Diese sprachlose Bestürzung unten auf der Straße war ohrenbetäubend. Wir saßen auf dem Bett vor der offenen Balkontür, und gegenüber stand ein Mann am Fenster und ließ uns nicht aus den Augen. Noch nie war diese Straße so gespenstisch still gewesen; erst ab dem nächsten Block gestattete sich das Großstadtleben, in seinem Treiben unbeeindruckt fortzufahren. Das Publikum unten auf der Straße wuchs mit jeder Sekunde, und die Betroffenheit ließ jeden Neuankömmlingen verstummen. Die Autos stauten sich längst die ganze Straße hinunter. Als wäre die Vollbremsung des allerersten Wagens Signal gewesen an die Besucher der Bistros und Eiscafés, waren Gläserklirren und Tellerklappern beim Quietschen der Reifen schlagartig verstummt.
Ich hörte eine Polizeisirene und nahm an, der Wagen wäre zu uns unterwegs; aber das Martinshorn entfernte sich, und irgendwo hob bald ein Neues an.
Vor der Wohnungstür hatten sich ein paar Nachbarn aus dem Haus eingefunden. Gedämpft vernahm ich ihre Sorge um Elke, die neben mir auf dem Bett hockte. Eine dünne Decke hatte ich ihr übergeworfen, weil sie so zitterte, ins Leere starrte und tonlos artikulierte mit blutleeren Lippen. Ich massierte sie, so gut es ging, wollte sie wärmen; bis ich’s für das Beste hielt, sie ganz fest an mich zu drücken. „Es wird alles wieder gut, hörst du!“ Ich wollte sie nie wieder hergeben.
Jemand klopfte an die Wohnungstür; die Stimme sagte mir was, natürlich, aber auf den Namen kam ich nicht sofort, ich wohnte erst seit drei Wochen in diesem Haus. „Frau Herder, machen Sie doch auf, um Himmels Willen ...“ Und eifrig berieten sie und dämpften pietätvoll die Stimmen: „Und wenn die Frau auch tot ist?“
„Mensch, meinen Sie?“
„Es ist aber nur der Mann vom Balkon gestürzt, oder?“
Und dann eine bestens vertraute Stimme, die in den letzten drei Wochen Synonym geworden war für das größte Arschloch im ganzen Haus: „Was soll’s, Polizei ist ja unterwegs ...“
„Ja, wo wollen Sie denn hin, sagen Sie mal?“
„Zurück vor die Glotze – was dagegen?“
Und dann polterte es die Stufen hinab; und diese gänzlich andere Sichtweise auf die Dinge machte Eindruck auf die anderen: Ich hörte sie nicht mehr flüstern, nur noch mit sich ringen.
Ich flüsterte: „Es wird alles wieder gut, alles wird wieder gut ...“
Elke machte sich von mir los und starrte mich an, und das fassungslose Entsetzen hatte einem Unverständnis Platz gemacht, das tiefe Furchen in ihre Stirn grub. „Warum hast du das getan?“
„Ich hatte doch Angst, er würde dir etwas tun ...“
Elke nickte, als müsste sie erst darüber nachdenken, bevor sie mir zustimmen mochte. Sie sah zur Balkontür und zum Mann von gegenüber, der mit einer langen Zigarre im Mund das Geschehen unten auf der Straße verfolgte. Ein Streifenwagen war vorm Haus angekommen, und das Blaulicht pulste die Sinne zurück in die Menge; am lautesten waren die Stimmen der Eifrigen, die den Beamten den Weg in die Unglückswohnung wiesen.
Sie sagte: „Er wusste nicht, dass du in der Wohnung warst. Er hat nicht mit dir gerechnet, sonst hättest du ihn auf dem Balkon nicht überraschen können.“
„Er war sehr wütend.“
„Er hatte getrunken. Und er wollte mich zurück.“
„Er hätte es längst kapieren können. Er hatte genug Zeit, es zu kapieren.“
„Er wollte mich eben zurück.“
„Er wollte es nicht kapieren ... Er wollte dich rumkriegen.“
„Meinst du?“
„Der scheiß Kerl wollte dich rumkriegen, glaub mir.“
Sie sah mich lange an und ihre Züge glätteten sich, bis die feinste Falte ausgetrieben war. Sie nahm eine Strähne meines Haares zwischen die Finger und spielte damit, bis ihre Finger abglitten auf meine Wange und von dort auf Erkundung gingen – die Gänsehaut zog sich über meinen ganzen Leib.
