(0) Chairete, ??????? ??? ??????????, Freut euch
Es freut mich sehr, Hansz, die Wiederauferstehung dieses Swing-Blues aus den Schlünden der Zeit zu erleben. Im Arbeitszimmer fand sich schon damals das uns bekannte Historisch-philosophische Lexikon, die roten Bände von Joachim Ritter.
Der Rhythmus ist seinerzeit aus einem Dance-Film übergesprungen – Hollywoodverachtung hin oder her - „Footloose“ (1984, Herbert Ross).
Und angerissen das Thema: Tanz und christliche Religion
(1) Footloose (1984)
Footloose beginnt mit einer Sequenz tanzender Füße, die Erde berührend, die Erde verlassend
https://www.youtube.com/watch?v=0WHp7d0bamo
(Footloose exposition opener)
Die religiös-puristische Gemeinde hat nach einem schweren Unfall Jugendlicher alle Tanzveranstaltungen verboten, auf Dauer. Ein neu hinzugezogener Junge hält im Gemeinderat - im Gremium der evangelikale Pastor – eine Rede. David wird apostrophiert, die Zeit zu trauern und zu tanzen.
https://www.youtube.com/watch?v=NWyURSaJixc
(Rede im Gemeinderat, wackliger Beginn, dann aber)
Die Redeklimax:
From the oldest of times, people danced for a number of reasons.
They danced in prayer or so that their crops would be plentiful or so their hunt would be good. And they danced to stay physically fit and show their community spirit. And they danced to celebrate. And that, that is the dancing that we’re talking about.
Aren’t we told in Psalm 149: ‘Praise ye the Lord. Sing unto the Lord a new song. Let them praise His name in the dance’?…
It was King David. King David, who we read about in Samuel, and, and what did David do? What did David do? What did David do? ‘David danced before the Lord with all his might, leaping, leaping and dancing before the Lord.’ Leaping and dancing!
Ecclesiastes assures us that there is a time to every purpose under heaven. A time to laugh and a time to weep. A time to mourn and there is a time to dance. And there was a time for this law, but not anymore. See, this is our time to dance. It is our way of, of celebrating life. It’s the way it was in the beginning. It’s the way it’s always been. It’s the way it should be now.
Rhetorischer Prozess: nach gebückten Anfang eine Klimax und Meinungsumschwung der Klientel
Danach dann für einen jungen Büffel eine ehrliche und schöne Tanzschulung. Für den Willibald ein Erweckungserlebnis nochmals.
https://www.youtube.com/watch?v=B8S3OVzof8s
(Lehre zu tanzen)
(2) Cold Mountain, die Heimkehr, sacred harp: I´m going home
Der Film Cold Mountain - ein opulentes (schwülstiges? pathetisches?) Bürgerkriegsepos mit einer Odysseus-Liebesgeschichte: Law, Kidman, Zellweger (2003).
https://de.wikipedia.org/wiki/Unterwegs_nach_Cold_Mountain_(Film)
(Wikipedia zum Film)
https://www.facebook.com/245062974187/videos/cold-mountain-movie-scene/1255903769618/
(Szene in der Kirche: Sacred Harp und Kriegsmeldung)
Das Singen in der Kirche. Ein Performance-Stil, der ein wenig an Spirituals und Gospels erinnert: Taktschlagende Handbewegungen während des ganzen Gesanges, zu Beginn lediglich die Tonfolge ohne Text mit bloßem Fa, So, La, Mi , dann die Strophenfolge und ihr Chorus. Ein Pitcher gibt die Grundmelodie vor und begleitet die Gruppe, die so zu einem Chor wird: Sacred Harp.
Hier ein eher konzertantes Auftreten in Los Angeles, mit dem Text beginnt die Gruppe nach textfreiem Einstieg etwa bei 2´5´´
https://www.youtube.com/watch?v=UWQDl6cyj2Y
(Roice Hall Concert)
Farewell, vain world! I'm going home!
My savior smiles and bids me come,
And I don't care to stay here long!
Sweet angels beckon me away,
To sing God's praise in endless day,
And I don't care to stay here long!
(Chorus)
Right up yonder, Christians, away up yonder,
O, yes my Lord, for I don't care to stay here long.
I'm glad that I am born to die,
From grief and woe my soul shall fly,
And I don't care to stay here long!
Bright angels shall convey me home,
Away to New Jerusalem,
And I don't care to stay here long!
(Chorus)
Right up yonder, Christians, away up yonder,
O, yes my Lord, for I don't care to stay here long.
