Bruchstücke

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Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Aus Dezembernebelpupillen

Meine Gedanken hegeln sich aus wittgenschen Steinen heraus.
Sie ent- und verzehren das synaptische Gestrüpp.
Was werden wir tun, was werden wir tun,
Schreit mein Hirn…
Bilder wie Texturen überschatteten den Tag
Es begann mit dieser weißen Taube
Die sich am Fensterglas das Genick brach
Ihre toten Augen brachten meine Besinnung zur Besinnung
Und ich nahm das letzte Blatt
Vom allerletzten Baum
Legte meine Dunkelheit hinein
Bettete das Blatt zur Ruh
Und ging
… in zerebraldualistischer Erwartung
Im aufgehenden Mond unter
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Der beständige vollmondige Schein der Straßenlaterne, der in mein Schlafzimmer fließt, lässt mich ruhelos durch den nächtlichen Ort ziehen. Ich zähle Häuser und deren Bewohner, erzähle mir ihre Geschichten, um ein wenig zur Ruhe zu kommen. Der große Bruder meines Mondes gaukelt mir ein Licht, von dem ich weiß, dass es nicht ist. Windzerblasene verlorenverwehtschwebende Töne eines Schifferklaviers verfolgen mich durch die Straßen. Ich empfinde alles was ist, geradeso wie es ist. Erkenne: Es ist kalt. Die Steine, das Licht, die Töne, der Weg. Greife nach einem Stein am Wegesrand. Nehme mir vor nach Hause zu gehen und meinen Mond auszublasen. Windverzerrte verlorenverwehte Töne verfolgen mich bis in den Schlaf hinein.

Ich träume.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Du!
Jetzt iss de Werner verschwunden.
Wär vielleicht keinem aufgefallen, hätt der nicht seine Rituale.
Jeden Tag sein Gang zu unserem Lebensmittelladen.
Ein kleines Päckchen Marlboro Mix und ein Rubbellos.
Hier und da was zu Essen.
Montags bis Samstags.
Samstags natürlich zwei Päckchen Marlboro und zwei Rubbellose.
Er wohnt hinten im Kirchspiel, im Haus seiner Mutter.
Hat gewohnt?
Auf jeden Fall im Haus seiner Mutter.
Einen Vater hatte der Werner nicht.
Also so ‘nen richtigen Vater.
War wohl ein Ami, dem sein Vater.
Vom Luftwaffenstützpunkt in Erbenheim.
Die Leut hier in Delgem haben sich immer drüber lustig gemacht,
über dem Werner seinen Vater.
Von wegen als der am Morgen danach die Mutter vom Werner im Hellen sah,
der die Flucht ergriffen und ab mittem nächsten Flieger in die Staaten.
Muttersöhnchen, habense den Werner genannt.
War immer so `en Kleinlaute.
Bei dem klangs immer so, als kämen die Worte auf Zehenspitzen daher.
Da mussteste die Lauscher aufsperren um den zu verstehen.
‚Un Werner, wie gehts dir so?‘
‚Geht schon‘.
Viel mehr haste von dem nicht gehört.
Hat beim Antworten immer so in sich hineingelacht.
So duckmäuserisch, wenn de verstehst was ich mein.
Hat zu ihm gepasst, war höchstens 1,60, de Werner.
Schaffe musst de nix.
Ei die weil dem Werner sei Mutter Ackerland verkauft hat.
Mindestens ne Million, ham die Delgemer geflüstert.
Und im gleichen Augenblick:
‚Aber was hilfst der, so wie se aussieht‘.
Na ja, wie auch immer…de Werner war halt da.
So ein bisschen da halt.
Un jetzt isser weg.
Wär, wie gesagt, eigentlich keinem aufgefallen.
Aber die Rituale.
Als der so zwei Wochen oder so nicht in de Lade kam,
hats der Besitzer vom Laden gemerkt.
Wahrscheinlich am Geld, was in de Kass gefehlt hat.
Die Polizei iss dann ins Haus, ei die weil die gedacht ham,
dass der da liegt.
Aber denkste!
Nix…kein Werner.
Un natürlich gleich all am schwätze.
Von wege , dass der sich ab gemacht hat.
Mitt de Million.
Irgendwohin wo´s warm iss.
Aber ich denk mir, dass de Werner gar nicht wüsst, was er da soll.
Wo auch immer das sein soll.
Ich mein, alles was der braucht, sin die Zigaretten un es Los.
Wenn de mich fragst, hat der sich einfach aufgelöst.
Ei die weil der im Laufe der Zeit immer weniger wurde.
Wenn ich den Werner sah, dacht ich immer:
Bald sieht mern nicht mehr.
Ich hab dann oft zu ihm gesagt: ‚Ei Werner, du musst mehr essen‘.
‚Geht schon‘ hat der dann geantwortet und lächelnd geduckmäusert.
Ja, ich glaub, unsern Werner iss der erste Mensch, der sich in Luft aufgelöst hat.
Einfach so.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Auf der Wolkenbank saß Gevatter Tod.
Er blickte auf die Landstraße, die ich gerade befuhr,
hinunter,
und zeigte mit seiner Sense auf eine Krähe,
die ein paar Meter vor mir die Straße kreuzte.
Wie vom Blitz getroffen stürzte sie auf die Fahrbahn,
wo mein linker 175ger Vorderreifen ihr einen Haken verpasste,
der Ali-like so was von gesessen hatte,
dass sie sich, wie ich im Rückspiegel beobachtete,
in Zeitlupe um die eigene Achse tanzend dem Tod ergab.
Ginger Rogers kam mir in den Sinn.
Dieser taumelnde Todestanz,
umgeben von ihrem umherfliegenden Federkleid, so voller Grazie.
Technischer Wert 8,5. Choreographie 10.
Gleich kämen Krähen um die Reste zu epilogen.
Around and around.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Manche Dinge bleiben am Wegesrand liegen.
Der Vogelknochen, den mir mein Bruder als Dinoknochen verkaufte.
Die 10er Murmel, mit der ich damals den ganzen Pott kassierte.
Ewig offene Wunden.
(Sich in diesem Wissen wie Jesus fühlen).
Die Sanduhr vom Mond. Ein Geschenk des kleinen Prinzen.
(Der Sand darin floss nach oben. Man konnte mit ihr die Zeit nicht nur
anhalten, man konnte sie zurück drehen. Leider wurde sie durch die
aufsteigenden Sandkörner immer leichter und entschwand Richtung
Mond. Aber ich sah mich … dieses eine mal).
Das erste Gespräch mit den Fischen (die Wellen übersetzten).
Kilgore Trout´s Lächeln, als er mir die Hand schüttelte.
Die letzten Stunden an Mutters Seite.
Küsse und ‚machs gut‘.
Stimmen.
Liebe und Himmel und Hölle und Hölle.
Den Tod im Arm zu halten. Zu tragen. Schwer, so schwer.
Träume ...
... und irgendwo dazwischen Gott.
Ich möchte dem Nichts
alles überlassen.
Den Zufall,
mich, das Universum.
Auch Gott.
All die Abziehbilder meines Seins.
Ich am Wegesrand. Wie ich mir zuwinke auf meinem Weg.
 

