Christa Paulsen - Der letzte Fall 15. Blaulichtkalibrator - Romeo, Julia und der Zungenschlitzer

ahorn

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Teil 2

Blaulichtkalibrator
Romeo, Julia und der Zungenschlitzer


»Fahrzeugpapiere, Führerschein, Ausweis, Warndreieck, Verbandskasten und Warnweste!« Der Uniformierte schob die tiefschwarze Dienstmütze herauf und die Sonnenbrille auf seine Nasenrücken. Dann zückte er einen scheckkartengroßen Block sowie einen Kugelschreiber aus der linken Hemdtasche, lehnte sich vor und klopfte mit Stift gegen die Fahrertür. »Gestehen Sie«, er wandte sein Gesicht nach links, »dass sie die Person überfahren haben.«

Christa rollte ihren Kopf auf dem Lenkrad. »Tim, schieb dich!«
Tim stampfte mit seinem rechten Fuß auf. »Menno! Tante Christa!« Er kam aus den Knien, bis sein Kinn das Dach der Pritsche berührte.
Christa zerrte am Türöffner der Fahrertür, drückte sie auf und schob den dürren, hageren Körper beiseite.
Den Rumpf gebeugt, die Arme, wie ein balzender Auerhahn seine Flügel, hinter seinem Rücken gestreckt, den Mund geöffnet, storchte Tim zum Käfig, während Christa aus dem Fahrzeug kletterte. Sie richtete ihren Rock, zupfte an ihrer Bluse und folgte ihm.
»Tante Christa, seit wann sperrst du Verkehrsopfer ein?«

»Nenn mich nicht Tante! Du bist erwachsen!«
Er trat an den Absperrzaun heran, klammerte seine Finger an das Gitter und starrte hinein. »Ja Tante!« Mit einem Ruck drehte er sich um, ergriff mit der Rechten seinen Hosengürtel, legte die Linke auf seine Mütze und rannte zu seinem Streifenwagen. »Oh Gott, oh Gott«, schrie er dabei, als hätte er den Wahrhaftigen erblickt.

Christa schüttelte den Kopf, wandte sich um und schlich zurück zum Transport. Dann zog sie sich am Lenkrad herauf, bis ihre Hand ihre Tasche ergriff. Mit der Beute zwischen den Fingern glitt sie herab, öffnete diese und fischte ihr Smartphone heraus. »Mist! Akku leer!«, fluchte sie und schritt erhobenen Hauptes zum Streifenwagen. »Gibst mir mal dein Handy?«, donnerte sie, den Kopf durch das geöffnete Fahrerfenster gesteckt, ins Inneres des Dienstfahrzeuges.
Tim klemmte den Hörer des Funkgerätes zwischen Hals und Kinn.
Christa winkte mit ihren Fingern. »Dein Handy!«
Er sah auf. »Wozu?«
»Um die Kollegen in Hannover anzurufen! Wegen der Leiche!«
Er lächelte, rutsche nervös mit dem Gesäß auf dem Beifahrersitz hin und her. »Ich habe im Revier …«

Seine letzten Worte überhörte Christa. Tim war keine Leuchte, wie sein Vater zuvorkommend, dennoch unterbelichtet. Wie viele Nächte hatte sie sich mit herumgeschlagen, damit er seine Prüfungen zumindest mit einem ausreichend abschloss. Hatte sich für ihn eingesetzt.
»Was geht euch das an?«
»Der Heide-Ripper«, frohlockte er und schälte seinen schlaksigen Körper aus dem Wagen. »Der Zungen-Schließer«. Mit unförmigem, ausladendem Schritt umkreiste er das Gefährt, trat an Christa heran, sah sich um, als wären sie nicht allein in der Ödnis, »Der Muschi-Stopfer«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Christa wusste sofort, wen er meinte, ließ in trotzdem in Unkenntnis und ihn berichten.
Ein Serienmörder trieb seit gut einem halben Jahr sein Unwesen in der Heide. Er hatte bereits vier Prostituierte erschlagen, ihnen die Zunge herausgetrennt und zwischen ihre Schamlippen geklemmt. Die Tatorte weit weg von Schnuckelheide und immer die Fundorte. Ein Sachverhalt, der für Wanja nicht zutraf, denn sie hat jemand an diesem Ort entsorgt.

