum

Also eine Verortung des umgebenden "Meeres- Mehres"
dieses "Ich" bewohnt eine Insel im Mehr des Dividuums, also des Teilbaren, bzw. des in seinen Teilen das Ganze ergebende!
Das ist dann der "Zusammen-hang". Das trennende Meer ist die "Brücke" die das "Ich" mit dn anderen "Ichs" verbindet. Es ist jedes Individuum obschon vereinzelt durch das Meer der
vielen Teile verknüpft und vielleicht "unvereinzelt"?

"Ich ist eine Insel in Teilen".
heißt: Das Unteilbare ist ein vereinzeltes(Insel) umspült vom "Teilbaren".

Hierüber muß ich ersteinmal nachdenken...

Lg
Ralf
 

ENachtigall

Mitglied
Ich habe selten ein dunkleres Gedicht gelesen.
Lieber Frodomir, danke für dein mutiges Feedback. Das umschriebene Thema ist tatsächlich sehr dicht von Dunkel. Ein Raum, der - einmal betreten - in Fleisch und Blut übergeht. Und fortwährt, bis wir imstande sind, ihn zu entmystifizieren.
Die Anekdote mit der Küchenuhr ist erlebt. Die Realität spricht auch eine eigene Sprache, möchte ich meinen.

Ich freue mich so sehr, über eure starke Resonanz; ich könnte fliegen. Danke an alle!
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo Elke,
und noch einmal hier:

"...
Gedachte
Der Papiermacher
Aus Tigall
...
Entdeckte
In Nachtland den
Schwestern
..."

ja , was soll das sein. Nachdem ich jetzt deinem Gedicht an diesen Stellen noch einmal nachgespürt habe, komme ich zu dem Schluß das sie zusammenhängen.
Inhaltlich suche ich noch, aber mir will scheinen du hast hier aus deinem Avatarnamen "ENachtigall" etwas komponiert:

" Aus Tigall ... Nachtland" wird Nacht tigall"
Das, so keimt mir, bist du : das Individuum (hinter dem Avatar), eingebettet als lyrisches ich.
da muß ich weiter kreuzen...
LG
Ralf
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo Ralf, ja "clockdown", das hat was!

Ja, es ist auch ein Blick auf den Weg, der "zurückgelegt "werden will. Wohin? Und was hat die Zeit, mit der ich gegangen bin, mir einst mitgegeben auf den Weg? Immerhin einen Namen. Was habe ich also hier zu suchen und warum? An den Kreuzungen im Leben kommen solche Fragen auf - und eine almost never ending Zwiesprache mit sich selbst. Um der ein Ende zu machen, bedurfte es meinesfalls eines finalen Machtwortes (so möchte ich den letzten 3zeiler nennen dürfen) um zurück in die Gegenwart zu gelangen.
Du liegst also mit dem Erkennen der Namenssezierung richtig. Und hast gut daran getan, mit dem Ende zu beginnen.
Ich danke dir dafür sehr und Grüße von Herzen,

Elke
 

Ralf Langer

Mitglied
Kleiner Nachtrag:

Ich fühle mich thematisch an ein älteres Stück von dir erinnert.
"Dr John befand die Zeit"
Das hatte mir auch sehr gut gefallen. Auf eine durch die "vergangene Zeit" bedingte Art und Weise korresponieren diese Stück miteinander.
(Zumindest für mich)

"Die Zeit sei reif genug"

so damals in den Worten des lyrischen ichs, und hier und heute:

"Beim chronischen Scheitern
Des Aufstiegs
Zur Zwölf"

bemerkenswert

so gehen die Menschen über die Wege: zukünftiger Vergangenheiten, gegenwärtiger Zukünfte und zukünftig vergangenen Gegenwarten...

Danke für eine schöne Erinnerung die dein aktuelles Stück aus mir hervorholte.

Lieben GRuß
Ralf
 

ENachtigall

Mitglied
Danke, dir, Ralf, für den feinen Nachtrag. - Stimmt, da besteht eine Verwandtschaft mit "Dr. John". Beides waren schier unendliche Geburten.
- Und was bleibt, ist zu sagen: Es tut mir in der Seele weh, dass "sie" dir das Lenz ins Künstliche Koma gelegt haben. Es ist dir doch so etwas wie eine zweite Haut.
buona notte

Elke
 

Ralf Langer

Mitglied
Hallo Elke,
herzlichen Dank für die "Anteilnahmne".

Ja, ich erinnere mich wir haben mal über solch schwere Geburten geredet.
LG
Ralf
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Elke,

ich bin glücklich, dass es der Leselupe vergönnt ist, so einen sprachlichen Schatz zu präsentieren.

Liebe Grüße
Manfred
 

ENachtigall

Mitglied
Vielen lieben Dank, Franke, für diese Wahrnehmung und Würdigung.
Ich weiss, du weisst, dass ich am liebsten auf Augenhöhe baumle, wenn ich gelobt werde.
Mein Herz hüpft, draußen donnert es.
Mit Samstagsgrüßen,
Elke
 



 
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