Der Codex - Teil 1

jon

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"Der Codex" gehört zum Zyklus "Carola": Carola Brauer hat schier unzählige Leben gelebt. Immer wieder ist sie in ein Zeitloch gefallen - mal wenige Tage, oft viele Jahre. In diesen fremden Zeiten ist sie nicht gealtert. Mehr noch: Sie hatte enorme Selbstheilungskräfte entwickelt. Zumindest körperlich. Nun ist sie zurück in ihrer eigenen Zeit und setzt ihr Leben fort. Nicht ganz so, als sei nichts geschehen.


Der Codex

Prolog (Juni 2000)

Ines verspürte nicht die geringste Lust, nach Hause zu gehen. Sie hatte zwar ihr eigenes Zimmer und man gestand der angeblich Hochbegabten fast so viele Freiheiten zu wie einer 16- oder 17-Jährigen, es war dennoch nur ein Kinderheim. Aber sie konnte nicht ewig durch die Stadt schlendern. Auch eine ausgiebige Imbisspause hatte sie schon gemacht und war pappsatt. Ein Espresso wäre ihr jetzt recht gewesen, aber niemand würde einer Elfjährigen Kaffee verkaufen.
Trotzdem betrat Ines das Café und sah sich nach einem Platz um. Im hinteren Teil des Gastraumes waren noch Tische frei. Außerdem gab es Barhocker an der Theke, nur einer davon war besetzt.
Von Erich.
Ines spürte ihr Herz schlagen. Erich, er war es wirklich. Er trug die Haare etwas anders und natürlich hatte er keine Uniform an, aber er war genauso beeindruckend wie damals, als Ines‘ Mutter ihn zum ersten mal gesehen hatte. Sollte sie ihn ansprechen? Er würde sie nicht erkennen, wie denn auch. Sie war nicht Anna, sie hatte nur Annas Erinnerungen.
Ines setzte sich auf den Hocker neben Erich. Er sah zu ihr herüber. Sie lächelte ihn an. Auch noch, als er sich wieder seinem Glas widmete. Er spürte es wohl, denn er drehte sich erneut zu ihr.
„Spendierst du mir eine Cola?“, fragte sie rundheraus. Sie rechnete nicht damit, dass er es tun würde. Aber er tat es.




(Oktober 2004)

Peter Tomann war ja immer für eine Überraschung gut, aber das hier war absurd.
„Das ist nicht Ihr Ernst!“, sagte er, Carola fassungslos anstarrend.
Sie wusste nicht, ob sie belustigt, beleidigt oder verletzt sein sollte. Hatte er wirklich gedacht, dass ihr gesamtes Liebesleben daraus bestand, ihn anzuschmachten? Auch nach zehn Jahren voller mehr oder weniger dezenter Abfuhren?
Tomann ließ sich in seinen Chefsessel fallen und starrte in Gedanken versinkend durch die Schreibtischoberfläche. Dass ihn die Nachricht von der Schwangerschaft nicht eben erfreuen würde, damit hatte Carola gerechnet – Tomann hasste es, neue Leute zu suchen, auch wenn er das nie im Leben zugegeben hätte. Aber dass er derart aus der Spur geraten würde …
„Okay“, sagte er und hob den Blick. „Wollen Sie das ganze Babyjahr nehmen?“
Hatte er nicht zugehört? „Ich werde nicht wiederkommen.“
„Nicht“, wiederholte er. „Aha.“ Und dann fragte er: „Wieso?“
„Weil ich keine zwanzig mehr bin und mit Kind und Job – diesem Job – überfordert wäre?“
„Das kann man regeln. Frau Törmchen arbeitet auch halbtags.“
„Ich weiß. Aber ich bin nicht Frau Törmchen.“
Tomann tat, als lächle er. „Wollen Sie behaupten, Sie wären weniger belastbar? Da hab ich Sie anders erlebt.“
Carola ging nicht darauf ein. Es war schwer genug, wegzugehen. Ihn nie wieder zu sehen.