Es wurde hart an die Wohnungstür geklopft, und eine herrische Dienststimme forderte die Nachbarn im Treppenhaus auf, alles Weitere gefälligst der Polizei zu überlassen. Erneutes, noch bestimmteres Klopfen: „Frau Herder, hier ist die Polizei! Öffnen Sie bitte!“
Ihre Hand fiel herab. Die Unterlippe zuckte und Tränen sammelten sich in ihren Augen: „Und was nun?“
„Du hast nichts damit zu tun, hörst du! Ich hab ihn vom Balkon gestoßen! Ich! Dir können sie nichts!“ Ich drückte fest ihre Hände und lächelte sie tapfer an, aber mit meiner Zuversicht konnte ich sie nicht mehr impfen: Es kullerte ihr dick über die Wangen.
„Frau Herder, bitte öffnen Sie!“
Elke floh in meine Arme. Ich war drauf und dran, den Bullen zuzurufen, sie sollten sich zum Teufel scheren. Und ich streichelte Elkes Haar, sog gierig ihren Duft ein. Ein Augenblick, wie das Schicksal ihn nur ein einziges Mal im Leben gestattet, und ich fühlte es brennen in meinen Augen, weil er jeden Moment vorüber wäre.
„Frau Herder, öffnen Sie die Tür!“ Sie hämmerten schon zu zweit.
Elke zog den Rotz hoch und streichelte mich. Ich hielt sie fest. Und dann sagte sie: „Er hat sich furchtbar aufgeregt, weil du jeden Tag wieder vor der Tür standest und irgendwas borgen wolltest. Da ist die Fotze wieder, hat er immer gesagt.“
Sie schluckte. „Weißt du: Ich freute mich, wenn du vor der Tür standest. Von Mal zu Mal freute mich mehr. Und mein Freund wurde immer wütender. Die scheiß Fotze, hat er gesagt. Ich hab’s ihm verboten, aber er hat dich weiterhin eine Fotze genannt ...“
Ich schwieg; ich wollte ihr die Zeit geben, die sie brauchte. Ein paar von ihren Haaren kitzelten mich an der Nase und ich pustete sie aus dem Weg, als ich den Kopf sachte wandte: zu dem Mann von gegenüber, der an seiner Zigarre zog und uns nicht aus den Augen ließ.
Von unten aus der Häuserschlucht rief es: „Können Sie was sehen? Können Sie was in der Wohnung erkennen? Lebt die Frau noch?“ Der Ruf wiederholte sich etliche Mal; aber der Mann hatte, scheint’s, sogar seine Zigarre vergessen. In diesem Augenblick war ich so stolz, wie ich nie zuvor in meinem Leben gewesen war.
Elke sagte: „Er hat wirklich geglaubt, ich würde mich mit dir einlassen ... Kannst du dir das vorstellen?“
„Ja.“
Sie sah zu Boden. „Er ist tot, nicht?“
„Ich glaube.“
„Er hat sich immer aufgeregt“, sagte Elke, „dass du jeden Tag wieder vor der Tür standest.“
„Ich konnte nicht anders, weißt du. Ich musste dich jeden Tag sehen ...“
„Ich sagte zu ihm: Sie ist doch gerade erst eingezogen, da fehlt einem schon mal was, das man bei den neuen Nachbarn ausleihen kann ... Das ist doch nun mal so. Aber er wollte nichts davon wissen und hat dich eine Fotze genannt. Und letzte Woche hab ich mit ihm Schluss gemacht.“
„Er hat’s nicht kapiert ...“
„Er hat nicht damit gerechnet, dass du in der Wohnung warst. Er hätte sich nicht so aufgeführt, wenn er’s geahnt hätte.“
„Scheiß Kerle“, sagte ich.
