Christa Paulsen - Der letzte Fall 24. Gnadderkopp - Verwilderte Bienen

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ahorn

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Gnadderkopp
Verwilderte Bienen

Christa kam es vor, als höre sie Hermanns Kassettenrekorder, der immerwährend dieselbe Kassette der Wildecker Herzbuben spielte, untermalt von Hermanns falschen, dennoch mit tiefer Inbrunst dargebotenen Gesang.
Die Zeit schien stillgestanden in seinem Haus. Einzig der Staub auf den Möbeln zeigten ihr die Leere, die Abwesenheit des Bewohners. Sogar die Schnapsflasche stand auf dem Küchentisch, die zwei ungebrauchten Gläser, die Hermann bei ihrem letzten Besuch abgestellt hatte.
Ein Korb Äpfel hatte sie geholt, sich vorgenommen, einen Kuchen für Günter zu backen. Hermann ihr versprochen, die ersten reifen Birnen zu pflücken. Seine besten Birnen vom Baum, den sein Großvater gepflanzt hatte. Gesetzt auf das Grab seines Vaters, wie einst Herr Ribbeck aus dem Havelland.
Vorwürfe belasteten Christa. Denn hätte sie ihn davon abgehalten, den Schnaps angenommen, er wäre nie gestürzt. Zu keiner Zeit kletterte er auf die Leiter, wenn er etwas getrunken hatte.

Stille. Nicht einmal das Summen der Bienen, die sich, seit Hermanns Abwesenheit, selbstständig gemacht hatten, drang in die Küche. Was für ein Trubel herrschte hier früher, abgehend von den Gästen und Freunden, welche zu einem Schnäpschen oder zu Hildes Birnenkuchen am Tisch saßen.
Christa blickte über ihre Schulter und hörte, wie Sibylle Chopin dem Klavier entlockte. Hermanns Tochter musiziert seit dem Kindergartenalter. Sie machte ihr Hobby zum Beruf und lebte seit acht Jahren mit Mann und zwei Kindern in Kanada.

Sibylle war talentiert und Hermann erkannte dieses. Einzig für die Hilde war Musik nur etwas, was aus dem Radio kam. Sie war die Bodenständige, der Kaufmann. Dennoch ermöglichten sie Sibylle das Musikstudium und Hilde nahm ihren Filius näher an ihre Brust. Die Beziehung zu Theo wurde enger, nachdem Sibylle ihren Eltern gestanden hatte, dass sie schwanger war.
Die Tatsache für sich brachte Freude ins Haus, wenn Sibylles Gatte keinen Vater hätte. Denn jener war zu seiner aktiven Zeit Offizier der Rheinarmee. Wenngleich Matthew sein ganzes Leben in Deutschland verbracht hatte, war er für Hilde der Tommy. Sie hatte nie verkraftet, dass ihr Elternhaus der Erweiterung eines Truppenübungsgeländes weichen musste. Da gab Christa ihr zum Teil recht.
Die Mondlandschaften, die diese Armeen, in der Lüneburger Heide hinterlassen hatten, waren alles andere als erquicklich.

Christa schlug auf ihre Oberschenkel. Alles alte Geschichten, dachte sie sich und, um über alte Mähren zu sinnieren, war sie nicht in Hermanns Haus gekommen.
Sie stand auf, schritt zum Küchenschrank, welcher jedem Heimatmuseum zum Glanz erweckte. Dann zog sie die linke der drei Schubladen auf und blickte hinein. Alles möglich, fand sie. Korkenzieher, Kneifzange und den Autoschlüssel von Hermanns Kadett, den er bereits vor mehr als acht Jahren verkauft hatte, glitten ihr zwischen den Fingern, nur der Mehrkantschlüssel für die Barke lag nicht an seinem Ort. Sie zog die anderen beiden Schubladen auf, fand Besteck vor. Sogar das Schubfach am Küchentisch inspizierte sie. Erneut ohne Erfolg.
Senil war Hermann zum Schluss, aber er hatte seine Prinzipien. Das Schlüsselbrett rechts neben der Haustür hatte sie beim Eintreten kontrolliert. Der Schlüssel war weg. Das stand fest.
Hermann hatte ihn gewiss nicht mit nach Thailand genommen und Sibylle war nicht einmal zu der Beerdigung ihrer Mutter nach Hause gekommen. Blieb einzig und allein Hermans Sohn übrig. Christa hatte ihn gesehen, wie er mit Günter gestritten hatte. Wie es ihm einfiele, ohne seine Zustimmung den Vater nach Thailand zu verschicken.