Tomann kam offenbar ein Gedanke. Er schluckte. Dann sagte er mit belegter Stimme: „Sie können es sich ja noch überlegen. Ich muss den Arbeitsplatz für Sie sowieso freihalten.“
Verstand er nicht oder wollte er nicht verstehen? „Herr Tomann, Sie müssen gar nichts für mich freihalten. Sie müssen einen Ersatz für mich suchen, und zwar am besten, solange ich noch da bin und ihn einarbeiten kann.“ Es klang beschwörender, als Carola beabsichtigt hatte.
Er schien aufzugeben. Fast wirkte es, als sinke er ein bisschen in sich zusammen. Etwas wie Trotz schimmerte durch seine übliche Fassade. Oder Trauer. Oder beides. „Ich hoffe, Sie sind finanziell auf der sicheren Seite“, sagte er.
„Ich bekomme Unterhalt“, log sie. „Das wird völlig ausreichen.“
Er machte ein abschätziges Gesicht. „Dann muss der Typ ja sehr gut verdienen.“
Hatte er eben Typ gesagt? Und klang da etwas wie Eifersucht mit? Carola spürte, wie ihr ein hysterisches Lachen im Hals stecken blieb.
Er bemerkte seinen Fauxpas und sammelte sich. Tief durchatmend setzte er sich aufrecht hin, lächelte sein Cheflächeln und sagte: „Gut. Ein bisschen Zeit ist ja noch. Haben Sie eine Idee, wo ich einen Nachfolger für Sie finden könnte?“
„Nicht ad hoc, nein.“
„Okay.“ Er suchte offenbar nach einem weiteren Gedanken.
Carola nutzte die Gelegenheit zu gehen.
„Herzlichen Glückwunsch“, rief er ihr nach.
Sie nickte dankend. Im Stillen verfluchte sie ihn.

Eine Stunde später – sie war inzwischen zu Hause – rief Carola Bauer ein paar Telefonnummern in der Schweiz an und setzte damit einen ihrer Notfallpläne in Gang. Sie fühlte sich nicht wohl dabei. Nicht, dass sie fürchtete, jemand könnte den Spuren folgen und sie aufstöbern, dazu war alles zu gut abgesichert. Allerdings hatte sie das alles hinter sich lassen wollen, all die Jahrtausende und die Pläne und Vorkehrungen und Intrigen, die nötig gewesen waren, um nicht aufzufliegen. Anfangs spielte ihr Anderssein kaum eine Rolle – Schamanen, Weise Frauen und von den Göttern Berührte gehörten zum Alltag der Menschen der Kupfersteinzeit. Später, als sich die Menschen immer aufgeklärter gaben, musste sie zunehmend sorgfältiger darauf achten, dass niemand merkte, dass sie nicht alterte. Immer seltener hatte sie sich Identitäten schaffen können, die über längere Zeit glaubhaft blieben und kein Aufsehen erregten. Dass sie nach dem ersten großen Sturz durch ein Zeitloch auch danach immer wieder unverhofft in die Vergangenheit fiel und dabei keine Chance hatte, etwas wirklich vorzubereiten, hatte die Sache nicht einfacher gemacht. Irgendwann begann sie, ein Netz von Notfallplänen aufzubauen – Zugriffsmöglichkeiten auf Geld vor allem. Für die Zeit nach der Rückkehr war das anfangs gar nicht gedacht gewesen.
Jetzt aber brauchte sie das Geld. Thomas Bern würde keinen Unterhalt zahlen. Nicht, weil er sich weigern würde, ganz sicher nicht, sondern weil er es nicht wusste. Carola war sich noch nicht schlüssig darüber, ob sie Tom überhaupt von dem Kind erzählen sollte. Es war nur ein One-Night-Stand gewesen, kein Grund, seine Ehe zu gefährden. Es sah so aus, als hätte er diesmal wirklich die Richtige gefunden. Andererseits: Sowas wie mit Alex konnte sie ihm nicht nochmal zumuten …
Leichte Übelkeit stieg in ihr auf. Sie versuchte, sie wegzuatmen. Das klappte nicht. Es hatte nie geklappt, wahrscheinlich war es nur ein instinktiver Reflex, der sie das tun ließ. Ein bisschen Bewegung an der frischen Luft würde eher helfen, wusste sie und begann abzuwägen, ob die Übelkeit so schlimm war, dass es lohnte, die sechs Etage runter und später wieder hinauf zu steigen. Das Unwohlsein nahm zu, also zog sie ihre Jacke über und verließ die Wohnung.
