Ji Rina
Mitglied
Es war an einem Tag im November, als ich Hanna zufällig in der Stadt traf. Wir hatten uns seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen und nichts voneinander gehört. Also beschlossen wir, in das nächste Café zu gehen, um einen Tee zu trinken.
»Und wie geht es Michi?«, fragte ich.
Michi war Hannas zwölfjähriger Sohn. Ein Jahr zuvor hatte er noch sehr erfolgreich Handball in einem Verein gespielt.
»Prima!«, sagte sie, wie erwartet. »Er ist jetzt in der achten Klasse, geht zum Klavierunterricht und spielt Tennis. Robert nimmt ihn am Wochenende oft zum Segeln mit. Dann hab ich auch mal ein bisschen Zeit für mich. Und du? Was machst du so?«
»Naja …«, sagte ich und wich ihrem Blick aus. »Mir geht’s im Augenblick nicht so toll. Im Juni ist meine Mutter völlig unerwartet gestorben. Und du weißt ja … wir waren unzertrennlich…«
Ein Schatten glitt über ihr Gesicht. Für einen Augenblick schien sie über diese Nachricht geschockt.
Dann klingelte ihr Handy.
»Hallo Ruth!« Sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Ich sitze gerade mit einer Bekannten in einem Café. Wo bist du denn? Hast du die Prüfung geschafft? Wirklich? Herzlichen Glückwunsch! Das ist doch toll! Jetzt kannst du uns an den Wochenenden auch mal besuchen, ohne dass Robert dich abholen muss …«
Ich sah zu einem japanischen Pärchen herüber, das an einem der anderen Tische Platz genommen hatte. Der Kellner hatte ihnen eine Karte gereicht, die sie mit zusammengerückten Köpfen sehr konzentriert betrachteten.
»Nächsten Freitag kommen Sabine und Lutz zum Kaffee«, fuhr Hanna fort. »Ja, Sabine geht’s super! Ich glaube, da kommt bald Nachwuchs! Ja, wirklich … Komm doch vorbei! Die werden sich freuen, dich endlich mal wiederzusehen! Was? Ach so, kein Thema! Alles okay! Ich werd’s ausrichten. Dickes Bussi!« Daraufhin warf Hanna mir einen betrübten Blick zu und strich mir über den Arm. »Oh, das tut mir aber leid!«, sagte sie und legte das Handy zur Seite. »War sie krank?«
»Ja«, sagte ich. »Sie hatte einen Tumor, der leider erst sehr spät entdeckt wurde. Eines Tages hatte sie einfach keinen Appetit mehr. Sie nahm sehr rapide ab. Dann konnte sie plötzlich nicht mehr laufen. Wir kauften einen Rollstuhl … und …«
»Oh.«
Mir wurde bewusst, wie bitter meine Stimme klang. Fünf Monate waren vergangen, und ich hatte mich von diesem Schmerz noch immer nicht erholt. Sie war nicht nur meine Mutter gewesen, sondern auch meine beste Freundin. Jetzt ließen die Bilder mich wieder nicht los. Ganz besonders dieses eine trieb mich in den Wahnsinn: Meine Mutters verständnisloser Gesichtsausdruck, wie sie die da in diesem Krankenhaus gelegen hatte, mit leerem Blick, unfähig, auch nur einen Satz zu sagen, weit weg von ihrem Haus und ihrer gewohnten Umgebung.
Wieder klingelte das Handy. Hanna machte eine hastige Bewegung, blickte aufs Display und nahm das Gespräch an. »Robert? Was ist? Wo bist du?«
Ich beobachtete ein paar Tauben, die um die Stühle herumhüpften und nach Krümeln pickten, und ließ dabei meinen Finger um den Rand der Teetasse gleiten. Der Verlust meiner Mutter war etwas Seltsames: Als habe man mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Und immer wieder diese eine bohrende Frage, die mir vermutlich nie mehr Ruhe lassen wird: Hätte ich sie nicht doch noch nach Hause holen sollen, um dort in Ruhe zu sterben?
Hanna sagte: »Übrigens: Ruth hat die Prüfung geschafft. Ja! Das habe ich ihr auch gesagt … Sie wird am Samstag zum Kaffee kommen … Ja, ja, hab’s ihr gesagt. Ja-ha Schatz! Bin schon auf dem Weg!« Sie klappte rasch das Handy zusammen und sah mich an, als ob sie sich an etwas Bestimmtes erinnern wollte. Dann sagte sie: »Es tut mir so unendlich leid für dich. Das ist eines dieser Dinge im Leben, die man einfach nur hinnehmen muss … Aber weißt du? Das Leben geht weiter.«
Ich nickte und sah ihr in die Augen. Irgendetwas hätte ich wohl dazu sagen müssen, aber mir fiel nichts ein. Als ihr Handy piepte, weil eine Nachricht eingegangen war, ließ sie es blitzschnell in ihrer Handtasche verschwinden, ohne auf das Display zu schauen.
