Hallo Patrick Schuler,
dein Gedicht liest sich für mich sehr interessant und hat ein starkes Ende, welches mich mit dem von mir geschätzten "wow, darin ist etwas gewesen, was ich erstmal erspüren muss"-Gefühl zurück in die außerlyrische Realität entlässt.
Aber der Reihe nach, damit ich mich meinem Gefühl vielleicht mit dem Verstand ein wenig nähern kann. Du schreibst:
Jeden abend falle ich
in die enge meiner worte zurück
In dieser Strophe lese ich von einem Lyrischen Ich, welches den vielleicht geschäftigen Tag nicht einfach hinter sich lässt, sondern beinahe ohne eigenes Zutun aus einer Rolle fällt - eine Rolle, die dem Lyrischen Ich über seine eigentliche Größe hinaus Geltung verschaffte, denn warum sollte es sonst, wenn der Tag sich neigt, wieder fallen müssen?
Dabei fällt es in die eigene Sprache zurück, es erscheint mir möglich, dass es sich hier um Gesprochenes handelt, welches bereits gesagt wurde und was das Lyrische Ich gar bereuen mag, aber auch der Gedanke, dass es sich hier um eine Selbstreflektion des Dichters handeln könnte, interessiert mich. Der tagsüber mit anderen Dingen als dem Schreiben beschäftigte Poet kommt des Abends nach Hause und findet Halt (man kann Enge in diesem Sinne positiv als feste und stabilisierende Grenze intepretieren) oder, pessimistischer betrachtet, den Ausweg aus aller Begrenzung der conditio humana auch nicht in der Sprache, weil man, wie Wittgenstein schon feststellte, darüber hinaus nicht gehen kann.
Ich wundere mich nur, weshalb du das Gedicht Großgeschrieben beginnst, ist es einfach ästhetisches Empfinden?
Mit diesen Vorgedanken in die zweite Strophe gehend, fällt mir die Interpretation nun nicht unbedingt leicht:
lege den finger auf das lied
das unter der nähe zerbricht,
Ich folge aber einmal gewagt dem Deutungsstrang des selbst dichtenden Lyrischen Ichs und interpretiere nun so, dass hier das
Lied die Geschäftigkeit und vielleicht auch Geselligkeit der Tagesaktivitäten symbolisiert, welche für den Dichter auch nicht unlyrisch sind (deshalb die Wahrnehmung der Ereignisse als
Lied), während der einsame Abend in der Dichterstube es ermöglicht, wieder in Kontakt mit den ruhigen und sanftmütigen Anteilen des Lyrischen Ichs zu treten. Wie ein Finger auf die Lippen legt das Lyrische Ich nun selbigen auf den Trubel des Tages, welcher noch wortvoll zum Schweigen gezwungen wird.
Nun gerät meine Interpretation aber ins Stocken, denn es heißt:
und schweige dir ein lächeln über.
ich habe mein gedächtnis aufgegeben
Mit Macht drängt drängt sich vor mein inneres Auge das Bild einer zweiten Person, in welche sich das Lyrische Ich nun verlieren möchte, denn das bisher Erlebte (
Gedächtnis) wird ad acta gelegt und in Strophe 4 scheinen sich die Dinge zu vereinigen:
stand in dem brief. mein
zweites gesicht lag in den zeilen,
Diesen Eindruck gewinne ich durch die Verbindung von Syntax und Pronomen, denn lesbar sind die Varianten
1. "Ich habe mein Gedächtnis aufgegeben", stand in dem Brief, "mein zweites Gesicht lag in den Zeilen"
2. "Ich habe mein Gedächtnis aufgegeben", stand in dem Brief, mein zweites Gesicht lag in den Zeilen.
Das Aufgeben des Gedächtnisses bezieht sich in meinen Augen als Apokoinu sowohl auf die bisherige beinahe monologische Erzählung des Lyrisches Ichs als auch auf den Inhalt des von einer anderen Person geschriebenen Briefes.
Auch das in den Zeilen liegende Zweite Gesicht kann sich in dieser Doppelfunktion auf beide Agenten beziehen.
Und wie zur Bestätigung dieser grammatischen Verknüpfungen schließt die letzte Strophe wirklich wundervoll, in dem sie den Dialog (auf dieses Zweisein spielt das Wort
Antwort an) durch die Vereinigung in der Nähe ablöst:
hat die antwort vergessen -
so nahe sind wir uns gewesen.
Das finde ich klasse!
Nun, du siehst, dass in meinem Deutungsversuch ein Bruch liegt, was sicherlich daran liegt, dass ich zunächst hartnäckig versuchte, die Linie mit dem
Dichter durchzuziehen. Trotzdem finde ich meine Idee gar nicht so abwegig und würde ich jetzt nochmal eine Interpretation deines Gedichtes schreiben, würde ich versuchen, beide Stränge zusammenzuführen. Ob es mir gelänge, vermag ich allerdings nicht zu sagen.
Insgesamt hat mir dein Gedicht gut gefallen, es hat sogar einige Stellen, die mich richtig begeistert haben (vor allem das Ende), aber es hat zumindest auch eine Stelle, mit der ich mich ein wenig schwertue. Es handelt sich um Vers 5:
und schweige dir ein lächeln über.
Bei diesem Vers habe ich das Problem, dass für mich lächeln und schweigen zwei Tätigkeitswörter sind, die sich nicht unbedingt ausschließen, aber in meinen Augen auch nicht gerade ergänzen. Diese Worte hinterlassen bei mir schon ein interessanten Gefühl, aber eben auch einen kleinen logischen Knoten im Kopf. Dass ich mich dann auch noch bei dem Wort
über frage, wieso du nicht
hinüber schreibst, lässt den Vers für mich nicht gewinnen. Vielleicht kannst du mir hier weiterhelfen?
Viele Grüße
Frodomir