Dabei war, wie Christa später von Günter erfuhr, Hermann körperlich eingeschränkt, aber im Geiste war er klar. Die seelischen Quallen hätten in zermürbt. Sein Ende wäre eine Frage der Zeit gewesen. Dies war es, was sein Sohn anstrebte. Der frühe Tod seines Vaters, um sein Erbe anzutreten. Die Plantage, das Haus zu verhökern, damit er sich ein einfacheres Leben gönnen konnte.
Theo als Leuchte zu bezeichnen, entbehrte sich seinem Naturell. Mit Ach und Krach schaffte er seinen Realschulabschluss. Nächtelang durchzufeiern, war eher sein Talent. Und! Christa schüttelte den Kopf. Ein Kleinkrimineller war er. Wie oft hatte ihn Christa in Geschäften ausgelöst, mit der Geschäftsführung diskutiert, wie er mal wieder, ohne zu bezahlen, die Läden verlassen wollte. Oder sie sprach für ihn vor, wenn Kollegen von Christa ihn mit minimalen Mengen Haschisch aufgriffen.
Hermann war dann der Verzweiflung nahe und Hilde beschütze ihren Racker. Wie viel Überredungskunst hatte es Christa gekostet, Fred, der zu dieser Zeit den letzten Lebensmittelladen in Schnuckelheide betrieb, Theo zum Krämer auszubilden. Er schaffte sogar die Lehre, zog sodann in die Stadt und war nie ein Thema, wenn sie sich mit Hermann unterhielt. Nicht einmal bei Hildes Begräbnis wechselte Hermann ein Wort mit ihm, soweit sie es beobachtet hatte.

Christa stützte sich auf den Küchentisch ab. Aber war er ein Mörder - möglicherweise ein Serienkiller -, der Frauen misshandelte? Sie konnte oder wollte es nicht glauben. Obwohl?
Sie setzte sich. Senta, Theo und Werners Sprössling Lutz waren in einer Clique. Viel Auswahl an Freunden hatte Senta in Schnuckelheide nicht. Jedenfalls musste es nach Sentas Abitur und bevor sie zum Studium nach Göttingen verzogen war, geschehen sein. Warum Christa während der Arbeit nach Hause gekommen war, konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie hörte einen Schrei aus Sentas Kinderzimmer, stürzte in das Zimmer und da lagen sie. Senta lag rücklings in Unterwäsche auf ihrem Bett und Theo presste ihre Arme auf die Matratze und seine nackten Knie zwischen ihre Schenkel. Mit einem Klammergriff nahm Christa ihn in den Schwitzkasten und zerrte ihn von ihrer Tochter.
Wie verstört Senta danach war. Auf eine Anzeige verzichtete sie, nötigte überdies Christa ab, nichts Hermann zu erzählen. Christa hatte es all die Jahre verdrängt.
Sie öffnete die Schnapsflasche, goss den Fussel in ein Glas, setzte an und leerte dieses mit einem Zug.
Vorverurteilung, sinnierte Christa, allerdings war es nicht auszuschließen. Die Geschichte mit der Prostituierten, der Vorfall mit ihrer Tochter war eventuell der Beginn einer Spirale, welche Jahre später in Schnuckelheide endete. Christa benötige mehr Daten. Da gab es einen im Dorf, der genauso wie Theo ein Versager war. Lutz.


