Helden für einen Tag
Schon wieder ein Nachmittag vergangen, einfach so weg gelesen. Eine
weitere von tausend Geschichten inhaliert. Ich kann es mir leisten.
Seitdem ich vor zwei Jahren mit dem linken Arm in eine Walze geraten
bin, und Glück gehabt habe, dass nur der Arm daran glauben musste,
beziehe ich eine kleine Rente. Alles im Leben hat seinen Preis. Ich habe
mit Einarmigkeit bezahlt für die Freiheit den ganzen Tag lesen zu können.
Bücherwurm nannte mich meine Mutter, nachdem ich mir mit fünf Jahren
das Lesen selber beigebracht hatte, und alles las, was mir in meine schmutzigen, kleinen Finger geriet. Du führst ein Second-Hand-Leben
sagte meine kleine Schwester abfällig, die lieber auf Partys ging und
sich volllaufen ließ.
Ich habe keine Freunde. Aber ich bin beliebt in der Nachbarschaft.
Ich bin der, der immer zu Hause ist und einspringen kann. Der, der die
Blumen gießt und die Katze füttert. Dem Kanarienvogel frisches Wasser
gibt und den Dackel ausführt, weil der Besitzer mal wieder aufgehalten
wurde. Das ist in Ordnung. Hier in Bottrop hilft man sich gegenseitig.
Samstag und Sonntag gehe ich auf die Jagd. Auf Flohmärkten durchstöbere
ich die Bücherkisten. Ein gutes Buch kann ich riechen. Ein gutes Buch
ist lebendig.
Mein Leben hätte immer so weiter gehen können. Ich hätte meinen dreißigsten,
meinen vierzigsten, meinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Wäre
wahrscheinlich zu diversen Hochzeiten und Beerdigungen in der Familie
eingeladen worden. Nicht wirklich integriert, niemals im Mittelpunkt stehend,
aber auch nicht das fünfte Rad am Wagen, eher das Reserverad, das
sicherheitshalber nie benutzt wird. Und immer mit freundlicher Nachsicht
behandelt aufgrund des tragischen Schicksalsschlags, den ich erlitten habe.
Kurz ich hätte glücklich und zufrieden mein Leben gelebt.
Meinen Grabstein hätte ich rechtzeitig entworfen und in meinem geordneten
Nachlass hinterlegt. Ein aufgeschlagenes Buch aus Granit. Darauf eingraviert:
Finn Lehmann, 23.9.1987 - Seine letzte Seite ist aufgeschlagen
worden.
Die möglichen Neffen, die sich als nächste Verwandte darum kümmern
müssten, hätten die Augen verdreht über soviel geistlosen Witz. Mir hätte
es gefallen.
Wenn ich an diesem Montagnachmittag im Mai meine Wohnungstür nicht
geöffnet hätte, wäre mein Leben genauso verlaufen.
Aber ich öffnete und vor mir stand ein überaus zartes Geschöpf mit bloßen
Füßen und einer wilden rot-blonden Lockenmähne, gekleidet in ein
smaragdgrünes, schlichtes Sommerkleid, das genau den Farbton ihrer
Augen traf. Eine echte Elbenprinzessin. Sie trat einen Schritt auf mich zu,
reichte mir graziös ihre Hand und sagte: "Hi, ich bin Bonnie."
Ich ergriff sie mit meiner zum Glück vorhandenen Rechte, schüttelte sie
und antwortete: "Clyde." Sie strahlte mich an und mein Flur mit der billigen
Raufasertapete, deren helles Blau um die Lichtschalter herum sich in
schmutziges Grau verfärbt hatte, bekam einen neuen Glanz.
Mit einer Handbewegung bat ich sie herein und eilte voraus in der irrigen
Annahme in dem verwohnten mit Büchern vollgestopftem Wohnzimmer
noch etwas verbessern zu können. Hektisch räumte ich ein Stück Sofa
leer. Bonnie folgte mir, setzte sich und musterte die meterhohen Bücherstapeln, die zum größten Teil mit feinem Staub bedeckt waren
und das ungeputzte Fenster, auf dessen Fensterbank statt Blumen
natürlich Bücher standen. Sie fragte nicht, ob ich die alle gelesen hätte.
