Bruchstücke

4,60 Stern(e) 72 Bewertungen

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die Glocken läuten. Jedes Mal wenn ein Mensch zu Grabe getragen wird. Ob du wohl jetzt oben im Glockenturm stehst? Behauptet hast du es zu Lebzeiten immer.
„Wenn sie mich beerdigen, werde ich oben im Glockenturm stehen und meinen letzten Weg beobachten. Ich werde sie mir anschauen, die falschen und die echten Tränen. Die Heuchler und die Wahrhaftigen. Und lachen werde ich über ihre Tränen. Wirst schon sehen.“
Sehen kann ich es leider nicht, lieber Karl. Aber bei dir halte ich alles für möglich. Du warst das letzte Unikum hier im Dorf, und deine Mitmenschen hielten dich wohl größtenteils für einen Spinner und Träumer.
Abends in der Dorfkneipe, wenn er leicht angetrunken von seinen Abenteuern in der Welt erzählte, waren Timbuktu und der Kilimandscharo direkt um die Ecke. Fasziniert lauschten wir den Worten, um uns nach seinem Gehen über ihn und seine Phantastereien lustig zu machen. Und doch machten mich Karls Geschichten neugierig. Sie waren irgendwie zu lebendig, um vollkommen erfunden zu sein. Möglich war alles, war er doch erst im hohen Alter zu uns ins Dorf gezogen.
Eines Abends, beim Bier und einer seiner weltweiten Geschichten, fragte ich ihn, ob es Beweise für seine Erlebnisse gebe.
„Komm mich morgen besuchen, und ich zeige dir die für dich so wichtigen Beweise. Könntest du zuhören, bräuchtest du sie nicht.“
Zugegeben, ich war schon recht neugierig, aber dass, was ich in seiner Wohnung vorfand, übertraf doch alle meine Erwartungen. Es war sein Wohnzimmer, das mich umhaute und mir ein „WOW“ entlockte. Statt mit einer Tapete, waren Karls Wände mit Polaroid-Fotos zugekleistert. Tausende von Bildern schmückten die Wände.
„Siehst du Bürschen, hier sind deine Beweise. Fotos aus aller Herren Länder. Länder die ich im Laufe meines Lebens bereist habe. Schau dich in Ruhe um. Wenn du Fragen hast, erzähle ich dir gerne etwas zu den Aufnahmen.“
„Warum haben sie die Bilder nicht in Alben geklebt. Das sieht, wie soll ich sagen, ein wenig merkwürdig aus.“
„Erstens! Nenn mich bitte Karl. Zweitens! Du hast es erfasst. Bilder sind merkwürdig. Sie haben es verdient, sich ihrer zu erinnern. Merkwürdig! Wann schaut man schon einmal in seine Fotoalben. Sie verstauben und mit ihnen unsere Erinnerungen. Aber diese Erinnerungen sind mein Leben und ich möchte es um mich herum haben.“
„Ja, wenn man es so sieht.“
„Welches Foto schaust du dir denn an, Bürschen? Das hier? Das ist die Festung Hohensalzburg. Damals, im Januar 1958, schneite es wie verrückt. Frau Holle hatte einen guten Tag. Auf jeden Fall stand ich oben auf der Festung und gönnte mir einen Blick auf die Stadt, als ein Aufwind die Festungsmauern traf. Von einem auf den anderen Augenblick flog der Schnee nach oben und ich hatte den Eindruck, in einer Schneekugel zu stehen, und der Himmel würde gleichzeitig einen Kopfstand machen.“
Karl hatte eine Art seine Geschichten zu erzählen, die es unmöglich machte, nicht hineingezogen zu werden in den Strudel aus Worten und Bildern.