Im Müll versunken

»Hast du die Verbrecher gefasst.«
Christa wandte ihren Kopf nach rechts. »Werner!«
Mit ihm hatte sie nicht gerechnet. Selten traf man ihn am Tage daheim an. Sie musste sich etwas ausdenken.
»Deswegen bin ich hier.«
Werner sah sich um. »Glaubst, die haben sich auf meinen Hof versteckt.«
Sie leckte über ihre Oberlippen. »Nein! Ich habe ein paar Fragen.«
»Dann schieß los. Immerhin muss ich das Geld verdienen, was der Staat dir für dein Nichtstun gibt.«
Wenn sie nicht in einem gewissen Maße mit ihm befreundet wäre, dann hätte sie ihn zusammengeschissen und wäre zu Frank gegangen, um die Jahre aufzuholen, welche sie mit ihm versäumt hatte. Nein! Es ging nicht um ihre Befindlichkeit. Wanja war der Grund. Ebenfalls gelogen. Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen, dass jemand aus dem Dorf ein Mörder war.
»Zu dir wollte ich nicht.«
»Zu wem sonst?«
»Lutz.«
»Was hat dieser Nichtsnutz damit zu schaffen? Glaubst du etwa, er war es.« Werner hob die Krempe deines Hutes. »Nee! Denkst, ich selbst habe alles …« Er wies zum Hoftor. »Runter von meinem Hof!«
»Bleib ruhig! Ich will ihn nur fragen, ob ihm letzte Nacht irgendetwas aufgefallen ist.«
»Dem? Saufen und in seiner Räuberhöhle abhängen, mehr fällt dem nicht ein.« Er zeigte in Richtung Trecker, der neben einem mitternachtsblauen Kombi abgestellt stand. »Anstatt mir bei den Kühen zu helfen.«

Die linke Hand in der Hosentasche marschierte Werner zu seinem Trecker. Christa folgte ihm.
Werner stellte seinen rechten Fuß auf den Tritt zum Fahrstand und Christa legte ihre Hand auf den Kombi. »Wem gehört der Wagen?«
Werner sah zu ihr herab. »Irgendeinem Kumpel von Lutz. Warum fragst du?«
Christa schielte in das Innere des Wagens. »Der Schlüssel steckt. Verführung zum Diebstahl!«
»Gnadderkopp«, knurrte sie Werner an.
Gern hätte sie ihm ein ‚Puttfarken‘ beim Angesicht seiner mit Kuhmist besudelten Gummistiefel sowie der grünfleckigen Hose entgegengeworfen, aber Angesicht der Lage schluckte sie es herunter.
Christa wartete, bis Werner seinen Claas wegfuhr, dann schritt sie zum Haupthaus. Mit dem Fuß drückte sie die angelehnte Bauerhaustür auf und trat hinein. Ein deckenhoher Stapel von Pizzakartons empfing sie. Gefolgt von einer Sammlung Fertiggerichtspackungen, die sich mit leeren Bier- und Könflaschen abwechselte. Der Geruch eines ungepflegten Bahnhofslocus, gepaart mit dem einer verwesenden Leiche, drang ihr in die Nase. In diesem Haushalt fehlte, eine Frau, soweit irgendjemand es Haushalt nennen konnte, dachte sie sich und drang tiefer in die Diele ein. Bei jedem Schritt klebte ihre Schuhsohlen auf den Kacheln fest, sodass sie sich wunderte, wie sie es geschafft hatte, die knappen fünf Meter bis zu Lutz Kammer zurückzulegen. Nachdem sie beinahe im Halbdunkel über Farbsprühdosen gestolpert wäre, jene von diesen Dosen, die Werner benutzte, um sein Schlachtvieh zu markieren.

