Arno Abendschön
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Und Sie, wie haben Sie jenen Abend erlebt, wann haben Sie davon erfahren? – Mit leichter Verzögerung, habe einen Film angesehen, während es geschah und das Chaos begann. – Welchen Film? – Einen von Xavier Dolan: Sag nicht, wer du bist (Tom à la ferme), sah ihn zum ersten Mal, seltsames Zusammentreffen. Das ist ja ein Film über die Faszination des Bösen. Noch benommen von der Handlung schaltete ich den DVD-Player aus und war mitten in einer aktuellen Fernsehsendung. Dabei bin ich dann längere Zeit geblieben … Zwischendurch rief R. an, weinte viel. Es gelang mir, ihn zu beruhigen, weniger mit Argumenten (Wir leben ja noch, das hat man doch schon lange kommen sehen …), mehr durch den Klang der Stimme, nehme ich an.
Mäßig geschlafen und am anderen Morgen Erleichterung – sie haben den Täter! Ich ging in den Supermarkt nebenan einkaufen, später zur Bank. Nach dem Mittagessen den Roman weitergelesen, Gerbrand Bakkers Oben ist es still, feines Buch mit kleinen Fehlern, die nicht wirklich stören. So viel an Beobachtung, an Gedanken, und man kann sich hineinlesen, wie in einen weiten Raum, in dem man sich für lange Zeit einrichtet. Später rief ich T. an, meinen ältesten Freund überhaupt. Natürlich hatte er zum Breitscheidplatz fahren müssen und war enttäuscht worden, es gab nicht mehr viel zu sehen. Wir stimmten in allem überein, wir waren nicht schockiert – man hat das doch schon lange kommen sehen … Wir konnten sogar schon wieder über ganz anderes reden. Er hat ein schlechtes Gewissen, da er in letzter Zeit so selten Sport macht. Und ich war neulich beim Augenarzt, ich brauche keine neue Brille. Morgen, sage ich ihm noch, will ich mir eine Ausstellung in Potsdam ansehen. Wir wollen uns im Januar mal treffen. Dann rufe ich R. an, dem es besser geht. Ihn sehe ich schon Ende der Woche wieder.
Abends Ernüchterung: Sie hatten den Falschen und müssen weitersuchen. Ich registriere in den Medien die Rituale der Ermutigung. Mir kommen sie leer vor, aber vielleicht brauchen andere sie. Ich ärgere mich sogar ein wenig. Ist das Freiheit: gemeinsam unter freiem Himmel Glühwein trinken? Nicht freie Wahlen, Demonstrationen, freie Meinungsäußerung? In den meisten Online-Plattformen der großen Zeitungen ist die Kommentarfunktion abgeschaltet. Was sind unsere Werte und wie praktiziert man sie? Darüber könnte man lange streiten. Stattdessen sehe ich mir Dolans exzellenten Film ein zweites Mal an. Pierre-Yves Cardinal ist ein schöner gefährlicher Mann und sein Francis verführt einen, sich mit Tom zu identifizieren.
Heute ist der 20. Dezember 2016. Die Fahndung läuft noch immer und ich werde doch nicht nach Potsdam fahren. Man muss nicht unbedingt durchs Berliner Zentrum, ich kann auch mit der Ringbahn zum Westkreuz und dort umsteigen. Das ist es nicht, sondern: Ich weiß, dass mein Kopf jetzt nicht klar genug ist für jene Bilder. Die wilden 80er Jahre? Wie lang das her ist, wie weit dahinten. Ich würde mich auf einmal alt fühlen. Wahrscheinlich fahre ich nach dem Essen ein Stück weiter nach Norden. Da ist ein Waldpark, den ich im Sommer bei großer Hitze manchmal besuche. Mal sehen, wie er heute wirkt.
Mäßig geschlafen und am anderen Morgen Erleichterung – sie haben den Täter! Ich ging in den Supermarkt nebenan einkaufen, später zur Bank. Nach dem Mittagessen den Roman weitergelesen, Gerbrand Bakkers Oben ist es still, feines Buch mit kleinen Fehlern, die nicht wirklich stören. So viel an Beobachtung, an Gedanken, und man kann sich hineinlesen, wie in einen weiten Raum, in dem man sich für lange Zeit einrichtet. Später rief ich T. an, meinen ältesten Freund überhaupt. Natürlich hatte er zum Breitscheidplatz fahren müssen und war enttäuscht worden, es gab nicht mehr viel zu sehen. Wir stimmten in allem überein, wir waren nicht schockiert – man hat das doch schon lange kommen sehen … Wir konnten sogar schon wieder über ganz anderes reden. Er hat ein schlechtes Gewissen, da er in letzter Zeit so selten Sport macht. Und ich war neulich beim Augenarzt, ich brauche keine neue Brille. Morgen, sage ich ihm noch, will ich mir eine Ausstellung in Potsdam ansehen. Wir wollen uns im Januar mal treffen. Dann rufe ich R. an, dem es besser geht. Ihn sehe ich schon Ende der Woche wieder.
Abends Ernüchterung: Sie hatten den Falschen und müssen weitersuchen. Ich registriere in den Medien die Rituale der Ermutigung. Mir kommen sie leer vor, aber vielleicht brauchen andere sie. Ich ärgere mich sogar ein wenig. Ist das Freiheit: gemeinsam unter freiem Himmel Glühwein trinken? Nicht freie Wahlen, Demonstrationen, freie Meinungsäußerung? In den meisten Online-Plattformen der großen Zeitungen ist die Kommentarfunktion abgeschaltet. Was sind unsere Werte und wie praktiziert man sie? Darüber könnte man lange streiten. Stattdessen sehe ich mir Dolans exzellenten Film ein zweites Mal an. Pierre-Yves Cardinal ist ein schöner gefährlicher Mann und sein Francis verführt einen, sich mit Tom zu identifizieren.
Heute ist der 20. Dezember 2016. Die Fahndung läuft noch immer und ich werde doch nicht nach Potsdam fahren. Man muss nicht unbedingt durchs Berliner Zentrum, ich kann auch mit der Ringbahn zum Westkreuz und dort umsteigen. Das ist es nicht, sondern: Ich weiß, dass mein Kopf jetzt nicht klar genug ist für jene Bilder. Die wilden 80er Jahre? Wie lang das her ist, wie weit dahinten. Ich würde mich auf einmal alt fühlen. Wahrscheinlich fahre ich nach dem Essen ein Stück weiter nach Norden. Da ist ein Waldpark, den ich im Sommer bei großer Hitze manchmal besuche. Mal sehen, wie er heute wirkt.