„Ja, ist das nicht ein schönes Bild? Der Strand, diese Palmen und das Meer. 1972 auf den Bermudas. Ich habe dort einen unvergesslichen Tauchurlaub verbracht. Kann mich noch gut an diesen einen Tauchgang erinnern. Die Einheimischen hatten mich noch vor den Barracudas gewarnt. Umsonst. Dieser riesige Schwarm hatte eine magische Anziehungskraft. Langsam und vorsichtig näherte ich mich ihnen. Mit einer plötzlichen Bewegungsänderung hatten sie mich eingeschlossen. Aber sie waren keineswegs aggressiv. Ich war ein Teil des Schwarmes geworden. Ihre Farbe glich der Oberfläche des Meeres. Schiefergrau und silbrig leuchteten sie, als ob sie die Oberfläche des Meeres spiegelten. Plötzlich hatte ich den Eindruck, dass die Wasseroberfläche nicht mehr über mir, sondern seitlich von mir war, und da ich ja inmitten des Schwarms schwamm, es nicht nur eine, sondern zwei Oberflächen gab. Fast wäre ich in diesem tiefen Eindruck ertrunken.“
„Faszinierend, lieber Karl.“
„Schau dir nur dieses Bild an. Paris von der zweiten Aussichtsplattform aus gesehen. Und siehst du den Papierflieger? Das Bild wurde 1974 aufgenommen. Der Papierflieger flog bis in die Seine und ich wurde erster Weltmeister in den Papierfliegerbau- und Flugweltmeisterschaften.“
Karl erzählte mir noch viele Geschichten, Ich war immer versucht ihm zu glauben, und im nächsten Augenblick hielt ich ihn für den Münchhausen der Neuzeit. Bei einem meiner nächsten Besuche führte mich Karl in ein Zimmer, dass ich vorher noch nie betreten hatte.
Der Raum war leer bis auf einige Wandregale. Auf ihnen standen Hunderte von Schneekugeln. Kugeln aus allen Kontinenten. Karl zeigte mir seine schönsten Exponate und hatte natürlich für jedes Ausstellungsstück eine Geschichte parat.
„Schau! Das ist meine Lieblingskugel. Siehst du die blaue Flüssigkeit. Durch einen unsichtbaren Plastikboden ist sie vom Rest der Kugel getrennt. Ein kleiner blauer Ozean. Wenn man die Kugel schüttelt, fällt Schnee auf den Ozean. Welch beruhigender Gedanke.“
Oft war ich bei dir zu Gast. Habe zugehört und gelernt. Länder mit dir erforscht, Menschen, Natur und Tiere kennen- und lieben gelernt. Ich habe dich und deine Geschichten nie hinterfragt, denn für mich waren sie Wahrheit.
Bei unserem Gespräch, kurz vor deinem Tod, sagtest du noch, dass du nach der Trauerfeier vom Glockenturm springen und dir den Rest der Welt anschauen wirst.
Jetzt stehe ich hier im Hof und blicke zum Kirchturm. Bin nicht zur Beerdigung gegangen. Hier bin ich dir näher. Also mach es gut Karl, und grüße mir die Welt. Eins noch, lieber Freund. Ich danke dir dafür, dass du mir alle Bilder vermacht hast. Ich habe ein Zimmer meines Hauses damit beklebt und kann meinen Urlaub kaum noch abwarten. Dann werde ich das Zimmer betreten und meine Augen schließen, um mich schließlich im Kreis zu drehen und blindlings mit ausgestrecktem Finger an eine Wand zu laufen. Ich werde meine Augen öffnen und sehen, wohin mich meine erste Reise führt. Vielleicht treffen wir uns dort. Deinen Geist werde ich bestimmt finden.
 