Während sie anklopfte, drückte sie den Türknauf herab und stieß das Türblatt auf.
Lutz saß auf seinem Bett und starrte auf den Bildschirm eines Laptops, der auf einem kniehohen, zwischen seinen Beinen geklemmten Tisch stand.
Er erschrak, bei Christa eintreten, ergriff eine Zeitschrift und warf sie neben sich auf das Bett. »Kannst nicht anklopfen?«
»Ich habe angeklopft.«
»Was willst du?«
»Mit dir Reden.«
Christa hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, wie sie das Verhör führen wollte. Gleich Lutz über Theo zu befragen, eher unangebracht. Daher entschloss sie sich, das Gespräch zuerst mit dem Thema Angora zu beginnen.
»Ich habe ein paar Fragen wegen den Schmierereien?«, fragte sie, derweil nahm sie ein T-Shirt sowie ein olivgraues Etuikleid von einem Sessel, den Lutz gegenüber stand. Sie faltete die Kleidungsstücke zusammen, setzte sich und schob dabei mit dem linken Fuß ein paar platingraue Riemensandaletten mit korkenhohen Absätzen beiseite. »Hattest du Damenbesuch?«
Lutz klappte den Laptop zu. »Musst meinen Alten fragen.«
Christas kräuselte ihre Stirn. »Wie bitte?«
»Wegen der Schmierereien.«
»Habe ich bereits. Was hast du mitbekommen?«
»Kaffee?«, fragte er, ergriff eine Thermoskanne und überreichte Christa eine Tasse.
Nachdem sie die Sauberkeit der Tasse kontrolliert hatte, streckte sie den Arm und Lutz füllte das Gefäß.
»Nichts! Als ich die Karnickel reingescheucht habe, war da nichts«, nahm er den Faden wieder auf.
»Reingescheucht?«, wiederholte Christa.
»Na aus dem Außengehege.«
»Außengehege?«
»Hey Christa, bist du nicht auf dem Neusten. Nach der Sache mit den Tierschützern habe ich meinen Alten geraten, den Karnickeln mehr Freiheit zu geben. Hinterm Stall können sie sich bis zum Bach austoben.« Lutz rechter Zeigefinger kreiste um seinen Kopf. »Alles kaninchensicher eingezäunt. Sogar im Erdreich habe ich einen Maschendrahtzaun verlegt. Hat mir eine ganze Woche gekostet.«
»Wie kommen die Tiere hinein?«
Lutz schüttelte den Kopf. »Durch eine Klappe natürlich.«

Christa beugte sich vor und ergriff Lutz Hände. »Ich freue mich darüber, dass du deinem Vater zur Hand gehst.« Sie zog ihre Augenbrauen zusammen und ließ ihren Blick schweifen. »Könntest du öfters machen, anstatt hier in deiner Höhle herumzulungern.«
»Hör mit dem Quatsch auf! Ohne mich wäre mein Alter längst pleite.«
»Ja, weil er dich durchfüttert.«
»Du meinst, wegen der paar Scheine, die er mir zusteckt. Die Knete kriegt er jeden Monat zurück.«
»Wovon dann? Du hast nichts.«
»Ich arbeite.«
Christa nickte und tippte sich an die Schläfe. »Ewige Studenten werden bezahlt. Treuebonus?«
Lutz verdrehte die Augen. »Bin längst fertig.«
»Fährst Taxi?«
»Nein!« Lutz betrachte zuerst die Zimmerdecke, dann wies er mit dem Zeigefinger auf Christa. »Erzähle das aber nicht meinen Alten, der bringt mich um, oder schlimmer, schlägt die Knete aus, die ich ihm unterschiebe.«
Christa hob die Hand zum Schwur. »Animal Better Live«, murmelte er. »Halbtags.«


Tierschutz

Die Süffisanz von Lutz Geständnisses blieb Christa im Halse stecken.
Lutz hob die Arme und hielt ihr seine Handflächen entgegen. »Hey, hey, hey! Ich kenne deinen Gesichtsausdruck. Ich habe damit nichts zu schaffen. Wir kümmern uns um das Tierwohl mit legalen Mitteln.« Er lehnte sich zurück. »Außerdem schädigte ich mich selbst. Habe dir gesagt, ich stecke meinem Alten was zu.«

Christa kam aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus. Was sie von Lutz erfuhr, zerbrach den Stolz jedes Landwirtes. Lutz hatte nicht allein seinen Vater überredet, die Aufzucht seiner Kaninchen tiergerechter vorzunehmen, sondern ebenfalls dafür gesorgt, dass der Umschlag, den Werner Kurt überreicht hatte, ausreichend gefüllt war. Sogar beim Verkauf der Felle in den Niederlanden steckte er ein paar Scheine dazu, damit Werner glaubte, der Verkauf von Pelzen von artgerecht gehaltenen Tieren brächte mehr ein.

