indem er erstmalig für die deutsche Sprache die lyrischen Fundamente von Versmaß, Reim, Form und Stil beschrieb
So ist es bekannt, alle stimmen darin überein.
Mit Superlativen und Einzigkeitsbehauptungen, eingeschlossen die "erstmalig"-Revolutionen, bin ich immer etwas skeptisch. Mir fallen oft zu viele Gegenbeispiele ein, aber was mir einfällt muß noch nicht mit guten Belegen gesättigt sein: Es können Meinungen sein, subjektiv verfestigte.
Mit fallen als eine typische Gruppe von formreflektierten Lyrikern die Meistersinger ein, also die Dichter, die die Brücke vom edlen Minnegesang zur bürgerlichen Lieder-Vergleichung gebildet haben.
Wenn man deren Beschreibung in Wagners "Meistersingern" glaubt, wurden alle Versmaß-Reim-Form-Stil-Kompositionen in einem System geordnet, dessen Titel-Gefüge eine Hundertschaft von "Weisen" mit einem "Weise"-Titel zum System fügt. Diese verschiedenen "Weisen" wurden auf ihre originellen Besonderheiten hin verglichen, wobei die Namengeber und Erstschöpfer der jeweiligen "Weise" maßgeblich waren: War es "neu", konnte es einen eigenen Titel bekommen.
Und natürlich waren die Lieder, wie ja auch schon die der Minnesänger, nicht lateinisch, sondern deutsch. Opitz hinkte noch hinterher: Er fing fleißig lateinisch an, sammelte zusammen mit dem humanistischen Schulleiter des Görlitzer Gymnasiums griechische Handschriften und Wiegendrucke, um sie herauszugeben, schrieb in griechischen Versformen, wie später Hölderlin, lateinische Gedichte, bis er zum Schöpfer der deutschen Dichtkunst wurde.
Oder war der Opitz früher als diese Renaissance-Gestalten aus dem 16. Jahrhundert? Hans Sachs scheint mir gar nicht so weit von Opitz entfernt zu sein, müßte ich mal nachschauen.
... der deutschen Lyrik einführte, die sich zuvor noch immer an der lateinischen Längenmetrik orientiert hatte
Schon die Minnesänger kümmerten sich nicht um Längen und Kürzen, sondern gliederten die Satzmelodien mit einer Wortbetonungsart, die die wesentlichen Hervorhebungen, in denen die längeren Wörter und Kombinationen wurzeln, etwas lauter akzentuiert. Wir beachten es kaum, nehmen es nicht bewußt wahr, weil es uns natürlich scheint, so wie du die Luft nicht siehst, die du atmest.
Das ist in der Antike anders: Die Betonung der Wörter kümmert sich in griechischen und römischen Versen nicht um das Hervorheben der Wort-Wurzeln zur Akzentuierung der Satz-Melodie, sondern singt sich an der Folge der Längen und Kürzen entlang, so als tanzte die Sprache, oder vielleicht eher: als wäre sie gesungene Melodie, in Tonlängen gegliedert. Die Wörter halten ihre Kasus-Spannung durch längere Verse hindurch, damit man herausfindet, zu welchen Substantiven die Attribute mit den entsprechenden Endungen passen. Das durchgehende Stilmittel in Ovids "Metamorphosen" und Vergils Hirtenliedern ist das Hyperbaton, ein gelegentlich auch ineinander geschachteltes Beziehungsgeflecht ein-zwei-dreier Hyperbata. Ein melodisch gesungenes Durcheinander der kasus-bestimmten Satzteile.
Was im Deutschen völlig unmöglich ist,
es sei denn, die Wörter würden beziehungsfrei voneinander unabhängig,
Sinn neben Sinn,
Bedeutung neben Bedeutung,
mit schnellen Schnitten aufgeschlitzt.
Und vielleicht auch mit dem Beziehungs-Geflecht,
das unter der Sinn-Collage dem hindurch-tauchenden Leser
andere Welten aufschließt.
grusz, hansz