Die Luft draußen war nicht das, was man frisch nennen konnte. Der Geruch nach Abgasen und Imbissküchen ließ Carola würgen. Einen Moment lang erwog sie, wieder hinauf zu gehen. Dann entschied sie sich für den Park.
Hier war es angenehmer, es roch nach Wasser und ein bisschen nach frisch gefallenem Laub. Sie liebte diesen Duft. Sie setzte sich auf eine Bank, schloss die Augen und hielt das Gesicht in die untergehende Sonne.
War es das gewesen? Sie hatte gern bei Tomann gearbeitet. Die Atmosphäre in der Firma hatte ihr zugesagt, die Arbeit war perfekt für sie gewesen: ein bisschen schreiben, ein bisschen recherchieren, ein bisschen organisieren. Und sie war gern in Tomanns Nähe. Immer noch. Obwohl sie längst wusste, dass seine anfänglichen Flirts keinen Deut mehr als reflexhafte Reaktionen seiner Eitelkeit auf ihre Verliebtheit waren. Er konnte unglaublich charmant sein. Aber er war auch oft genug rücksichtslos und unsensibel. Anmaßend. Großspurig. Unberechenbar. Carola war inzwischen fast froh, dass er nie etwas mir ihr angefangen hatte – sie wäre gnadenlos untergegangen neben ihm.
Schritte näherten sich. Carola schaute blinzelnd den Weg entlang. Ein Mann, kaum mehr als ein Schattenriss im Gegenlicht. Er schien es nicht eilig zu haben. Er erinnerte Carola an Erich: die Statur, der Gang … Sie fühlte, wie sie lächelte. Dabei war die Zeit, in der sie mit Erich zusammen war, alles andere als eine zum Lächeln gewesen. 1943, Deutschland. Er sah schneidig aus in seiner Offiziersuniform, es war ihr leicht gefallen, mit ihm anzubandeln. Im Frühjahr 1945 hatten sie sich verloren. Sie war der Gestapo in die Hände gefallen, er hatte zwar zusammen mit ihrer Tochter fliehen können, aber sie hatte die Spur der beiden nie wiedergefunden.
Caro wandte den Blick von dem Mann ab, schloss wieder die Augen und legte die Hand auf ihren Leib. Nein, das war nicht ihr erstes Kind, aber seit Langem wieder mal eines, für das sie ganz da sein würde. Zu oft hatte sie fortgehen müssen, weil ihr Nichtaltern offenbar zu werden drohte. Manchmal war sie auch durch einen Zeitsturz fortgerissen worden oder andere mehr oder weniger objektive Gründe zwangen sie, ein Kind aufzugeben.
Der Mann war stehen geblieben. Carola konnte es spüren, weil er die Sonne verdeckte und es plötzlich sehr kühl geworden war. Sie sah auf. Der Mann stand direkt vor ihr, schien sie anzusehen. Sein Gesicht lag im Schatten, aber es kam ihr so vor, als lächelte er.
„Anna?“
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen stellten sich langsam auf den Schatten ein. Der Mann erinnerte sie auch von Nahem an Erich.
„Entschuldigen Sie“, sagte er hörbar enttäuscht.
Sie kannte den Tonfall von irgendwoher und setzte sich aufrecht hin, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen. Er sah wirklich aus wie Erich.
„Sie haben mich an jemanden erinnert …“
Oh ja, sie kannte die Stimme, definitiv! Und er hatte sie Anna genannt. „Erich?“
Er setzte sich neben sie und strahlte sie an. „Hatte ich doch recht.“
Sie nickte und fühlte, wie sie ebenso strahlte. „Mein Gott … Wow! Ist das schön, dich zu sehen! Was machst du hier?“
„Geschäfte. Und du?“
„Ich wohne hier in der Nähe.“ Sie betrachtete ihn. Er sah aus wie damals: lebendige graue Augen, kantig-männliches Gesicht, kaum eine Falte. Nur die Haare trug er anders.
„Du siehst gut aus“, sagte er. Es klang eher höflich als ehrlich.
„Naja, ein bisschen älter“, half sie ihm.