John Wein

Mitglied
Der Wegrand, als zweifache Metapher und Reflektion eines Vorbei- und eines Vorübergehens, rückblickend und geerdet endend. Wieder ein stilles und melancholisches Nachdenken von Dir über das Sein. Ich liebe deine Gedanken!

Mein Weg und ich, das ist auch so Eins. Wir kennen uns, lieben uns und manchmal hassen wir uns und können doch nicht voneinander. Es ist eine ganz natürliche Liebesbeziehung gerade jetzt im Angesicht der Unvermeidlichkeit des Endes eines immer Weiterwollens, Könnens. Ich wage es noch einmal! Zum letzten Mal? Wer weiß das schon?!

Dir einen Guten Weg, mein Freund oder buen camino!
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Du!
Jetzt hab ich gedacht, dass ich unbedingt was Schreiben muss.
Ei die weil ich Angst hab vor der Sprachlosigkeit.
Ich hatte mirs ja gedacht.
Eigentlich wars ganz klar, dass es so kommen muss.
Andererseits dacht ich: So irre kann er doch nicht sein.
Und dann wirste wach…ganz maues Gefühl im Magen.
Blick aufs Handy: Eilmeldung!
Brauchste gar nix mehr lesen, weißte Bescheid.
Was geht nur ab auf dieser Welt?
Als hätten wir nicht genügend Scheiße am Bein.
Klimawandel, Corona.
Und über allem diese Glocke aus Hoffnungs- und Hilflosigkeit.
Das greift tief in einen hinein.
Haste nicht gesehen, liegt die Glocke über deinem Hirn.
Wirste gedankenlos…wie soen Zombie.
Und aus den Staaten ruft derweil der Oberzombie Trump:
Wäre ich an der Macht, hätte es diese Invasion nicht gegeben.
Mir scheint, das Schlimmste steht uns noch bevor.
Zombies…überall.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Lass es sein