»Kein Wort zu meinem Alten!«
»Nein! Ich schweige wie ein Grab.« Christa überschlug die Beine. »Apropos Grab. Hast du Kontakt zu Theo?«
Lutz lehnte sich zur Seite. »Wie kommst du darauf?«
Christa zuckte mit den Achseln. »Nur so. Ich war vor Kurzem in Hermanns Haus, müsste mal was gemacht werden.«
»Kontakt ist zu viel gesagt. Haben uns in der letzten Zeit des Öfteren getroffen, über alte Zeiten philosophiert und uns die Kante gegeben.« Er rieb über seine Stirn. »Gestern hättest du ihn angetroffen.«
»Wo?«
»Bei Günter! Er war nicht lange da. Ist dann mit einem Kollegen abgezischt.«
Christa schmunzelte. »Du in Günters Kaschemme?«
»Gut, ist nicht mein Stil. Ich kann es nicht ausstehen, wenn Greise besoffen auf den Tischen tanzen und Schlager schmettern, aber Benno hatte mich angerufen.«

Christa kniff ihr linkes Auge zu. »Benno?«
»Ich sollte ihm was vorbeibringen.«
Christa erinnerte sich an Bennos Aussage, welche sie nicht weiter hinterfragt hatte, da sie davon ausgegangen war, dass er die Tagesschau mit den Spätnachrichten verwechselt hatte. Dennoch hatte er definitiv gesagt, dass er zu Trude wollte.
»Wann kam er?«
Lutz verdrehte die Augen. »Nach den Nachrichten.«
»Welchen?«
»Tagesschau.«
»Das weißt du genau?«
»Ja! Günter hatte ihn hochgenommen, kaum dass er eingetreten war. Bennos Fußballklub hatte eine Schlappe kassiert. Die Eintracht spielt wirklich grottig.«
Christa runzelte ihre Stirn. »Spielen die Braunschweiger nicht in einer unteren Liga. Seit wann ist dies eine Meldung in der Tagesschau wert?«
»Natürlich nicht! Die Wolfsburger hatten gewonnen und jener ist Günters Klub.«

Christa hatte sich in ihrem ganzen Leben nie um Fußball geschert, obwohl knackig waren die Spieler, aber wer im Dorf, welchen Verein favorisierte, war für sie uninteressant.
»Theo?«
»Bayern glaube ich. Bin mir aber nicht sicher. Habe keinen Blassen von Fußball, stehe auf Jazzdance.«
Christa fuhr ihr linkes Augenlid herab und runzelte ihre Stirn. »Jazzdance?«
Lutz zeigte ihr einen Vogel. »Nicht selber! Geile Ärsche, geile Titten. Bis du der Ansicht, dass einer von Günter Witzpipen hinter einen Ball herrennt. Die glotzen nur.«
Christa verdrehte die Augen. »Was Theo gemacht hat?«
»Ach so. Habe dir bereits gesagt, der ist dann abhauen.« Er verzog sein Gesicht. »Max Gesang hält keiner aus. Stimme hat er. Die Monroe lasse ich mir gefallen, aber Helene Fischer.«
»Marilyn war ebenfalls bei Günter?«
»Ja! Soweit ich es mitbekommen habe, hängt er, seit seine Alte ihn verlassen hat, andauernd bei ihm ab. Die beiden hatten sich gestritten, sind dann raus, kamen wieder rein und Max setzte sich zu Ben an den Tisch.«
»Du dazu?«
»Nee! Habe mit Tim gedartet.«
»Wann sind sie aufgebrochen?«
»Keine Ahnung. Entweder war eine von Hermann letzten Flaschen schlecht oder Max gegrölte hat mir den Rest gegeben. Ich bin irgendwann raus, habe gekotzt und bin dann nach Hause. Warum fragst du den ganzen Scheiß?«