»Oh je, ich muss jetzt los!«, sagte sie, »Bist du auch okay?« Sie setzte eine besorgte Miene auf und strich mir nochmals über den Arm.
»Ja«, sagte ich und lächelte. »Na klar, alles ist okay.«
»Hör zu«, sagte sie und erhob sich, wobei der Schoß ihrer Gabardinejacke die leere Tasse auf dem Tisch streifte. »Du kannst mich jederzeit anrufen. Das weißt du, nicht wahr? Du hast doch meine Nummer, nicht? Dann können wir reden.«
»Ja klar«, sagte ich mit einer solch matten Stimme, dass sie mir fremd vorkam. »Ich werd dich demnächst mal anrufen.«
»Ein Bussi, Schatz«, sagte sie. »Ich muss zusehen, dass ich wegkomme. Robert will noch zu Ikea, wo wir ein Bett abholen müssen. Montag kommen nämlich Roberts Eltern, um uns zu besuchen, und da sie sich bei jedem vorigen Besuch beklagt haben, dass das Bett im Gästezimmer zu klein sei, haben wir jetzt ein neues gekauft und das alte ausrangiert. Schwiegereltern! Ich kann dir sagen …!.«
»Mach dir kein Sorgen«, sagte ich. »Auch ich muss jetzt los.«
»Es war schön, dich mal wiederzusehen!«, sagte sie und kramte in ihrer Handtasche. »Leider heute in Eile … Aber wir werden voneinander hören. Du rufst mich an, ja?«
»Ich ruf dich an«, sagte ich.
Sie küsste mich auf die Wange, ging hinüber zum Kellner und zahlte die Rechnung. Dann winkte sie mir noch mal zu und schickte mir einen Handkuss. Aus irgendeinem Grund blieb ich sitzen und sah ihr nach. Sie lief rasch auf ihren hohen Absätzen und mit wehender Jacke über die Straße. Dann fiel mein Blick wieder auf das Pärchen aus Japan. Sie hatten sich zwei Stücke Apfeltorte mit Sahne bestellt, saßen jetzt konzentriert über ihren Tellern, aßen von dem Kuchen und blickten sich dabei erstaunt an. Plötzlich begannen sie zu lachen.
Ich versuchte mich daran zu erinnern, was ich an dem Nachmittag eigentlich vorhatte, aber es fiel mir nicht mehr ein.
»Und wie geht es Michi?«, fragte ich.
Michi war Hannas zwölfjähriger Sohn. Ein Jahr zuvor hatte er noch sehr erfolgreich Handball in einem Verein gespielt.
»Prima!«, sagte sie, wie erwartet. »Er ist jetzt in der achten Klasse, geht zum Klavierunterricht und spielt Tennis. Robert nimmt ihn am Wochenende oft zum Segeln mit. Dann hab ich auch mal ein bisschen Zeit für mich. Und du? Was machst du so?«
»Naja …«, sagte ich und wich ihrem Blick aus. »Mir geht’s im Augenblick nicht so toll. Im Juni ist meine Mutter völlig unerwartet gestorben. Und du weißt ja … wir waren unzertrennlich…«
Ein Schatten glitt über ihr Gesicht. Für einen Augenblick schien sie über diese Nachricht geschockt.
Dann klingelte ihr Handy.
»Hallo Ruth!« Sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Ich sitze gerade mit einer Bekannten in einem Café. Wo bist du denn? Hast du die Prüfung geschafft? Wirklich? Herzlichen Glückwunsch! Das ist doch toll! Jetzt kannst du uns an den Wochenenden auch mal besuchen, ohne dass Robert dich abholen muss …«
Ich sah zu einem japanischen Pärchen herüber, das an einem der anderen Tische Platz genommen hatte. Der Kellner hatte ihnen eine Karte gereicht, die sie mit zusammengerückten Köpfen sehr konzentriert betrachteten.
