Bekanntmachung

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Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wilhelm wohnte am Dorfrand. Eine schiefe Scheune lehnte sich an sein baufälliges Haus. Die Haustür stand immer offen, seine Ziegen und Hühner gingen wie selbstverständlich bei ihm aus und ein.
Wir Kinder mochten ihn. Er war immer freundlich und niemand flickte einen Fahrradreifen schneller als er. Nur das angebotene Glas Ziegenmilch lehnten die meisten von uns ab.

Wilhelm war arm und einige der Nachbarn kochten für ihn mit, brachten Lebensmittel oder steckten ihm manchmal Geld zu. Um seine schmale Rente aufzubessern, nahm er die Arbeit als Gemeindediener an. Seine Aufgabe bestand darin, Bekanntmachungen des Bürgermeisters im Dorf zu verbreiten. Dies erledigte er auf seinem alten, klapprigen Fahrrad, bewaffnet mit einer Handglocke. Er hatte verschiedene Haltestellen und klingelte so lange, bis aus jedem Haushalt jemand zuhörte.
Mit zunehmendem Alter wurde er etwas seltsam. Er verlegte seinen Dienst in die Abend- und Nachtstunden. Seine Glocke schwieg seitdem, er klingelte stattdessen an den Türen. Er las auch nicht mehr vor und so konnte es passieren, dass nachts um 23.00 Uhr Wilhelm wortlos im Hauseingang stand und seinen Zettel von sich streckte.
Tagsüber sah man ihn kaum noch und wir reparierten unsere Fahrräder selbst. Nur bei Dunkelheit huschte er als dunkler Schatten durch die Gassen

An seinem Fahrrad brannte nie ein Licht. Der Autofahrer sah ihn viel zu spät und ich weiß bis heute nicht wie sie geschmeckt hätte, seine Ziegenmilch.
 

molly

Mitglied
Hallo Franke,

Wenn ich bei meiner Tante auf dem Dorf war, fand ich den Gemeindediener sehr interessant. Ich kann mich noch gut an ihn erinnern. Wir standen im Halbkreis um ihn, keiner wagte, hinter ihm zu stehen, er war eine wichtige Persönlichkeit.
Danke Dir für die kleine Geschichte, die meine Erinnerungen an das Dorf geweckt hat.

ich weiß bis heute nicht wie sie geschmeckt hätte, seine Ziegenmilch.
Schön!
Viele Grüße
molly
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Molly!

Als ich noch auf dem Dorf wohnte, fand ich es furchtbar langweilig. Jahrzehnte später liefert es mir eine Geschichte nach der anderen.
Danke für deinen Kommentar!
Danke auch den anderen Wertern!

Liebe Grüße
Manfred
 
Hallo Franke,

dieser Text gefällt mir wesentlich besser als der andere ("Zur Quelle"). Er zeigt dem Leser ein Bild, vermittelt eine Stimmung.

LG SilberneDelfine
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo SilberneDelfine!

dieser Text gefällt mir wesentlich besser als der andere ("Zur Quelle"). Er zeigt dem Leser ein Bild, vermittelt eine Stimmung.
Da geht es mir genauso und zeigt, dass nicht jeder Text gelingen kann. Aber "Zur Quelle" werde ich überarbeiten.

Danke und liebe Grüße
Manfred
 
G

Gelöschtes Mitglied 14616

Gast
Solche Erinnerungen lese ich sehr gerne. Ich hoffe, du lieferst in dieser Richtung weiter.

Hier hast du uns in Kürze und mit wenigen Worten intensiv an deinen Erinnerungen an Wilhelm teilhaben lassen. Und viele (aber gewiss nicht alle!) Leser werden ein wenig schlucken, wenn sie deinen emotionalen Schlussabsatz lesen.

LG
Cellist
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Cellist,

da wird sicher noch einiges kommen. Je länger ich von diesem Dorf weg bin, um so intensiver holt es mich ein.
Wie ich in einer anderen Kurzprosa geschrieben habe, schläft das Raubtier zwar meistens, aber immer wieder schlägt es auch zu.

Danke für deinen Kommentar!
Danke auch an die anderen Werter!

Liebe Grüße
Manfred
 

Ji Rina

Mitglied
Mir gefällt es, dass du uns an deinen Dorf-Erinnerungen teihaben lässt.
Das Ende kam für mich unerwartet...Sowie du es beschrieben hast, ohne einen Unfall direkt zu benennen,
klingt es traurig poetisch.
Mit Gruss, Ji
 

Franke

Foren-Redakteur
Teammitglied
Danke Ji,

es war auch ein sehr trauriger Moment für das ganze Dorf.

Danke und liebe Grüße
Manfred
 



 
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