Christa legte ihr schönstes Lächeln auf. »Berufskrankheit!«
Lutz schüttete den Kopf. »Bevor du fragst. Ich bin zu Fuß.«
»Weil du nüchtern warst, hast du den Schlüssel im Wagen deines Kumpels stecken gelassen«, forderte sie ihn heraus und grinste.
»Quatsch, wie kommst du auf diesen Schwachsinn?« Lutz lehnte sich zu einem Stuhl herüber, der ihn als Nachtisch diente, ergriff ein Schlüsselbund und hielt diesen Christa unter die Nase. »Kann nicht stecken! Außerdem steht meine Karre bei Günter.«
Sie schüttelte den Kopf und wies mit dem Daumen über ihre Schulter. »Nee! Steht vor der Tür. Dein Vater hat mir vor ein paar Minuten gesagt, dass du ihn dir ausgeliehen hast.«
Lutz schlug an seine Stirn. »Ben!«
»Ben?«
»Er wollte mir gestern den Ersatzschlüssel geben.«
»Er hat dir den Wagen geliehen?«
»Verkauft! Habe meinen Alten geklemmt, dass ich ihn mir ausgeborgt habe.« Er schob den Kopf zwischen seine Schultern. »Wie soll ich meinem Herrn klarmachen, dass ich mir einen Dreijährigen zugelegt habe.«
Christa tippte an ihre Schläfe. »Ben fährt wie Günter Mercedes und draußen steht ein Japaner.«
»Fehlkauf!«
»Bitte?«
»Ben hat seinen Benz verkauft, sich den Toyota zugelegt und zwei Tage später sich in einen von diesen SUV verguckt. Umweltsau! Dabei ist der Toyota ein Hybrid. Da habe ich zugeschlagen. Habe Ben erzählt, dass Günter mir die Knete geliehen hat.«

»Günter weiß, dass du arbeitest? Warum erzählst du es nicht deinen Vater?«
»Mach ich. Weihnachten.«
»Bis Weihnachten ist es lange hin.«
»Im Januar habe ich eine neue Stelle.«
»Wo?«
»Landwirtschaftsministerium. Verstehst! Mein Alter wird entzückt sein.«
Christa kratzte sich am Genick. »Warum erst nächstes Jahr?«
Lutz klopfte auf sein Laptop. »Weil ich erst meine Promotion abschließe. Darum arbeite ich nur halbtags und meist von zu Hause.«
»Du machst einen Doktor?«, hakte Christa nach.
»Ich ziehe dann mit meiner Freundin nach Hannover. Der Günter hat mir seine Hütte vermietet. Deswegen weiß er, dass ich …«
Christa spitze ihre Lippen. »Du hast eine Freundin?«
»Ist das verboten.«
»Nein! Ich freue mich für dich. Bloß, warum weiß ich nichts davon?«
»Niemand aus dem Kuhkaff weiß etwas von ihr, nicht einmal mein Vater.«
Christa beugte sich vor und ergriff seine Hand. »Werner würde sich freuen.«
Lutz schwankte mit dem Kopf. »Ich weiß nicht. Außerdem habe ich sie auf der Arbeit kennengelernt. Sie ist Biologin.«
»Ist sie hässlich? Hat sie zwei Köpfe?«
Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie ist bildhübsch. Ihre Eltern sind stinkreich.«
»Wo ist dein Problem?«
»Du weißt, was mein Altern von reichen Typen hält.«
»Nichts«, antworte Christa und zuckte mit den Schultern. »Aber …«
»Sie sind nicht nur vermögend«, fuhr ihr Lutz ins Wort. »Sie stammen aus Osteuropa.«
»Woher?«
»Bulgarien.«