»Liest du keine Zeitung!« Aufgeregt hüpfte Timm auf der Stelle. »Wenn ich den Kerl überführe«, er blickte auf sein Schulterabzeichen, »dann bekomme ich den zweiten Stern.«
Seine Naivität war kaum zu übertreffen.
Christa verdrehte die Augen. »Was machst du überhaupt hier!« Sie stemmt die Fäuste in ihre Taille. »Das ist mein Revier.«
»Die Straße nicht.«
Christa wies zu Wanja. »Aber der Fußweg, der Grünstreifen, da ruht sie.«
Er beugte sich gen Käfig. »Ihre linke Hand liegt auf der Straße.«

»Was machst du hier?«
»Ich sollte nach Eschede fahren, den Blaulichtkalibrator ausleihen. Unser ist kaputt.«
Christas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Hast du ihn?«
»Nee! Ihrer ist in der Wartung. Sagten mir, ich soll nach Celle fahren.«
»Und?«
»Hatte nur den Auftrag nach Eschede zu fahren, nicht nach Celle.«
»Weil du Langeweile hast, machst du eine kleine Spritztour.«
»Nein! Hab den Alten beim Landhandel gesehen, da bleibt er immer ein paar Stunden und da die Tina heute freihat, bin ich zu ihr zum Frühstück.« Er schielte Christa an. »Aber nur ganz kurz.«
»Hat es Spaß gemacht?«
Tim klemmte den Kopf zwischen seine Schultern. »Ja!«, druckste er und drehte mit der linken Schuhspitze auf dem Asphalt.

Tim und Tina waren Romeo und Julia aus Schnuckelheide. Außer Christa wusste dieses niemand. Oft hatte sie den beiden angeboten, zu vermitteln. Dabei waren Sören und der Bucklige, Tinas Vater, früher dick miteinander. Bis, es war wieder mal einer von solchen Tagen, indem alles zusammenkam, der Bucklige volltrunken mit seinem Fendt einen Vermittlungskasten filetierte. Schrott! Dieses unscheinbare graue Etwas, welches für die gesamte Fernmeldeversorgung von Klein Schnuckelheide aufgestellt war, befand sich auf dem Fußweg, der am Outlet-Center vorbeiführte. Es war Sonntag und ein Sonderöffnungstag, Jubiläum. Der Parkplatz bis zum letzten Platz gefüllt und Sören in Begleitung seiner Gemahlin dabei, seinen Wagen mit Schnäppchen zu beladen. Ein Menschenauflauf bekam mit, wie der Bucklige, geschwächt vom Alkohol, aus seiner Fahrerkabine fiel. Sören war nicht im Dienst, aber was sollte er machen. Vom Tatort fliehen, seinen Eid missachten. Das Ende des Liedes, der Bucklige sah seinen Führerschein nie wieder. Christa konnte mit ihm mitfühlen. Was ihm nicht half. Seitdem musste Tina, seine Frau Petra oder sein greiser Vater seinen Schlepper aufs Feld oder ihn zu seinen Zielen fahren.

»Was machst du auf der Alten Sandheimer?«
Tim hob mit beiden Händen seinen Gürtel. »Tarnung. Wenn mich jemand fragen sollte, wo ich war, dann kann ich sagen, ich war bei dir.«
Christa strich mit dem Zeigefinger über den silbernen Lack des Dienstwagens, blies den Staub von ihrem Finger, zählte eine und eins zusammen.
Dieser Volltrottel war über den Feldweg gerast. Das erschwerte ihre Spurensuche, wenn überhaupt etwas von den nächtlichen Reifenspuren übrig war.
»Ich habe da eine Idee?«, riss Tim sie aus ihrer Verzweiflung. »Kann ich deinen haben? Du brauchst ja keinen mehr!«
»Was?«
Er grinste. »Den Blaulichtkalibrator!«
Christa faste sich an die Stirn.
»Dann muss ich nicht nach Celle.« Er sah über seine linke Schulter »Kann hier weiter ermitteln«, flüsterte er.
Die Ankunft eines zweiten Streifenwagens verhinderte eine weitere Leiche.