Elke sah mich lange an. „Vermisst du sie manchmal?“
„Keine Spur.“
„Ich glaube“, sagte Elke und richtete sich auf, „der Anfang ist das Schwierigste, oder?“
Ich strich ihr die Tränen aus dem Gesicht.
„Frau Herder, bitte! Andernfalls öffnen wir mit Gewalt!“
Ich sagte: „Überhaupt nicht.“
Als wir uns küssten, blieb die Zeit stehen: der Augenblick war für immer gerettet.
Ich hörte eine Polizeisirene und nahm an, der Wagen wäre zu uns unterwegs; aber das Martinshorn entfernte sich, und irgendwo hob bald ein Neues an.
Vor der Wohnungstür hatten sich ein paar Nachbarn aus dem Haus eingefunden. Gedämpft vernahm ich ihre Sorge um Elke, die neben mir auf dem Bett hockte. Eine dünne Decke hatte ich ihr übergeworfen, weil sie so zitterte, ins Leere starrte und tonlos artikulierte mit blutleeren Lippen. Ich massierte sie, so gut es ging, wollte sie wärmen; bis ich’s für das Beste hielt, sie ganz fest an mich zu drücken. „Es wird alles wieder gut, hörst du!“ Ich wollte sie nie wieder hergeben.
Jemand klopfte an die Wohnungstür; die Stimme sagte mir was, natürlich, aber auf den Namen kam ich nicht sofort, ich wohnte erst seit drei Wochen in diesem Haus. „Frau Herder, machen Sie doch auf, um Himmels Willen ...“ Und eifrig berieten sie und dämpften pietätvoll die Stimmen: „Und wenn die Frau auch tot ist?“
„Mensch, meinen Sie?“
„Es ist aber nur der Mann vom Balkon gestürzt, oder?“
Und dann eine bestens vertraute Stimme, die in den letzten drei Wochen Synonym geworden war für das größte Arschloch im ganzen Haus: „Was soll’s, Polizei ist ja unterwegs ...“
„Ja, wo wollen Sie denn hin, sagen Sie mal?“
„Zurück vor die Glotze – was dagegen?“
Und dann polterte es die Stufen hinab; und diese gänzlich andere Sichtweise auf die Dinge machte Eindruck auf die anderen: Ich hörte sie nicht mehr flüstern, nur noch mit sich ringen.
Ich flüsterte: „Es wird alles wieder gut, alles wird wieder gut ...“
Elke machte sich von mir los und starrte mich an, und das fassungslose Entsetzen hatte einem Unverständnis Platz gemacht, das tiefe Furchen in ihre Stirn grub. „Warum hast du das getan?“
„Ich hatte doch Angst, er würde dir etwas tun ...“
Elke nickte, als müsste sie erst darüber nachdenken, bevor sie mir zustimmen mochte. Sie sah zur Balkontür und zum Mann von gegenüber, der mit einer langen Zigarre im Mund das Geschehen unten auf der Straße verfolgte. Ein Streifenwagen war vorm Haus angekommen, und das Blaulicht pulste die Sinne zurück in die Menge; am lautesten waren die Stimmen der Eifrigen, die den Beamten den Weg in die Unglückswohnung wiesen.
Sie sagte: „Er wusste nicht, dass du in der Wohnung warst. Er hat nicht mit dir gerechnet, sonst hättest du ihn auf dem Balkon nicht überraschen können.“
„Er war sehr wütend.“
„Er hatte getrunken. Und er wollte mich zurück.“
„Er hätte es längst kapieren können. Er hatte genug Zeit, es zu kapieren.“
„Er wollte mich eben zurück.“
„Er wollte es nicht kapieren ... Er wollte dich rumkriegen.“
„Meinst du?“
„Der scheiß Kerl wollte dich rumkriegen, glaub mir.“
Sie sah mich lange an und ihre Züge glätteten sich, bis die feinste Falte ausgetrieben war. Sie nahm eine Strähne meines Haares zwischen die Finger und spielte damit, bis ihre Finger abglitten auf meine Wange und von dort auf Erkundung gingen – die Gänsehaut zog sich über meinen ganzen Leib.