(Chorus)
Right up yonder, Christians, away up yonder,
O, yes my Lord, for I don't care to stay here long.
(3) I´m going home: Heim und Rhythmus und Levitation
Auffällig, wie hier mit dem Heim- und Heimatbegriff umgegangen wird und dem, was uns allen bevorsteht, dem Tod: Eine Negativkonnotation „vain world“ wird aufgebaut, der Vanitas-Topos einer nichtigen Welt ist aktiviert, markiert und gestützt durch Leidenslast („grief and woe“) und gestützt durch den Kontrast dazu: eine himmlische Welt ewigen Glückes. So verliert sich - das ist die Funktion - Sterbensangst in Glück und in der neuen Heimat („New Jerusalem“):
I'm glad that I am born to die,
From grief and woe my soul shall fly,
Das Lied wird im Chor gesungen, arbeitet aber über weite Strecken mit der ersten Person Singular. Damit ist eine Doppelperspektive eingepflegt, was für den Einzelnen gilt, gilt auch für die anderen Einzelnen. Und in der Gruppe des Kollektivs „Christians“ hebt sich Individuelles in Überindividuellem auf. So ist dann der Einstieg mental und emotional gestützt und unterfüttert: „Farewell, vain world! I'm going home!“. Die irdische Heimat hat die Konnotation „home“ verloren, die bessere Heimat ist nun das Ziel.
Hier eine weniger konzertante, eine offene Aufführung, der Text beginnt etwa bei 1´:
https://www.youtube.com/watch?v=t4liEuDm8ac
(Irish singing)
(4) Ambivalenzen und Skepsis
Man mag darüber lächeln, was da Naives gesungen und physisch getaktet wird. Und die gewisse Leibfeindlichkeit christlicher Provenienz in unseren Breitengraden ist immer noch mit Händen (nicht) zu greifen. So ist denn der Rhythmus und die gewisse gebändigte Ekstase in diesen Liedern eine Besonderheit. Ein wenig auch zu belächeln.
Doch auch Agnostiker dürften mit einer gewissen Faszination auf diesen Gesang reagieren. Die soziokulturelle Erklärung nimmt nicht viel von dieser Faszination bei mir weg. Physische Synchronisation wirkt: Wir erleben eine psychologische Synchronisierung und eine Identitätsfindung und Identitätsstabilisierung in der Gruppe. Singen, Skandieren, Stehen, Marschieren – das läuft darauf hinaus, ein «Wir-Gefühl» zu erzeugen. Wir kennen dieses Phänomen auch aus totalitären Zeiten und ihren Werkzeugen.
Menschen, „andere“ Menschen, werden Teil meines erweiterten Ichs. Sie werden „Brüder und Schwestern“, eine bürgende und kräftigende Gemeinschaft, nicht ohne die ambivalente Unterordnung. Eine göttliche Figur, ein Stellvertreter auf Erden.
Kooperation ist gut fundiert, wo gemeinsam gesungen und getanzt und marschiert und geklatscht wird. Nicht zuletzt kann die natürliche Todesangst gemildert oder gar ausgehebelt werden. Trotzdem, ich wiederhole mich, es ist schwer, diesen Rhythmus ungerührt und intellektuell gewarnt ohne Beteiligung zu erleben.
Eine anthropologische Konstante mit Illusionszwang? Kirchen und kirchenartige Instanzen haben in der Geschichte immer wieder doppelwertig gearbeitet: In Glaubenskriegen gegen die Heiden und gegen andere Konfessionen. In wieder anderen Phasen mit dem Modell von allen Menschen als Gotteskindern. Also eine universale Variante und eine partikulare. Eine inklusive und eine exkludierende. Unabhängig davon: In kollektiven Gesängen wird die Macht der Musik und - so scheint es - auch eine überirdische Macht fühlbar. Andockbar an politische und religiöse Systeme.
Weniger abgehoben: Mich fasziniert die Körpersprache der Pitcherin und des Mädchens links hinter ihr, das mit dem roten Pulli.
(5) Anregend:
Claussen, Johann Hinrich: Gottes Klänge. Eine Geschichte der Kirchenmusik, 2015.
Gardiner, John Eliot: Bach. Musik für die Himmelsburg, übers. von Richard Barth, 2016.
Joseph, Jordania: Choral Singing in Human Culture and Evolution, 2015.
Wild, Beate: Fur Within, Flowers Without: A Transylvanian Fur Coat Worn to Church, in: Elisabeth Tietmeyer und Irene Ziehe (Hg.): Discover Europe!, 2008, S. 26–34.
Was meint der geneigte Leser?