»Nächsten Freitag kommen Sabine und Lutz zum Kaffee«, fuhr Hanna fort. »Ja, Sabine geht’s super! Ich glaube, da kommt bald Nachwuchs! Ja, wirklich … Komm doch vorbei! Die werden sich freuen, dich endlich mal wiederzusehen! Was? Ach so, kein Thema! Alles okay! Ich werd’s ausrichten. Dickes Bussi!« Daraufhin warf Hanna mir einen betrübten Blick zu und strich mir über den Arm. »Oh, das tut mir aber leid!«, sagte sie und legte das Handy zur Seite. »War sie krank?«
»Ja«, sagte ich. »Sie hatte einen Tumor, der leider erst sehr spät entdeckt wurde. Eines Tages hatte sie einfach keinen Appetit mehr. Sie nahm sehr rapide ab. Dann konnte sie plötzlich nicht mehr laufen. Wir kauften einen Rollstuhl … und …«
»Oh.«
Mir wurde bewusst, wie bitter meine Stimme klang. Fünf Monate waren vergangen, und ich hatte mich von diesem Schmerz noch immer nicht erholt. Sie war nicht nur meine Mutter gewesen, sondern auch meine beste Freundin. Jetzt ließen die Bilder mich wieder nicht los. Ganz besonders dieses eine trieb mich in den Wahnsinn: Meine Mutters verständnisloser Gesichtsausdruck, wie sie die da in diesem Krankenhaus gelegen hatte, mit leerem Blick, unfähig, auch nur einen Satz zu sagen, weit weg von ihrem Haus und ihrer gewohnten Umgebung.
Wieder klingelte das Handy. Hanna machte eine hastige Bewegung, blickte aufs Display und nahm das Gespräch an. »Robert? Was ist? Wo bist du?«
Ich beobachtete ein paar Tauben, die um die Stühle herumhüpften und nach Krümeln pickten, und ließ dabei meinen Finger um den Rand der Teetasse gleiten. Der Verlust meiner Mutter war etwas Seltsames: Als habe man mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Und immer wieder diese eine bohrende Frage, die mir vermutlich nie mehr Ruhe lassen wird: Hätte ich sie nicht doch noch nach Hause holen sollen, um dort in Ruhe zu sterben?
Hanna sagte: »Übrigens: Ruth hat die Prüfung geschafft. Ja! Das habe ich ihr auch gesagt … Sie wird am Samstag zum Kaffee kommen … Ja, ja, hab’s ihr gesagt. Ja-ha Schatz! Bin schon auf dem Weg!« Sie klappte rasch das Handy zusammen und sah mich an, als ob sie sich an etwas Bestimmtes erinnern wollte. Dann sagte sie: »Es tut mir so unendlich leid für dich. Das ist eines dieser Dinge im Leben, die man einfach nur hinnehmen muss … Aber weißt du? Das Leben geht weiter.«
Ich nickte und sah ihr in die Augen. Irgendetwas hätte ich wohl dazu sagen müssen, aber mir fiel nichts ein. Als ihr Handy piepte, weil eine Nachricht eingegangen war, ließ sie es blitzschnell in ihrer Handtasche verschwinden, ohne auf das Display zu schauen.
»Oh je, ich muss jetzt los!«, sagte sie, »Bist du auch okay?« Sie setzte eine besorgte Miene auf und strich mir nochmals über den Arm.
»Ja«, sagte ich und lächelte. »Na klar, alles ist okay.«
»Hör zu«, sagte sie und erhob sich, wobei der Schoß ihrer Gabardinejacke die leere Tasse auf dem Tisch streifte. »Du kannst mich jederzeit anrufen. Das weißt du, nicht wahr? Du hast doch meine Nummer, nicht? Dann können wir reden.«
»Ja klar«, sagte ich mit einer solch matten Stimme, dass sie mir fremd vorkam. »Ich werd dich demnächst mal anrufen.«
»Ein Bussi, Schatz«, sagte sie. »Ich muss zusehen, dass ich wegkomme. Robert will noch zu Ikea, wo wir ein Bett abholen müssen. Montag kommen nämlich Roberts Eltern, um uns zu besuchen, und da sie sich bei jedem vorigen Besuch beklagt haben, dass das Bett im Gästezimmer zu klein sei, haben wir jetzt ein neues gekauft und das alte ausrangiert. Schwiegereltern! Ich kann dir sagen …!.«
»Mach dir kein Sorgen«, sagte ich. »Auch ich muss jetzt los.«
»Es war schön, dich mal wiederzusehen!«, sagte sie und kramte in ihrer Handtasche. »Leider heute in Eile … Aber wir werden voneinander hören. Du rufst mich an, ja?«
»Ich ruf dich an«, sagte ich.
Sie küsste mich auf die Wange, ging hinüber zum Kellner und zahlte die Rechnung. Dann winkte sie mir noch mal zu und schickte mir einen Handkuss. Aus irgendeinem Grund blieb ich sitzen und sah ihr nach. Sie lief rasch auf ihren hohen Absätzen und mit wehender Jacke über die Straße. Dann fiel mein Blick wieder auf das Pärchen aus Japan. Sie hatten sich zwei Stücke Apfeltorte mit Sahne bestellt, saßen jetzt konzentriert über ihren Tellern, aßen von dem Kuchen und blickten sich dabei erstaunt an. Plötzlich begannen sie zu lachen.
Ich versuchte mich daran zu erinnern, was ich an dem Nachmittag eigentlich vorhatte, aber es fiel mir nicht mehr ein.