Sein Strahlen ließ nach. „Tut mir leid.“
Einen Moment lang wusste Carola nicht, was er meinte. Dann begriff sie: Er hielt sie für eine Unsterbliche, die die Gabe verloren hatte. Es überraschte sie, denn das hieß, dass er selbst einer war. Niemand außer den Unsterblichen selbst wusste von der Gabe, zumindest in dieser Zeit nicht. Irgendwann würde es Allgemeinwissen sein, aber das würde noch ein wenig dauern.
Carola suchte an Erich nach Zeichen, die seinen Zustand verraten würden. Er war der erste Unsterbliche, den sie traf. Sie korrigierte sich: Er war der erste, von dem sie nun wusste, dass er einer war. Der einzige Hinweis – dass er nach 60 Jahren keinen Deut gealtert war – hätte ebenso gut bedeuten können, dass er ein Zeitspringer war. Um ein Haar wäre sie davon ausgegangen und hätte sich vermutlich verplappert.
Erich machte eine kleine Kopfbewegung in Richtung von Carolas Bauch. „Guter Hoffnung?“
„Sieht man es schon?“, fragte sie und lauschte dem Klang der altmodischen Formulierung nach. „Es kommt im März.“
„Das ist ja noch ein Weilchen. Weißt du schon, was es wird?“
„In der 13. Woche? Nein. Dafür ist es noch zu früh.“
„Wenn es ein Junge wird – wir haben den Boden noch voller Spielzeug.“
„Echt? Du hast Familie? Das ist cool.“
Er strahlte wieder. „Ja. Er heißt Jannik.“
„Jannik? Wie passend!“ Janek war sein Deckname im Widerstand gewesen.
Er lachte. „Stimmt! Und du, hast du schon einen Namen rausgesucht?“
Sie grinste: „Na jedenfalls nicht Jacek.“ Das war ihr Deckname gewesen. „Peter oder Katharina.“
„Aha. Wie die Zaren.“
Carola stutzte. „Stimmt. Ist mir noch gar nicht aufgefallen.“ Einen Moment lang dachte sie darüber nach, ob ihr Sohn eher nach Peter dem Großen oder nach Peter Tomann geraten sollte. Als ihr bewusst wurde, dass das Erbgut von Thomas Bern weder für das eine noch das andere eine brauchbare Grundlage war, wischte sie – über sich selbst den Kopf schüttelnd – den Gedanken beiseite.
Sie sah, dass Erich sie beobachtete. Sie kannte den Blick, er zeugte davon, dass ihn eine Frage beschäftigte. Er würde sie nicht stellen.
Carola bemerkte, dass es frisch geworden war, und zog die Jacke enger um die Schultern.
Erich stand auf. „Entschuldige, ich muss noch ein paar Anrufe machen.“
Sie erhob sich ebenfalls. „Klar, kein Problem.“ Sie kramte eine Visitenkarte aus ihrem Portmonee. „Hier!“ Sie würde die Firmenkarten sowieso nicht mehr brauchen. „Ruf mich an, wenn du mal wieder in Dresden bist! Die Mobilnummer ist meine private, da erreichst du mich auch nach dem Mutterschutz.“
Erich sah Carola fragend an.
„Naja, ich weiß ja nicht, wann es dich beruflich mal wieder hierher verschlägt.“
Er wirkte irritiert; das war wohl nicht das, was er hatte wissen wollen. Er fragte jedoch nicht nach, sondern reichte Caro die Hand. „Auf Wiedersehen, A…“, er blickte auf die Karte, „… Carola. War wirklich schön, dich wiedergesehen zu haben.“
„Ja, das war es. Wär schön, wenn es bis zum nächsten Mal nicht wieder so lange dauert.“
Er lächelte matt. „Versprochen.“ Dann ging er. Caro schaute ihm nach, sah, wie er im Gehen nochmal die Visitenkarte studierte und sie dann in die Manteltasche steckte. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand er im Dämmern des hereingebrochenen Abends.

Die folgenden Tage verliefen ungewöhnlich angespannt. Dank Tomann, der mal wieder sein Plappermaul nicht hatte halten können, wussten alle in der Firma von Carolas Schwangerschaft, und die Kollegen versuchten mehr oder weniger geschickt, die Frage nach dem Vater zu stellen. Tomann selbst war entweder nicht da oder er verschanzte sich in seinem Büro. Er schien mit etwas fürchterlich Wichtigem beschäftigt zu sein, denn jedes mal, wenn jemand etwas von ihm wollte, fertigte er ihn ab, bevor er überhaupt eintreten konnte.