Ich schmolz dahin. Bonnie schien generell nicht viel von Konversation
zu halten. Sie kam gleich zur Sache, nachdem sie sich eine Zigarette
angezündet hatte und sich suchend nach einem Aschenbecher umschaute.
Ich beeilte mich, ihr einen angeschlagenen Dessertteller zu reichen.
Ich bin Nichtraucher. Sie schaute mich prüfend an mit ihren großen, grünen
Augen, die noch dazu von schwarzen, wenn auch gefärbten, langen,
gebogenen Wimpern umkränzt waren. "Ich habe gehört, du bist ein richtig
netter Typ, besonders hilfsbereit und immer gut drauf." Ich nickte. Was
sollte ich dazu sagen. Sie zog hektisch an ihrer Zigarette. Warum sollte
so ein Traumwesen auch grundlos bei mir auftauchen. Etwa wegen meiner
schönen, braunen Hundeaugen? Bonnie kam dann auch zur Sache:
"Ich habe von den Albanern, die Gang, die so tut, als ob sie eine Autowerkstatt
an der Koloniestrasse hat, ein Kilogramm Koks geklaut und jetzt
brauche ich eine sichere Bleibe." Sie erzählte von dieser wahnsinnig günstigen
Gelegenheit, als sie den Deal beobachtet hatte und dann plötzlich der offene
Kofferraum mit der Ware einen Moment unbeobachtet blieb. "Ich konnte
nicht anders, ich schnappte mir das Päckchen wie ferngesteuert und lief
davon. Jetzt bin ich mir natürlich nicht sicher, ob ich beobachtet wurde."
Sehnsüchtig schaute ich auf mein aufgeschlagenes Buch. Wie gemütlich
und beschaulich so ein Second-Hand-Leben doch ist. Allerdings stand
es außer Frage Bonnie nicht zu helfen. Es drängte sich mir der Gedanke
auf, ob ich ihr auch so selbstlos mein Bett anbieten würde, wenn sie so
hässlich wäre wie die dicke Frau Schulze von gegenüber mit der Hasenscharte.
Wahrscheinlich nicht oder doch, ich wusste es nicht. Bonnie wollte ich auf jeden Fall helfen.
Meine Hilfsbereitschaft wurde belohnt. Dankbar kuschelte sich Bonnie in der
Nacht an mich und malte mir in den schönsten Farben aus, was wir machen
würden, wenn wir das Koks vertickt hätten. Wir würden uns eine Corvette
kaufen und damit nach Italien fahren. Dort würden wir uns ein gemütliches
kleines Haus mieten und den halben Tag in der Sonne liegen. Ich überlegte
schon, welche Bücher ich einpacken würde, dabei hatte ich noch nicht einmal
einen Führerschein.
Als wir am nächsten Tag vor die Tür traten, warteten die Albaner schon
auf uns. Die Kugel traf mein Rückenmark so unglücklich, dass ich seitdem
vom Hals ab gelähmt bin.
Immer im Mai besucht Bonnie mich im Pflegeheim und ich höre ihr gerne zu,
wenn sie mir ihre Geschichten erzählt, die so leicht und so sonnig sind,
wie die Adria im Frühjahr. Die jeweilige Pflegekraft verweist auf mein
Namensschild an meinem Pflegebett, auf dem Finn Lehmann steht, und
fragt nach, warum die hübsche Frau mich Clyde nennt.
Wenn die Kopfhörer auf meinen Ohren sitzen und das Hörbuch eingeschaltet
ist, schließe ich die Augen. Dann liege ich lesend auf meinem Sofa. Stütze
das Buch mit den angezogenen Knien ab, damit ich mit meiner rechten
Hand umblättern kann und nehme diesen wunderbaren Geruch in mir auf,
den nur besonders gute Bücher haben.