Kalter Kaffee von Marilyn

Ein Streifenwagen hielt, das Beifahrerfenster geöffnet, neben Christa. »Na Christa, was machst du hier«, schallte es aus dem Inneren.
»Arbeiten«, pflaumte sie zurück.
»Hast dek schekk jemacht für deinen letzten Tach«, erklang es vom Fahrersitz.
Christa verschränkte ihre Arme.
Der uniformierte Beifahrer stieg aus, streckte sich zu seiner gesamten Körperlänge auf, die Tim nicht nachstand, einzig das sein Leibesumfang einen Sumoringer in Ausbildung glich. »Was haben wir hier den Schönes?«, brummelte er.
Der schmächtige Fahrer verließ gleichfalls das Fahrzeug, schritt um dieses herum und begrüßte Christa mit Handschlag, aufgrund Christas Schuhwerk sah sie auf ihn herab. »Moin!«

Der Riese zog seine Hose herauf, zeigte auf den Käfig. »Hast Angst, dass die Leiche abhaut«, grummelte er und schritt näher heran.
»Ben, weg da!«
Eigenlicht hieß er Benjamin, obwohl er einem Elefanten glich, verweigerte er jedem, ihn mit diesem Namen anzusprechen.
Ben nahm seine Sonnenbrille ab, wandte sich um und betrachtete seine Armbanduhr. »Christa, ich glaube nicht, dass die Nutte in der letzten halben Stunde abgemurkst wurde.« Er kratzte sich am Wams. »Somit unser Fall.«
»Rej dek ab Josser«, beruhigte ihn der Kleine und an Christa gewandt, »wer haben das LKA benachrecht dee packen bestemmt schoo ehre Plörren.«

Christa vereinigte die Wut an den Moorbüttlern, ihrer Arroganz, ihrer Überheblichkeit, mit der Ablehnung des Landeskriminalamtes und warf ihren Zorn dem Schwächsten zu. »Tim schwing die Hufe. Lade die Absperrung auf Kurts Pritsche, aber zack!«
Der Angesprochene spurtete, ohne zu murren, sogar seine Kollegen sahen belustigt zu, wie er sich abquälte.
Sie stieß dem Kleinen in die Seite. »Hast mal een Kaffe!«
Der kurze Streifenbeamte beugte sich ins Fahrzeug, ergriff eine silberne Thermoskanne, schraubte den Deckel ab, goss in diesen eine ockerbraune Flüssigkeit und übergab Christa den Becher. Ohne genau hinzuschauen, drückte sie das Gefäß an die Lippen, nahm ein Schluck, spie diesen an dem Beamten vorbei auf den Asphalt. »Was ist denn das?«
»Kaffe met Melk und feel Zukker« – »Koffainfrai!«
Christa zog die Oberlippe herauf. »Außerdem kalt.« Sie griff an das Gesäß ihres Gegenübers, zerrte seine Brieftasche heraus. »Tim!«
Der junge Beamte wuchtete das zweite Gitter auf den Transport, danach lief er zu ihr. »Ja!«
Sie öffnete die Geldbörse, zog zwei Scheine heraus und drückte ihm diese in die Hand. »Fahr zur Trude, hohl ein paar belegte Brötchen und anständigen Kaffee.«
Tim blickte zu Ben, der mit verschränkten Armen an der Pritsche lehnte. »Gleich?«
Kopfschüttelnd wies dieser zu den Gittern. »Erst aufladen.«
Der Kleine schnappte sich die Börse, verwahrte sie wieder in seiner Hosentasche. »Hey Christa, häst kain aigen Knete!«
»Stell dich nicht an Marilyn!«
Er schnaufte und wandte sich ab. Ohne Christa eines Blickes zu würdigen, setzte er sich in den Streifenwagen.