Am Wochenende versuchte Carola, sich durch Hausarbeiten abzulenken. Sie fragte sich immer wieder, warum sie sich bei Erich nicht nach Elisabeth erkundigt hatte. Wegen des Schweigecodex der Unsterblichen? Sie wusste zwar, dass es in höchstem Maße als unschicklich galt, nach früheren Leben zu fragen oder davon zu erzählen, aber das konnte wohl kaum für gemeinsam erlebte Zeiten gelten. Sie sollte doch ein Recht haben, nach ihrem Kind zu fragen! Oder?
Kind. Kinder. Immer häufiger drehten sich Carolas Gedanken um dieses Thema. Sie wusste, dass die Hormone da eine maßgebliche Rolle spielten, aber das änderte nichts daran, dass es sie schwermütig machte.
Sie dachte an den Sohn, den sie als letztes geboren hatte. Er war zu einem Viertel nichtmenschlich, sein Vater war bei einem Urlaub auf der Erde in ein Zeitloch gefallen. Als sie sich trafen, hatte er sein Shuttle schon zur Zeitmaschine umprogrammiert, wollte nach Hause. Inzwischen war Tonha tot, bei einem Unfall gestorben. Jonathan war sowas wie ein Wunderkind gewesen. Sie hatte ihn in der Zukunft zurücklassen müssen.
Oder Ines. Dass sie mit ihr schwanger war, merkte Caro, die damals Johanna Johnson hieß, erst, als sie wieder in Deutschland war. Sie hatte LA verlassen, weil sie der Verbrecherjagd müde geworden war. In Deutschland wollte sie noch ein paar ruhige Jahre verbringen, ehe der Tag X anbrach. Ein alter Rivale aus LA lief ihr jedoch über den Weg und schoss auf sie. Da war sie hochschwanger. Die Ärzte – so erfuhr sie nach dem Aufwachen aus dem Koma – hatten das Kind retten können. Sie wollte die Kleine aus dem Kinderheim zu sich holen, doch man hatte sie schon weitergereicht und weitergereicht und weitergereicht … Im fünften Heim konnte man den Unterlagen nicht einmal mehr entnehmen, dass sie überhaupt angekommen war, geschweige denn, wo sie dann hingebracht worden war. Wahrscheinlich war sie längst adoptiert worden und trug einen anderen Namen.
Alexander, Toms erster Sohn. Ihn hatte sie in eine Pflegefamilie gegeben. Elisabeth, geboren 1944 in Warschau. Thomas, geboren 1882 im heutigen New Mexiko; sie ließ ihn nach dem Tod seines Vaters zurück. 1841 Janosh, den sie als 10-Jährigen das letzte Mal sah. 1701 Natalja, die bei der Familie des Schmiedes blieb. Verika. Thedor. Jasom. Er gehörte nicht in die Reihe der von ihr verlassenen Kinder, aber wohl keines war am Ende einsamer gewesen. Gott hatte ihn fallen lassen …
Nicht daran denken! Nur nicht daran denken …
Staub wischen. Wäsche zusammenlegen. Ein Haus suchen. Vielleicht auch nur eine Wohnung. Groß genug für all den Kram, der sich in ihrer jetzigen Wohnung stapelte, und groß genug, dass auch ein Kind Raum bekam. Irgendwas mit Balkon oder Terrasse. Ruhige Lage. Nicht gerade auf dem Land. Oder vielleicht doch auf dem Land. Oder … Carola ließ sich durch die Immobilienportale treiben.

Am Montagnachmittag rief Erich an. „Ich bleib noch ein paar Tage“, sagte er und lud sie zum Abendessen ein. Tomann war schon weg, also genehmigte sie sich ebenfalls einen frühen Feierabend. Die Kollegen vermuteten Schwangerschaftsbeschwerden; sie widersprach nicht.