Schon wieder ein Nachmittag vergangen, einfach so weg gelesen. Eine
weitere von tausend Geschichten inhaliert. Ich kann es mir leisten.
Seitdem ich vor zwei Jahren mit dem linken Arm in eine Walze geraten
bin, und Glück gehabt habe, dass nur der Arm daran glauben musste,
beziehe ich eine kleine Rente. Alles im Leben hat seinen Preis. Ich habe
mit Einarmigkeit bezahlt für die Freiheit den ganzen Tag lesen zu können.
Bücherwurm nannte mich meine Mutter, nachdem ich mir mit fünf Jahren
das Lesen selber beigebracht hatte, und alles las, was mir in meine schmutzigen, kleinen Finger geriet. Du führst ein Second-Hand-Leben
sagte meine kleine Schwester abfällig, die lieber auf Partys ging und
sich volllaufen ließ.
Ich habe keine Freunde. Aber ich bin beliebt in der Nachbarschaft.
Ich bin der, der immer zu Hause ist und einspringen kann. Der, der die
Blumen gießt und die Katze füttert. Dem Kanarienvogel frisches Wasser
gibt und den Dackel ausführt, weil der Besitzer mal wieder aufgehalten
wurde. Das ist in Ordnung. Hier in Bottrop hilft man sich gegenseitig.
Samstag und Sonntag gehe ich auf die Jagd. Auf Flohmärkten durchstöbere
ich die Bücherkisten. Ein gutes Buch kann ich riechen. Ein gutes Buch
ist lebendig.
Mein Leben hätte immer so weiter gehen können. Ich hätte meinen dreißigsten,
meinen vierzigsten, meinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Wäre
wahrscheinlich zu diversen Hochzeiten und Beerdigungen in der Familie
eingeladen worden. Nicht wirklich integriert, niemals im Mittelpunkt stehend,
aber auch nicht das fünfte Rad am Wagen, eher das Reserverad, das
sicherheitshalber nie benutzt wird. Und immer mit freundlicher Nachsicht
behandelt aufgrund des tragischen Schicksalsschlags, den ich erlitten habe.
Kurz ich hätte glücklich und zufrieden mein Leben gelebt.
Meinen Grabstein hätte ich rechtzeitig entworfen und in meinem geordneten
Nachlass hinterlegt. Ein aufgeschlagenes Buch aus Granit. Darauf eingraviert:
Finn Lehmann, 23.9.1987 - Seine letzte Seite ist aufgeschlagen
worden.
Die möglichen Neffen, die sich als nächste Verwandte darum kümmern
müssten, hätten die Augen verdreht über soviel geistlosen Witz. Mir hätte
es gefallen.
Wenn ich an diesem Montagnachmittag im Mai meine Wohnungstür nicht
geöffnet hätte, wäre mein Leben genauso verlaufen.
Aber ich öffnete und vor mir stand ein überaus zartes Geschöpf mit bloßen
Füßen und einer wilden rot-blonden Lockenmähne, gekleidet in ein
smaragdgrünes, schlichtes Sommerkleid, das genau den Farbton ihrer
Augen traf. Eine echte Elbenprinzessin. Sie trat einen Schritt auf mich zu,
reichte mir graziös ihre Hand und sagte: "Hi, ich bin Bonnie."
Ich ergriff sie mit meiner zum Glück vorhandenen Rechte, schüttelte sie
und antwortete: "Clyde." Sie strahlte mich an und mein Flur mit der billigen
Raufasertapete, deren helles Blau um die Lichtschalter herum sich in
schmutziges Grau verfärbt hatte, bekam einen neuen Glanz.
Mit einer Handbewegung bat ich sie herein und eilte voraus in der irrigen
Annahme in dem verwohnten mit Büchern vollgestopftem Wohnzimmer
noch etwas verbessern zu können. Hektisch räumte ich ein Stück Sofa
leer. Bonnie folgte mir, setzte sich und musterte die meterhohen Bücherstapeln, die zum größten Teil mit feinem Staub bedeckt waren
und das ungeputzte Fenster, auf dessen Fensterbank statt Blumen
natürlich Bücher standen. Sie fragte nicht, ob ich die alle gelesen hätte.