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Freude im Streifenwagen
 
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Verwilderte Bienen

Christa kam es vor, als höre sie Hermanns Kassettenrekorder, der immerwährend dieselbe Kassette der Wildecker Herzbuben spielte, untermalt von Hermanns falschen, dennoch mit tiefer Inbrunst dargebotenen Gesang.
Die Zeit schien stillgestanden in seinem Haus. Einzig der Staub auf den Möbeln zeigten ihr die Leere, die Abwesenheit des Bewohners. Sogar die Schnapsflasche stand auf dem Küchentisch, die zwei ungebrauchten Gläser, die Hermann bei ihrem letzten Besuch abgestellt hatte.
Ein Korb Äpfel hatte sie geholt, sich vorgenommen, einen Kuchen für Günter zu backen. Hermann ihr versprochen, die ersten reifen Birnen zu pflücken. Seine besten Birnen vom Baum, den sein Großvater gepflanzt hatte. Gesetzt auf das Grab seines Vaters, wie einst Herr Ribbeck aus dem Havelland.
Vorwürfe belasteten Christa. Denn hätte sie ihn davon abgehalten, den Schnaps angenommen, er wäre nie gestürzt. Zu keiner Zeit kletterte er auf die Leiter, wenn er etwas getrunken hatte.

Stille. Nicht einmal das Summen der Bienen, die sich, seit Hermanns Abwesenheit selbstständig gemacht hatten, drang in die Küche. Was für ein Trubel herrschte hier früher, abgehend von den Gästen und Freunden, welche zu einem Schnäpschen oder zu Hildes Birnenkuchen am Tisch saßen.
Christa blickte über ihre rechte Schulter und hörte, wie Sibylle Chopin dem Klavier entlockte.
Hermanns Tochter musiziert seit dem Kindergartenalter. Sie machte ihr Hobby zum Beruf und lebte seit acht Jahren mit Mann und zwei Kindern in Kanada.

Sibylle war talentiert und Hermann erkannte dieses. Einzig für die Hilde war Musik nur etwas, was aus dem Radio kam. Sie war die Bodenständige, der Kaufmann. Dennoch ermöglichten sie Sibylle das Musikstudium und Hilde nahm ihren Filius näher an ihre Brust. Die Beziehung zu Theo wurde enger, nachdem Sibylle ihren Eltern gestanden hatte, dass sie schwanger war.
Die Tatsache für sich brachte Freude ins Haus, wenn Sibylles Gatte keinen Vater hätte. Denn jener war zu seiner aktiven Zeit Offizier der Rheinarmee. Obgleich Matthew sein ganzes Leben in Deutschland verbracht hatte, war er für Hilde der Tommy. Sie hatte nie verkraftet, dass ihr Elternhaus der Erweiterung eines Truppenübungsgeländes weichen musste. Da gab Christa ihr zum Teil recht.
Die Mondlandschaften, welche diese Armeen in der Lüneburger Heide hinterlassen hatten, waren alles andere als erquicklich.

Christa schlug auf ihre Oberschenkel. Alles alte Geschichten, dachte sie sich und um über alte Mähren zu sinnieren, war sie nicht in Hermanns Haus gekommen.
Sie stand auf, schritt zum Küchenschrank, welcher jedem Heimatmuseum zum Glanz erweckte. Dann zog sie die linke der drei Schubladen auf und blickte hinein. Alles möglich fand sie. Korkenzieher, Kneifzange und den Autoschlüssel von Hermanns Kadett, den er bereits vor mehr als acht Jahren verkauft hatte, glitten ihr zwischen den Fingern, nur der Mehrkantschlüssel für die Barke lag nicht an seinem Ort. Sie zog die anderen beiden Schubladen auf, fand Besteck vor. Sogar das Schubfach am Küchentisch inspizierte sie. Erneut ohne Erfolg.
Senil war Hermann zum Schluss, aber er hatte seine Prinzipien. Das Schlüsselbrett rechts neben der Haustür hatte sie beim Eintreten kontrolliert. Der Schlüssel war weg. Das stand fest.
Hermann hatte ihn gewiss nicht mit nach Thailand genommen und Sibylle war nicht einmal zu der Beerdigung ihrer Mutter nach Hause gekommen. Blieb einzig und allein Hermans Sohn übrig. Christa hatte ihn gesehen, wie er mit Günter gestritten hatte. Wie es ihm einfiele ohne seine Zustimmung den Vater nach Thailand zu verschicken.