John Wein

Mitglied
Na ja, mein Lieber ,vielleicht treffen wir uns dann mal unter dem Johannisbrotbaum. „Ich fürchte nichts, ich erhoffe nichts, ich bin frei!“
Nachdenkliche Grüße,
J.W.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Letzten Oktober besuchten wir mit unserem kretischen Freund Niko und dessen Frau Helga das Grab von Kazantzakis in Heraklion. Es liegt auf der alten Stadtmauer. Von diesem Ort des Friedens aus hat man einen wundervollen Blick über die Stadt, die Berge, das Meer. Diesen Oktober werden wir wieder dort sein.
 

John Wein

Mitglied
Steckt nicht in jedem von uns ein kleiner Hellene? Schau mal PN! Da hab ich doch in letztem Jahr tatsächlich noch Sirtaki gelernt!:cool:
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Immer. Und immer wieder aufs Neue.

Natürlich erwartest du einen besonderen Horizont.
Deswegen biste ja da.
Wegen dem Horizont.
Und der Sonne, die dort baden geht.
Und all den Farben.
Und diesen aaahhhhhhhhhs und ooooooooohhhhs.
Aber irgendwann haste alle gesehen.
Alle Horizonte.
Die drinnen und die draußen.
Hat sich was von wegen Ah und Oh.
Scheiß Sonne, Scheiß Horizont und scheiß auf all die Farben.
Einfach nur ein Strich, ein Rund und bunt. Fertig.
Kannste dir auch keinen Reim mehr drauf machen.
Ei die weil die alle hinterm Horizont untergegangen sind.
Mitsamt all dem, was du da hinein und dahinter interpretiert hast.
Und dann kommt dieser Augenblick.

Ein Segelschiff, das auf dem Horizont wie schwerelos zu balancieren scheint.
Eingehüllt ins gelbe Rund und einer kunterbunten Wolkenpalette.
Da sind wieder, diese aaahhhhhhhhhhhhs und oooooooooohhhs.
Und schon beginnt sich dein Kopf einen Reim darauf zu machen.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Gestern

Ich liege auf meiner Luftmatratze im Pool, blicke ins Blau.
Flüchtige Gedanken.
Geradeso flüchtig wie die Schwalben, die das Blau des Himmels durchrahmen.
Da! Fuchur, aus Wolken gemalt.
Sieben Flieger. Heute mal ohne Chemtrails. Glück gehabt!
Dazwischen eine Psittaciforma Rex Wolke.
Was geht’s mir so Scheiße gut.
An anderen Orten blicken sie in den Himmel und suchen Gott.
Wer hat Recht, wer lügt?
Es gibt nicht nur eine Wahrheit.
Dieser Splitter im fremden Auge,
aber nicht den Balken im eigenen sehen.
Leben im Auge des Sturms.
Wie lange noch.
Eine Wespe setzt sich auf meinen Arm.
Trinkt.
Ich zeige keine Angst.
An anderen Orten blicken Menschen auf ihren Tod.
Zeig jetzt keine Angst.
Sei tapfer.
Und sei es nur im Auge der Wespe.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Du!
Jetzt unsern Klaus und sei Frau.
Hat mir der Klaus grad neulich erzählt,
dass das mit seiner Frau auch nicht mehr lange gut geht.
Dacht ich so für mich: Hätt ich dir schon lang sagen können.
Wie soll ich das jetzt erklären.
Hm…ach jetzt!
Ihr wisst doch, dass ich ein Astronom-Nerd bin.
Halt einer mit galaktischem Ausmaß an Nerdigkeit.
Also!
Unser Klaus und sei Frau waren mal zwei Sterne,
die die gleiche Aussicht aufs Universum hatten.
Haben die `ne Zeit lang so vor sich hingeguckt und gedacht:
Wie schön, mit dir auf unser All zu schauen.
Aber jetzt isses ja so.
Unser Universum expandiert.
Es wächst und wächst und wächst.
Und die Abstände der Sterne zueinander werden größer und größer.
Wenn de jetzt also ma einen Augenblick nicht aufpasst,
ist dein Stern in die Unendlichkeit entfleucht.
So mir nix dir nix.
Und so isses auch beim Klaus und seiner Frau.
Die haben sich aus den Augen verloren.
Irgendwann war da kein Stern mehr, kein Mikroversum im Universum.
Ich hab ja nun keine Ahnung, wann und wo wer abgebogen ist.
Spielt aber auch keine Rolle.
Vorbei iss vorbei.
Kann man nur für den Klaus und sei Frau hoffen,
dass sie auf ihrem Weg durchs All noch mal einen Stern finden.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
Du!
Iss schon klar.
Ich seh alles durch die deutsche Brille.
Aber es muss raus.
Ei die weil ich ansonsten explodiere…
…und diese Sauerei braucht nun keiner.
Ei die weil die eine Sauerei gestern genügt hat.
Um es auf den Punkt zu bringen.
Wir sind vom Schiedrichter um einen klaren Elfmeter gebracht worden.
Da gibt es einfach keine andere Sicht auf die Dinge.
Laut den Regeln der UEFA für das Turnier war das ein Elfer.
Ich weiß nun nicht, ob er reingegangen wäre.
Aber ich weiß um den Betrug an der Chance.
Und das tut weh.
Frag nicht.
Wage jetzt keiner den Namen des Schiedsrichter zu nennen.
Auch nicht im Zusammenhang mit Taylor Swift oder James Taylor.
Wage sich keiner.
Sonst explodiere ich.
Und diese Sauerei braucht keiner.
 