In der Stadt lief ihr Tomann über den Weg. Er nickte ihr grüßend zu. Aus der Entfernung erkannte sie nicht, ob er dabei wie üblich lächelte oder nur die Mundwinkel nach oben zog. Letzteres wahrscheinlich, denn Carola hatte das Gefühl, von ihm gemustert zu werden. Sie versuchte, es zu ignorieren, und dachte an Erich.
Die Gabe also. Als Tonha ihr von den Unsterblichen erzählt hatte, hatte sie es im ersten Moment für einen seiner Scherze gehalten. Sie hatte allerdings keine Heiterkeit in ihm gespürt, also musste es wohl wahr sein. Es sei eine Art Infektion, hatte er erklärt, immaterielle Wesen würden lebende Körper besiedeln und instandhalten. Das sei einfacher für sie, als aus nicht mehr funktionierenden Wirten – er hatte tatsächlich diese Worte benutzt – in eine neue Heimstatt umzuziehen.
Ob Erich die Gabe schon damals hatte? Vermutlich. Er hatte sie oft mit ungewohnten Gedanken überrascht, so als griffe er auf ein umfangreiches Philosophiewissen zurück. Wie alt er wohl war? Sie würde es nicht erfahren, der Codex verhinderte dies.
Mit diesem Gedanken betrat sie das Restaurant. Wärme schlug ihr entgegen und der Geruch nach Bier und Rotkohl. Sie unterdrückte den Würgreflex und schaute sich suchend um. Erich saß ganz hinten in einer schummrigen Ecke des Lokales; Caro entdeckte ihn nur, weil er winkte.
„Du hast noch immer eine Vorliebe für kuschlige Ecken“, sagte Caro, als sie an den Tisch trat.
Erich begrüßte sie mit einem Wangenkuss. Die Modegeste irritierte sie.
Er half ihr aus dem Mantel. „Alte Gewohnheit“, bestätigte er, legte den Mantel über eine Stuhllehne und rückte Caro einladend einen der anderen Stühle zurecht.
„Also“, begann sie, während sie sich setzte, „was ist der Grund für dieses konspirative Treffen?“
„Eigentlich wollte ich nur ein bisschen Zeit mit dir verbringen.“ Der Klang seiner Stimme strafte ihn lügen. „Dresden hat sich verändert …“
„Ja. Der Brand.“
„Ja, wir waren gerade raus. Der Schein am Horizont … Zum Glück hat Eli es damals noch nicht verstanden.“
„Was ist aus ihr geworden?“
„Ich habe sie zu Freunden gebracht“, sagte er. Sie glaubte, ein kleines Zögern zu bemerken. „Sie ist Lehrerin geworden, hat Familie. Sie leben inzwischen in Deutschland.“
Caro lächelte. „Schön.“
Der Kellner kam, reichte ihnen die Speisekarte und nahm die Getränkebestellung auf. Als er gegangen war, beugte sich Carola ein wenig vor.
„Also raus mit der Sprache!“, sagte sie. „Was ist los?“
Erich atmete tief durch und beugte sich dann ebenfalls vor. „Ich brauche deine Hilfe.“
„Wobei?“
„Ich bin noch nicht sicher.“ Er warf schnelle Blicke nach links und rechts, wie um sicherzugehen, dass niemand lauschte. „Was weißt du über den Orden?“
„Welchen?“
Er zögerte kaum merklich. „Wenn du fragen musst“, sagte er dann, „weißt du offenbar nichts. Also“, er beugte sich noch ein Stückchen vor und senkte die Stimme. „Es gibt eine recht alte Geheimgesellschaft, die ursprünglich die Herrschaft Christi wiederherstellen wollte.“
„Wiederherstellen?“ Sie legte demonstrativ die Stirn in Falten.
„Ja, ich weiß, aber das war eben deren Plan. Vor etwas über hundert Jahren nahmen sie jemanden in den Kreis der Lenkenden auf, weil er der Mutter Jesu begegnet war.“
Caro lehnte sich zurück. „Eine Vision …“
Erich setzte sich ebenfalls gerade hin. „Nein, wahrscheinlich nicht. Er ist einer von uns.“
„Verstehe“, sagte sie und versuchte, sich zu erinnern.
