An eine Einsame

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zeitistsein

Mitglied
Ein Gummihandschuh,
noch trocken,
passgenau für deine rechte Hand.

Fahre damit zärtlich
über das Antlitz deiner Möbel,
die Staub weinend,
geduldig,
auf deine Berührung warten.

Berühre alle Kanten,
Ecken,
führe deinen Zeigefinger
über Rillen.
Hör den Ruf jeder Arabeske.
Knie dich in jede Ecke,
befreie sie
von dem, was sie verbirgt.

Spüre deine Freude
über den neuen Glanz
deines Inneren.
 
G

Gelöschtes Mitglied 24777

Gast
Hallo zeitistsein,

herzlich Willkommen im Forum!

In meinen Augen ist das ein sehr gelungenes erotisches Gedicht. Das Angenehme deines Textes ist, dass er sich nicht allein auf das Körperliche beschränkt, sondern diesen und die Psyche als etwas Zusammenhängendes betrachtet.

Ich fühlte mich beim Lesen des Gedichtes irgendwie leicht - eine gute Erfahrung.

Gern gelesen und liebe Grüße
Frodomir
 

zeitistsein

Mitglied
Hallo Frodomir

Danke für deine freundliche Rückmeldung und die spannende Interpretation.
Ich habe mich sehr darüber gefreut.

Viele Grüsse
zeitistsein
 

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Mitglied
Servus, zeitistsein!

Ein spannender Einstiegstext!

Mit dem Titel als Wegweiser hab ich ihn als positive Umdeutung einer Beschreibung von gewissen "Blüten" gelesen, die die Einsamkeit zu den Feiertagen so treiben kann. Hier eben die Flucht in den Weihnachtsputz, der so gründlich gemacht wird im Versuch, sich selbst zu spüren im Nachspüren der alten Stilmöbel, aber eben auch im Versuch, geliebtes Vergangenes zu ertasten in den Arabesken und Maserungen - inklusive der Ecken und Kanten!

Der Text ist also tatsächlich eine Anleitung zur Versöhnung mit der Vergangenheit und mit der Tatsache, dass von einem vielleicht einst großen Familienkreis nur noch einer übriggeblieben ist, der das Fest begeht.

Ich, die ich selbst umgeben von Stilmöbeln aufgewachsen bin, die meine Familie über die Generationen und Kriegsjahre retten konnte, aber auch solche, die sie sich später bei wachsendem Wohlstand leisten konnte, empfinde und lese daher die so liebevoll befühlten Stilmöbel im Text als Behältnisse von Erinnerungen an Weihnachten im Kreise der Lieben, die vermutlich inzwischen schon verstorben sind oder ihre eigenen Familien gegründet haben...Einsamkeit an Festtagen, allein mit den Erinnerungen an geliebte Menschen (mit Ecken und Kanten) - manchmal ist das alles, was jemand noch hat.

Schön finde ich vor allem, dass es hier nicht um das Leiden an der Einsamkeit geht. Es wurde eine Strategie gefunden, dem zu entfliehen, denn der Text legt am Schluss den Fokus auf die Freude am neuen Glanz des Inneren - also ist der Weihnachtsputz ein liebevolles Ritual, bei dem es darum geht, sich selbst eine Freude zu machen, indem man sehr bewusst nachspürt, was war und was noch ist. Und wofür man dankbar sein kann, wenn man nur möchte.

Viele schöne Metaphern lese ich hier....die Ecken, die von Staub befreit Verborgenes ans Licht bringen, die Ecken, Kanten, Arabesken der Staub weinenden alten Möbel - ein gelungener Text über Achtsamkeit, den Umgang von Verlust und das was wir in uns selbst finden.

Sehr gerne gelesen!

LG,
fee
 

zeitistsein

Mitglied
Hallo fee

Vielen Dank für diesen ausführlichen und differenzierten Kommentar zu meinen Zeilen.
Ich habe ihn sehr gerne gelesen.

Danke.

Viele Grüsse
zeitistsein
 
G

Gelöschtes Mitglied 24147

Gast
Lieber(r) Zeitistsein,

die Idee, sich mit seiner Vergangenheit zu "befassen" und sie - nach dem Hausputz - in "neuem Licht" zu betrachten, finde ich ganz witzig. Aber mal ehrlich - wer streift sich, wenn er nochmal mit seiner alten Liebe ins Bett gehen will, denn noch ein Kondom über? Mit einem Gummihandschuh kann man nie "zärtlich" sein. Höchstens hygienisch ...

Liebe Grüße

anschi
 
G

Gelöschtes Mitglied 24147

Gast
Nur so witzig wie dein Text, liebe(r) zeitistsein. Wer mag schon auf eine gummibhenadschuhte Hand warten? Höchstens ein Patient im Behandlungsraum - und der sieht sich bestimmt nicht als "demnächst wieder hell glänzend", sondern stets als Opfer widriger Umstände.

Dir auch einen schönen Tag

anschi
 

zeitistsein

Mitglied
Hallo anschi

Der Hinweis auf das semantische Feld "Krankenhaus" im Zusammenhang mit dem Gummihandschuh ist höchst bedeutungsvoll.
Es ist dir gelungen, mir meine eigene Position zu zeigen, die mir selber gar nicht bewusst war. Max Frisch sagt, das ist die höchste Leistung von Kritik überhaupt.
Insofern: Danke!

Viele Grüsse
Z
 

revilo

Mitglied
Ich kann mich dem allgemeinen Beifall nicht anschließen. Gedichte, deren Metaphern (hier insbesondere Möbel, Staub Kanten, Ecken) sich im gleichen Thema bewegen sind meist eintönig, sofern sie nicht das gewisse Etwas haben. Und genau das fehlt mir hier. Als erotisch empfinde ich es auch nicht. Das mag man natürlich anders sehen. Und die letzte Strophe empfinde ich als ziemlich gekünstelt.

LG
 
G

Gelöschtes Mitglied 24147

Gast
Eintönig, lieber revilo? Wirklich?

Die Kanten, Ecken, Rillen und Arabesken haben hier alle einen eigenen Ton, ergeben zusamen kein langweiliges Geräusch, sondern einen räumlichen Vierklang, den wohl nur hören kann, wer die Ohren spitzt und ein bisschen musikalisch ist.

Nur das mit dem grausigen Handschuh, das sollte anders werden. Ich würde nicht mit einem Gummihandschuh, sondern einem weichen Wolltuch an meinen kostbaren Erinnerungen wischen. Oder sollte die Vergangenheit des Lyrichs so schlimm gewesen sein, liebe(r) zeitistsein, dass nicht deren Relikte, sondern das Ich sich vor Berührungen schützen müsste?

Heiter

anschi
 

revilo

Mitglied
moin, anschi, das liegt natürlich immer im auge des betrachters.....was deine lauscher so wahrnehmen, kann ich nicht wissen......vermutlich hörst du andere töne als ich....anstatt eines wolltuches nähme ich dann lieber ein profanes tempo-taschentuch......das tut es sicherlich auch....... hoffnungsvoll revilo
 



 
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