Benn 1934 - Der Judaskuss

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D

Daudieck

Gast
Tja Benn...

Eine bemerkenswert fundierte Diskussion über den berühmtesten deutschen Lyriker des 20. Jahrhunderts. Auch ich habe ein zweischneidiges Verhältnis zu ihm, und ich möchte es etwas drastisch formulieren: Mit Gottfried Benn bewundere ich einen Faschisten - von 1933 bis 1937 gab er sich offen als solcher zu erkennen, später schwenkte er um, im Eindruck der zunehmend brachialen Nazis. Zwar brachte Benn Hitler und seinen SA-Schlägertrupps nie Symphatie entgegen, doch seine Gefühlswelt war bestimmt von der Polarisation von Hochmenschentum und Verfall, diesem Spannungfeld konnte er nie entkommen, es prägte ihn zeitlebens - insofern hat mich Benn manchmal an Stefan George erinnert.

Benn war Arzt für Geschlechtskrankheiten, vulgo ein Tripper- und Syphilis-Doktor - in seinem weltbekannt gewordenen Morgue-Zyklus dokumentiert er mit erschütternder Eindringlichkeit seine Verzweiflung am Menschen, an seiner Schwäche, an seiner Vergänglichkeit, an seiner jammervollen Existenz - diese Horrorbilder wurden auch zu Metaphern seines intelektuellen und damit seines lyrischen Menschenbildes. Gottfried Benn hatte es penetrant mit der ach so herrlichen Antike, er war dem Denken des Fin de siècle verhaftet, einer für die Jahrhundertwende typisch deutschen Sehnsucht, die mit dem Ersten Weltkrieg kurzfristig in den Blutseen erstickte, doch mit Versailles umso intensiver wieder von Deutschland Besitz ergriff.

Über Friedrich Nietzsche streitet man sich noch heute verbittert - für mich war Nietzsche der zentrale Wegbereiter des teutonischen Übermenschentums, dieses fiebrigen Irreseins, dieses Wahns, der auch Gottfried Benn wie eine Pest befiel. Er war ein Dichter seiner Zeit, ein großartiger Dichter, ein genialer Lyriker - aber ihm fehlte letzten Endes der Durchblick, er war kein Philosoph, kein unbestechlicher Analytiker des Weltgeschehens seiner Zeit.
 

Ralf Langer

Mitglied
hallo daudieck,
auch dir ein dank für deine einlassung.
leider entfernen sich - auch meine - kommentare immer mehr von meinem text.
nichtdestotrotz möchte ich abschließend folgendes noch hier lassen:

es ist eine sehr persönliche meinung. ich habe mich in den letzten jahren intensiv mit benn anhand einer komplett ausgabe - einer werksausgabe- beschäftigt. zusätzlich las ich über die feiertage zwei biographien. mir schwirrt ein wenig der kopf.

aber ich habe benn in zwei teile geteilt. auf der einen seite habe ich sein werk, auf der anderen sein leben - das im übrigen noch weitere brüche als nur mit den nazis aufweist.

als dichter bin ich bei seinem werk.
und ich werde ersteinmal bei diesem werk verweilen.

lg
ralf
 



 
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