petrasmiles

Mitglied
Auweia, und wohin mit dem Ärger, wenn es stimmt, dass wegen Abseits (von Füllkrug) die Situation schon abgepfiffen war?
Oh je, dann müsste man damit klar kommen, dass man einfach verloren hat, ehrenvoll, aber verloren, nach einer wahren Torschussflut, aber verloren.(Nicht wie die Franzosen - haben die überhaupt ein eigenes Tor geschossen? - die Portugiesen besiegt haben, nach 120 torlosen Minuten im Elfmeterschießen - garantiert nicht irgendwie -istisch gemeint). Wie sagte es der große Rehagel? Manchmal verliert man, und manchmal gewinnen die anderen.
 

petrasmiles

Mitglied
Gewonnen haben wir, gerade auch nach der heutigen Ansprache von Nagelsmann, alle.
Nun, sein sehr emotionales Statement beeindruckt natürlich.
Aber was mir nicht recht gefallen will ist dieses 'grau in grau' und 'tristesse'. Kommt das einem, oder eine Truppe, von Großverdienern zu? Als gäbe es dafür keine guten Gründe bei denjenigen, die am meisten unter der aktuellen Politik zu leiden haben ... und dann - das sollten sich alle einmal durch den Kopf gehen lassen - ist es der Aufruf zu einem anderen Nationalgefühl. Das will ich nicht kritisieren, damit muss man sich nicht schwer tun, man ist kein bssererer oder schlechterer Mensch, wenn man es hat oder nicht. Aber mir stößt die Bigotterie dabei auf - nicht bei Nagelsmann, sondern in unserer Gesellschaft, wenn wir Deutschen mehr Nationalstolz zeigen sollen, aber dessen Ausdruck bei anderen kritisiert und bekämpft wird. Da geht etwas nicht zusammen! Ich will keinesfalls die 'Grauen Wölfe' in der Türkei verharmlosen, aber wir Deutschen sind gerade im 'Hexenjagd'-Modus 'gegen rechts' und haben Politiker, die auf dieser Welle schwimmen, indem sie sich bei dieser Jagd als Anführer erweisen. Ich wage die These, dass wenn es umgekehrt gewesen wäre, und Bellingham eine politische Geste und der türkische Stürmer eine obzöne Geste gezeigt hätte, das Urteil das gleiche gewesen wäre: Der Europäer die Geldstrafe und der Türke die zwei Spiele Sperre.

Diese Art von 'Gerichtsbarkeit' - der Wolfgruß ist in Deutschland nicht verboten - möchte ich mir nicht zum Vorbild nehmen und unsere Politiker sollen ihre Arbeit machen und nicht Bigotterie fördern.
Und ich brauche keine Symbiose mit der Nationalmannschaft und ob sie denjenigen, die sich so euphorisieren lassen, auf lange SIcht gut tun wird, halte ich auch für fragwürdig.

Sorry, Otto. Nun bin ich politisch geworden - aber ist es nicht eigentlich auch politisch?

Liebe Grüße
Petra
 

John Wein

Mitglied
Tja, man kennt oder differenziert in diesem Land einfach nicht den Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus.
In meiner Familie gibt es drei unterschiedliche Nationalitäten (D,B,NL). Wenn in D schon das Schwenken der 48ger Fahe Schwarz Rot Gold als rechts und nationalistisch dieffamiert wird, dann kann ich guten Gewissses sagen, hier stimmen die Verhältnismäßigkeiten nicht. Einigkeit und Recht und Vielfalt ist Einfalt.
In einer Atmosphäre des ständingen Hinterfragenmüssens züchtet man Duckmäuser- und Mitläufertum und keine sebstbewußten Vaterländer, und wegen mir, Vaterländerinnen.
LG
 



 
Oben Unten