Bloß Christa durfte ihn derart nennen. Eigentlich hieß er Max, genauer Maximilian, aber seit der Entlassungsfeier von Pfannenschmied, die gleichzeitig seine Geburtstagsfeier war, hatte er Spitznamen weg.
Das Festkomitee war der Auffassung gewesen, dem Geburtstagskind irgendetwas besonders zu bieten. Neben dem üblichen Buffet und einer Liveband, etwas Sensationelles zu präsentieren. Eine Frau, die aus einer Torte klettert, dann gleich Marilyn Monroe dem Jubilar, wie seinerzeit John F. Kennedy, ein Ständchen trällerte.
Trude hatte sich sofort zur Verfügung gestellt. Dass sie für ihr alter rüstig, aus einer hüfthohen Papptorte zu klettern, imstande war, allen bewusst. Allein mit ihrer Stimme haperte es. Eine Krähe hatte eine Beschaulichere. Die Augen, der Anwesenden fixierten sogleich Max, der bei einem Karaokewettstreit in Trudes Gaststätte den ersten Platz errungen hatte. Sein Gewinnersong war weder von Celine Dion noch von der Monroe, sondern Morning Has Broken von Bod Dylan, trotzdem, außer Max waren alle mit einem Blick auf Christa einer Meinung. Die Hürde ihm mit mehreren Kön zu überzeugen, ihn in ein Kleid zu stecken, war niedriger, als Trude Gesang in die Höhen einer Nachtigall zu bringen.

Christa verbrachte Nächte an ihrer Nähmaschine. Quälte sich. Ein Kleid zu schneidern für sie ein Klacks, aber es dermaßen auszupolstern, dass die Rundung der Monroe zur Geltung kamen, etwas anderes. Übertroffen hatte sich mit der Bolerojacke. Den Kragen und den Saum hatte sie in Handarbeit mit Angora besetzt. Aber Max, als wäre er bereits eine Diva, lies sie mit der Begründung, er ziehe keine Tiere an, liegen. Tina besorgte ihm eine Jacke und eine Boa aus dem Theaterfundus. Dennoch wanderte Christas Bolerojacke samt dem Kleid ins Heimatmuseum.
Der Abend war ein Erfolg. Herausgehoben von zwei strammen, oberkörperfreien Burschen, für Christa ein Highlight, Hingucker, schmachte Max ein Happy Birthday Pfannenschmied entgegen. Er krönte seinen Auftritt mit I Wanna Be Loved By You und einem mit seinen falschen Wimpern klappernden Diamonds Are A Girl's Best Friends. Unter dem Applaus des Publikums, dem anerkenne Lob des Liedsängers der Band, kürte dieser ihn zur Backgroundsängerin und Max verfolgte den Tanz der Gäste von der Bühne aus. Er schwang seine Hüfte, strich mit Anmut über sein ihm eng anliegendes, bodenlanges silbernes Kleid und trällerte in allen Tönen von Mezzosopran bis Bariton. Später rockte der Abend und Max verwies den Sänger in die zweite Reihe. Lieder von Grönemeyer, Westernhagen und Tina Turner stimmte er an. Jeweils, ob die Gäste ihre Augen offen oder geschlossen hatten, die Tanzenden eine hinreißende Blondine erblickten oder einen exzellenten Sänger vernahmen. Gefühlte einhundert Jahre Kirchenchor hatten sich ausgezahlt.

Tim brauste mit seinem Streifenwagen davon. Max verließ das Fahrzeug, traf sich mit Ben an dessen Front und forderte mit einem Kopfzucken Christa auf, zu ihnen zu kommen. »Nu?«
»Nu«, wiederholte sie und schlug an ihre Stirn.
Sie hatte es ganz vergessen. Wanjas Handtasche ruhte weiterhin in der Pritsche. »Nu hohl ich erst mal meinen Koffer aus Kurts Karre.«
Sie schritt auf den Wagen zu, umrundete diesen, öffnete die Beifahrertür und schnappte sich ihren Pilotenkoffer sowie Wanjas Handtasche. Dieser von den Blicken der beiden verdeckt, schlich sie so weit vor, bis Max und Ben im Gespräch vertieft, nicht auf sie achteten. Sie eilte zur Leiche, legte die Tasche neben dem Körper ab, sodann schritt sie auf den Streifenwagen zu, als wäre nichts passiert. Ben grinste sie abfällig ab, als sie ihren Koffer abstellte. Ohne auf seine Mimik einzugehen, schob sie ihr Gesäß auf die Kühlerhaube, überschlug die Beine und verschränkte die Arme unter ihrer Brust. »Warten!«



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