Ich schmolz dahin. Bonnie schien generell nicht viel von Konversation
zu halten. Sie kam gleich zur Sache, nachdem sie sich eine Zigarette
angezündet hatte und sich suchend nach einem Aschenbecher umschaute.
Ich beeilte mich, ihr einen angeschlagenen Dessertteller zu reichen.
Ich bin Nichtraucher. Sie schaute mich prüfend an mit ihren großen, grünen
Augen, die noch dazu von schwarzen, wenn auch gefärbten, langen,
gebogenen Wimpern umkränzt waren. "Ich habe gehört, du bist ein richtig
netter Typ, besonders hilfsbereit und immer gut drauf." Ich nickte. Was
sollte ich dazu sagen. Sie zog hektisch an ihrer Zigarette. Warum sollte
so ein Traumwesen auch grundlos bei mir auftauchen. Etwa wegen meiner
schönen, braunen Hundeaugen? Bonnie kam dann auch zur Sache:
"Ich habe von den Albanern, die Gang, die so tut, als ob sie eine Autowerkstatt
an der Koloniestrasse hat, ein Kilogramm Koks geklaut und jetzt
brauche ich eine sichere Bleibe." Sie erzählte von dieser wahnsinnig günstigen
Gelegenheit, als sie den Deal beobachtet hatte und dann plötzlich der offene
Kofferraum mit der Ware einen Moment unbeobachtet blieb. "Ich konnte
nicht anders, ich schnappte mir das Päckchen wie ferngesteuert und lief
davon. Jetzt bin ich mir natürlich nicht sicher, ob ich beobachtet wurde."
Sehnsüchtig schaute ich auf mein aufgeschlagenes Buch. Wie gemütlich
und beschaulich so ein Second-Hand-Leben doch ist. Allerdings stand
es außer Frage Bonnie nicht zu helfen. Es drängte sich mir der Gedanke
auf, ob ich ihr auch so selbstlos mein Bett anbieten würde, wenn sie so
hässlich wäre wie die dicke Frau Schulze von gegenüber mit der Hasenscharte.
Wahrscheinlich nicht oder doch, ich wusste es nicht. Bonnie wollte ich auf jeden Fall helfen.
Meine Hilfsbereitschaft wurde belohnt. Dankbar kuschelte sich Bonnie in der
Nacht an mich und malte mir in den schönsten Farben aus, was wir machen
würden, wenn wir das Koks vertickt hätten. Wir würden uns eine Corvette
kaufen und damit nach Italien fahren. Dort würden wir uns ein gemütliches
kleines Haus mieten und den halben Tag in der Sonne liegen. Ich überlegte
schon, welche Bücher ich einpacken würde, dabei hatte ich noch nicht einmal
einen Führerschein.
Als wir am nächsten Tag vor die Tür traten, warteten die Albaner schon
auf uns. Die Kugel traf mein Rückenmark so unglücklich, dass ich seitdem
vom Hals ab gelähmt bin.
Immer im Mai besucht Bonnie mich im Pflegeheim und ich höre ihr gerne zu,
wenn sie mir ihre Geschichten erzählt, die so leicht und so sonnig sind,
wie die Adria im Frühjahr. Die jeweilige Pflegekraft verweist auf mein
Namensschild an meinem Pflegebett, auf dem Finn Lehmann steht, und
fragt nach, warum die hübsche Frau mich Clyde nennt.
Wenn die Kopfhörer auf meinen Ohren sitzen und das Hörbuch eingeschaltet
ist, schließe ich die Augen. Dann liege ich lesend auf meinem Sofa. Stütze
das Buch mit den angezogenen Knien ab, damit ich mit meiner rechten
Hand umblättern kann und nehme diesen wunderbaren Geruch in mir auf,
den nur besonders gute Bücher haben.