„Jedenfalls hat Christoffer nach und nach weitere …“, er hüstelte, „… in den Ratskreis geholt. Jetzt hat er allerdings die Gabe verloren und wir stehen an einem Wendepunkt.“
„Wir?“ Sie musterte ihn. „Ich wusste nicht, dass du so … religiös bist.“
„Bin ich auch nicht. Sind wir alle nicht. Fast alle jedenfalls. Christoffer hat uns zusammengeholt, weil er eigentlich den Orden kontrolliert abbauen wollte. Man kann so ein Netz nicht einfach für beendet erklären, die Einheiten würden sich selbstständig machen und wer weiß, wozu sie dann die Strukturen nutzen. Deshalb besteht unsere Hauptaufgabe derzeit darin, den Orden zu kontrollieren.“
Sie nickte. Das klang logisch, vor allem, wenn Erich von dem Orden sprach, dessen Wirken sie selbst gelegentlich schon gespürt zu haben glaubte. Er schien tatsächlich über ein interessantes Netz an Einflussnehmern zu verfügen – und zwar weltweit.
„Es gibt im Moment noch ein Gleichgewicht im Rat“, fuhr Erich fort. „Christoffer als charismatische Figur in der Mitte. Die Hälfte der Lenker sind nur deshalb halbwegs engagiert, weil er sie dazu animiert. Zwei oder drei folgen der Absicht, die Organisation systematisch auszulösen. Es gibt aber auch Mitglieder, die ein Erstarken des Ordens befürworten, die so etwas wie eine unter Christus vereinte Welt für eine gute Lösung halten angesichts all der aktuellen Probleme.“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Er sah Caro beschwörend an. „Wir brauchen jeden, der …“
„Nein“, unterbrach sie ihn.
„Nein? Hör dir …“
„Nein, Erich, nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ohne mich! Ich …“ Sie zögerte, beugte sich wieder zu ihm vor. „Ich gehöre nicht dazu, Erich. Ich … Verstehst du, ich habe nur noch dieses eine Leben.“ Sie wusste, dass er das falsch interpretieren würde, aber das war auch ihre Absicht. Sie strich sich über den Leib. „Ich habe genug getan, wirklich. Es gibt jetzt Wichtigeres für mich.“
„Anna, bitte!“
„Carola.“
„Ca…? Entschuldige, klar. Carola. Es ist nur …“ Sein Blick fiel auf etwas oder jemanden hinter Caro und er verstummte. Sein Ausdruck veränderte sich. Sie kannte das von damals; es hieß, ein Bekannter kam, der nicht eingeweiht war. Sie hörte, wie jemand zu ihnen trat, und schaute auf.
Charlie, keinen Tag gealtert.
Erich erhob sich und reichte dem Ankömmling die Hand. „Charles.“ Er bat ihn mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. „Das ist Carola“, stellte Erich vor. „Charleston Blackwood, ein Freund.“
Charlie musterte sie, zögerte.
Sie befreite ihn von der Unsicherheit, indem sie ihn deutlich anlächelte. „Schön dich zu sehen. Und wie immer perfekt barbiert. Die Erfindung des transportablen Rasierapparates muss ein Segen für dich gewesen sein.“
Er stutzte kurz, dann lachte er laut auf. „Und du bist so kess wie eh und je.“ Er sah sich auf dem noch immer leeren Tisch um. „Nichts zu trinken?“ Dann winkte er dem Kellner und setzte sich. „Also erzähl! Was machst du so?“

Es war ein wunderbar entspannter Abend geworden. Nachdem Erich begriffen hatte, dass Charlie und Caro sich kannten, und Carola sicher war, dass auch Charles sie für eine Unsterbliche hielt, die allerdings die Gabe verloren hatte, hatten sie munter geplaudert und gescherzt. Zwar sprachen sie nicht über den Orden, aber ein kurzer Wortwechsel über den Gesundheitszustand von Pater Christoffer zwischen den Männern ließ Caro annehmen, dass auch Charlie zum Kreis der Lenkenden gehörte. Er schien aber wohl kein Problem auf den Ratskreis zukommen zu sehen, denn er wirkte ausgesprochen gelöst. Etwas, was Caro während ihrer früheren Bekanntschaft nur selten an ihm erlebt hatte. Jetzt, etwas übermüdet am Schreibtisch sitzend, fragte sie sich, ob der ernste oder der fröhliche Charles der echte war.