Dabei war, wie Christa später von Günter erfuhr, Hermann körperlich eingeschränkt, aber im Geiste war er klar. Die seelischen Quallen hätten in zermürbt. Sein Ende wäre eine Frage der Zeit gewesen. Dies war es, was sein Sohn anstrebte. Der frühe Tod seines Vaters, um sein Erbe anzutreten. Die Plantage, das Haus verhökern, damit er sich ein einfacheres Leben gönnen konnte.
Theo als Leuchte zu bezeichnen, entbehrte sich seinem Naturell. Mit Ach und Krach schaffte er seinen Realschulabschluss. Nächtelang durchzufeiern war eher sein Talent. Und! Christa schüttelte den Kopf. Ein Kleinkrimineller war er. Wie oft hatte ihn Christa in Geschäften ausgelöst, mit der Geschäftsführung diskutiert, wie er mal wieder ohne zu bezahlen die Läden verlassen wollte. Oder sie sprach für ihn vor, wenn Kollegen von Christa ihn mit minimalen Mengen Haschisch aufgriffen.
Herman war dann der Verzweiflung nahe und Hilde beschütze ihren Racker. Wie viel Überredungskunst hatte es Christa gekostet Fred, der zu dieser Zeit den letzten Lebensmittelladen in Schnuckelheide betrieb, Theo zum Krämer auszubilden. Er schaffte sogar die Lehre, zog sodann in die Stadt und war nie ein Thema, wenn sie sich mit Hermann unterhielt. Nicht einmal bei Hildes Begräbnis wechselte Hermann ein Wort mit ihm, soweit sie es beobachtet hatte.

Christa stützte sich auf den Küchentisch ab. Aber war er ein Mörder - möglicherweise ein Serienkiller - der Frauen misshandelte? Sie konnte oder wollte es nicht glauben, obwohl?
Sie setzte sich. Senta, Theo und Werners Sprössling Lutz waren in einer Clique. Viel Auswahl an Freunden hatte Senta in Schnuckelheide nicht. Jedenfalls musste es nach Sentas Abitur und bevor sie zum Studium nach Göttingen verzogen war, geschehen sein. Warum Christa während der Arbeit nach Hause gekommen war, konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie hörte einen Schrei aus Sentas Kinderzimmer, stürzte in das Zimmer und da lagen sie. Senta lag rücklings in Unterwäsche auf ihrem Bett und Theo presste ihre Arme auf die Matratze und seine nackten Knie zwischen ihre Schenkel. Mit einem Klammergriff nahm Christa ihn in den Schwitzkasten und zerrte ihn von ihrer Tochter.
Wie verstört Senta danach war. Auf eine Anzeige verzichtete Senta, nötigte überdies Christa ab, nichts Hermann zu erzählen. Christa hatte es all die Jahre verdrängt.
Sie öffnete die Schnapsflasche, goss den Fussel in ein Glas, setzte an und leerte dieses mit einem Zug.

Vorverurteilung, sinnierte Christa, allerdings war es nicht auszuschließen. Die Geschichte mit der Prostituierten, der Vorfall mit ihrer Tochter war eventuell der Beginn einer Spirale, welche Jahre später in Schnuckelheide endete. Christa benötige mehr Daten. Da gab es einen im Dorf, der genauso wie Theo ein Versager war. Lutz.


Entschuldigung, habe ein paar Passagen markiert. Mach dir mal Gedanken.
Ist Deutsch deine Muttersparche? Würde mich wundern.
Und jetzt üb schön weiter.
Lass bitte deine Finger von der Literatur. Es gibt viele schöne Hobbys. Als Komiker bist du Klasse!
 
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