Es wurde hart an die Wohnungstür geklopft, und eine herrische Dienststimme forderte die Nachbarn im Treppenhaus auf, alles Weitere gefälligst der Polizei zu überlassen. Erneutes, noch bestimmteres Klopfen: „Frau Herder, hier ist die Polizei! Öffnen Sie bitte!“
Ihre Hand fiel herab. Die Unterlippe zuckte und Tränen sammelten sich in ihren Augen: „Und was nun?“
„Du hast nichts damit zu tun, hörst du! Ich hab ihn vom Balkon gestoßen! Ich! Dir können sie nichts!“ Ich drückte fest ihre Hände und lächelte sie tapfer an, aber mit meiner Zuversicht konnte ich sie nicht mehr impfen: Es kullerte ihr dick über die Wangen.
„Frau Herder, bitte öffnen Sie!“
Elke floh in meine Arme. Ich war drauf und dran, den Bullen zuzurufen, sie sollten sich zum Teufel scheren. Und ich streichelte Elkes Haar, sog gierig ihren Duft ein. Ein Augenblick, wie das Schicksal ihn nur ein einziges Mal im Leben gestattet, und ich fühlte es brennen in meinen Augen, weil er jeden Moment vorüber wäre.
„Frau Herder, öffnen Sie die Tür!“ Sie hämmerten schon zu zweit.
Elke zog den Rotz hoch und streichelte mich. Ich hielt sie fest. Und dann sagte sie: „Er hat sich furchtbar aufgeregt, weil du jeden Tag wieder vor der Tür standest und irgendwas borgen wolltest. Da ist die Fotze wieder, hat er immer gesagt.“
Sie schluckte. „Weißt du: Ich freute mich, wenn du vor der Tür standest. Von Mal zu Mal freute mich mehr. Und mein Freund wurde immer wütender. Die scheiß Fotze, hat er gesagt. Ich hab’s ihm verboten, aber er hat dich weiterhin eine Fotze genannt ...“
Ich schwieg; ich wollte ihr die Zeit geben, die sie brauchte. Ein paar von ihren Haaren kitzelten mich an der Nase und ich pustete sie aus dem Weg, als ich den Kopf sachte wandte: zu dem Mann von gegenüber, der an seiner Zigarre zog und uns nicht aus den Augen ließ.
Von unten aus der Häuserschlucht rief es: „Können Sie was sehen? Können Sie was in der Wohnung erkennen? Lebt die Frau noch?“ Der Ruf wiederholte sich etliche Mal; aber der Mann hatte, scheint’s, sogar seine Zigarre vergessen. In diesem Augenblick war ich so stolz, wie ich nie zuvor in meinem Leben gewesen war.
Elke sagte: „Er hat wirklich geglaubt, ich würde mich mit dir einlassen ... Kannst du dir das vorstellen?“
„Ja.“
Sie sah zu Boden. „Er ist tot, nicht?“
„Ich glaube.“
„Er hat sich immer aufgeregt“, sagte Elke, „dass du jeden Tag wieder vor der Tür standest.“
„Ich konnte nicht anders, weißt du. Ich musste dich jeden Tag sehen ...“
„Ich sagte zu ihm: Sie ist doch gerade erst eingezogen, da fehlt einem schon mal was, das man bei den neuen Nachbarn ausleihen kann ... Das ist doch nun mal so. Aber er wollte nichts davon wissen und hat dich eine Fotze genannt. Und letzte Woche hab ich mit ihm Schluss gemacht.“
„Er hat’s nicht kapiert ...“
„Er hat nicht damit gerechnet, dass du in der Wohnung warst. Er hätte sich nicht so aufgeführt, wenn er’s geahnt hätte.“
„Scheiß Kerle“, sagte ich.
Elke sah mich lange an. „Vermisst du sie manchmal?“
„Keine Spur.“
„Ich glaube“, sagte Elke und richtete sich auf, „der Anfang ist das Schwierigste, oder?“
Ich strich ihr die Tränen aus dem Gesicht.
„Frau Herder, bitte! Andernfalls öffnen wir mit Gewalt!“
Ich sagte: „Überhaupt nicht.“
Als wir uns küssten, blieb die Zeit stehen: der Augenblick war für immer gerettet.