Blutiger Beginner
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Während er still und friedlich schläft, packt sie ihre Sachen. Sie, Anfang 30, studierte Sozialökonomin, Projektmanagerin in einem mittelgroßen Telekommunikationsunternehmen. Mittelprächtiger Job, mittelprächtiges Gehalt, kein Grund um sich zu beklagen aber auch nicht, um Freudenssprünge zu vollziehen. Man kennt das ja. Die Routine, das Gefühl, dass irgendwas fehlt. Sie fühlt sich scheiße, ohne so recht sagen zu können, warum eigentlich. Die Schuld dafür gibt Maike Jan, der immer noch nichtsahnend tief und fest schläft, während sie ihre letzten Sachen zusammen sucht und die Wohnung verlässt. Jan, Maschinenbaustudent, gerade einmal 24, ist das genaue Gegenteil von Maike. Er hat viel Freizeit, die er mit zahlreichen Hobbies ausfüllt. Tennis, Fußball, Jusos, sogar ein kleines Startup, mit dem er eine Verkaufsplattform für Sensoren aufbaut. Er ist groß gewachsen, kräftiger Körperbau, stilsichere Kleidung, gepflegt, schöne glatte Haut und wache, blaue Augen. Er hat die Energie eines 20-Jährigen und Umgangsformen wie ein 35-Jähriger. Er versteht sich gut mit Maikes Freunden und der Altersunterschied fällt nie auf. Maike gibt ihm die Schuld dafür, dass sie sich schlecht fühlt, auch wenn sie weiß, dass er eigentlich nichts dafür kann. Wäre er der Richtige, sagt sie sich, könnte es ihr ja nicht schlecht gehen. Dann wäre der Arbeitsalltag nur zweitrangig und sie wäre trotzdem glücklich. Angemessenes Gehalt, keine Überstunden, all das als Basis ist doch okay. Die Wahrheit ist, Jan ist zu perfekt für sie. In allem. Er macht, worauf er Lust hat, und das auch noch erfolgreich. Ihre Sinnkrise kann er überhaupt nicht nachvollziehen, keinen Zentimeter. Er glaubt, dass es eine Phase ist und wird es wohl nie verstehen. Das ist das eigentliche Problem. Dass er sie nicht versteht. Und selbst wenn er sie verstehen würde, würde das die Beziehung nicht mehr retten, denn es würde nur bedeuten, dass er dem ganzen Elend bis auf den Grund sehen könnte und das würde die Distanz nur noch größer machen und es würde ihn unattraktiv erscheinen lassen, weil sie an ihm seinen Pragmatismus schätzt. In seinem Leben geht es um Inhalte, er ist liebevoll aber nicht sentimental und Probleme sind immer rationaler Natur und können schnell gelöst werden. Maike wartet auf die letzte U-Bahn. Sie sollte eine Zeit lang ohne Freund leben, denkt sie sich. Oder sich einen Freund suchen, der ein bisschen mehr Macken hat und mit ihm gemeinsam lachend und weinend das Leben verfluchen. Sie steigt in die U-Bahn, es ist die Ringbahn. Sie fährt einmal im Kreis. Dann geht sie zurück in die Wohnung, nimmt eine Schere, schneidet Jan die blonden Locken ab und schläft ein.