bitte male die konturen meines gesichts rot/
mit dicken blauen
sich schlängelnden adern auf den schläfen/
male mir mein wissen um die endlichkeit
in die augen/ augen
durch die sich ein ganzes leben zieht/
ein leben ohne den trost eines gottes/
male mir dies in die augen und zerknülle
das gesicht wie ein stück papier/
ein stück papier auf dem alles geschrieben steht/
alles/ und von dem der schreiber erkannte
wie bedeutungslos dies alles war/
bitte male mir mein leben ins gesicht/
lasse nichts aus/ lass es sein
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
du!
gerade kam der erste frühlingsduft in meine Nase an.
ich glaube, der flügelschlag der kraniche über mir brachte ihn mit.
da war so was meerisch zederisches, so was erdisches, aufgewühltes,
so was lebendig buntes drinnen. so was jungbrunnenhaftes,
das erinnerungen weckt.
kaum waren die kraniche mit einem gruß vorübergezogen,
hörte ich auch schon das gras wachsen, hörte, wie sich die wurzeln
der pflanzen und bäume reckten und streckten,
wie sie ihr lied vom licht und der wärme sangen.
ein zimtbär raupte vorüber, erzählte mir seinen traum vom fliegen.

dufte, bunte, ling ling ling.
wärme, lichte, mich.
Recken, strecken, fliegen,
lieben…dich, ja dich, nur dich.
träumen, schäumen, übermütig
knospen, werden, sein.

einfach daran glauben, dass es so weiter geht mit diesem ewigen frühling.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
metro/kiew

ein dumpfer ton,
der nicht verklingt.
ein bild,
aus asche auferstehend,
sich immer wieder
selbstverbrennend.
ein hoffnungsschimmer,
der im traum beginnt
und stirbt.
eine träne,
die ihren weg nicht findet.
eine trauer,
die das leben bindet.
ein sterben,
das nie wirklich endet.
ein ich,
das leise ist.
dessen wesen
in all jenem mündet,
das ihn geformt
und still beweint.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich schrieb dieses Gedicht vor einigen Jahren. Gedanklich verloren, fand ich es in den Bildern der Metro in Kiew wieder.
In den Gesichtern der Menschen, im dumpfen Klang der Sirene, der durch die Metro geisterte.
Ich hatte es damals genau für diesen Augenblick geschrieben.
 
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Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Du!
Jetzt, also gestern, ich aufem Friedhof.
Da stand auf `nem Stein: Memento Mori
Gedenke, dass du sterblich bist.
Ich für mich so gedacht: Aber hallo.
Krieg, Tschernobyl, Corona.
Und gerade als ich mich schon schwer am bedauern war,
kam mein Kopp ins Spiel.
Zur Erklärung: Mein Kopp ist oft nicht meiner Meinung.
Von wegen: Ja, ja!
Genau dieses ‚ja,ja‘ posaunte es nun in einem weinerlichen Ton.
Motto: Bist schon ein armer Kerl.
Ich dem Hirn gleich mal `nen Gedanken hingerotzt:
Ist doch so…alles Scheiße!
Worauf mein Hirn: 'Wo bisten gerade'?
‚Ja hier, in Delgem'.
Du…da hat mein Hirn angefangen zu lachen. Frag nicht.
‚Ja wie, was gibts denn da zu lachen'?
‚Na ja…ich dachte schon, du seist in der Ukraine‘.
‚Willst du mir etwa meinen Anspruch auf Angst absprechen‘?
‚Nein, aber deine Überhöhung der Angst.
Tust grad so, als würden die Bomben auf dich fallen…
…grad so, als wärste schon tot. Mach die Augen auf‘!
Und du…das hab ich dann gemacht.
Die Sonne schien, die Vögel erzählten vom Frühling.
Es war warm und still.
Keine Detonationen, kein Weinen.
kein Gefühl der Ohnmacht, keine Hoffnungslosigkeit.
Einfach nur ein schöner sonniger Tag.
‚Vita vivet…hörte ich mein Hirn flüstern.
Vita vivet!
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Augen zu

Wir können nichts dafür
Waren immer gut
An vorderster Front
Wenn es darum ging

Nun ist er da
Und wir fragen uns
Woher er kam
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Heute tragen alle Straßen, die ich gehe, Trauer.
Keine Totenglocken sind zu hören, nur Trauer ist zu spüren.
Du – am Ende der Stadt, am Ende der Straßen, bist tot.
Niemand kennt Dich, kannte Dich. Nur ich.
Es ist schön an Dich zu denken.
Fast warst Du ein Teil von mir.
Zum Glück nur fast, der Rest blieb mir Geheimnis, blieb bei Dir.
Strahlend schön waren Deine Augen, solange ich Dich lieben durfte.
Danach gab ich sie Dir zurück.
 



 
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