„Frau Bauer?“, unterbrach Peter Tomann ihre Gedanken.
Sie schrak auf und schaute zu ihm.
Tomann stützte sich lässig am Türrahmen ab. „Guten Morgen“, sagte er.
„Guten Morgen.“
„Sind Sie zufällig auf der Suche nach einer größeren Wohnung?“, fragte er.
Hatte er ihren Computer überwacht? „Em … ja. Warum?“
„Frau Knopfler zieht nach Hamburg zurück und sucht einen Nachmieter.“ Er sagte es in einem Tonfall, als spräche er über etwas extrem Nebensächliches. Dass seine langjährige Freundin nach Hamburg zog, war jedoch alles andere als irrelevant.
„Ich weiß nicht, es …“ Sie suchte eine Ausrede. „… läge wahrscheinlich über meinen finanziellen Möglichkeiten. Trotz Unterhalt“, schob sie schnell nach.
„Da ließe sich bestimmt etwas machen“, erwiderte er, noch immer in diesem Tonfall.
Carola hatte den Eindruck, als versuche er, etwas herunterzuspielen. „Ich weiß nicht“, wiederholte sie. „Vielleicht bleibe ich ja gar nicht in Dresden.“
Seine Maske bekam einen Riss. Er bemerkte es und übertünchte es mit einem Lächeln. „Überlegen Sie es sich in Ruhe, die Entscheidung muss ja nicht heute oder morgen fallen.“ Er stieß sich vom Türrahmen ab.
Caro nickte. „Okay.“
Er ging. Sie hörte ihn die Tür seines Büros schließen.
Eine Sekunde lang herrschte Totenstille in der Firma.
Dann kam Siegtraude Törmchen an Carolas Tür. „Trennen die sich?“, flüsterte sie mit einer vielsagenden Kopfbewegung zu Tomanns Büro hin.
Carola hob die Schultern. Sie hoffte, es würde Desinteresse signalisieren.
„Die waren doch letztens erst noch gemeinsam im Urlaub“, sagte Törmchen und zog hinter sich die Bürotür halb zu. „Ob sie ihn oder er sie verlässt?“
„Sie ihn bestimmt nicht“, entfuhr es Carola. Olivia Knopfler hatte hart um Tomann gekämpft, hatte ihr geliebtes Hamburg verlassen, nur um in seiner Nähe sein zu können. Und auch danach hatte sie eine Menge ertragen – seine Unzuverlässigkeit vor allem, die zu einem Gutteil auch daraus erwuchs, dass er sich eher aus finanziellen als aus emotionalen Gründen für sie entschieden hatte. Sie liebte ihn zutiefst, ohne Frage, und Caro konnte sich keinen Grund vorstellen, warum sie ihn hätte vom Haken lassen sollen. Er andererseits war von ihr abhängig. Es war ein offenes Geheimnis, dass die Firma ohne Knopflers Unterstützung schon vor Jahren hätte dichtmachen müssen. Und so, wie Caro es einschätzte, war inzwischen nichts Gravierendes passiert, was die Geschäfte grundlegend verbessert hätte. „Vielleicht“, fasste sie ihre Gedanken zusammen, „braucht sie einfach nur ein bisschen Abstand. Ich meine, er ist nicht einfach.“
„Aber gleich Hamburg?“ Törmchens Gesicht war der reine Zweifel.
Caro hob erneut die Schultern. Sie hatte wirklich keine Lust, weiter über das Thema zu spekulieren. Jedenfalls nicht laut.
Auf dem Gang erklangen Schritte. Tomann. Törmchen huschte davon. Tomann ignorierte sie und ging in die Kaffeeküche. Carola konnte seine lauernde Anwesenheit im Nebenraum geradezu spüren. Zugleich war ihn klar, dass es eher ihre eigene Anspannung war, die ihr dieses Gefühl vermittelte, denn in Wirklichkeit reichten ihre mentalen Fähigkeiten bei Weitem nicht, um einen anderen Menschen tatsächlich über zwei oder die Meter hinweg und durch eine Mauer spüren zu können. Sie fluchte im Stillen. Sie hatte gedacht, dass das vorbei wäre, dass ihre Vernunft endlich stärker wäre als das instinkthafte Verlangen. Hatten die Hormone die alten Muster wiedererweckt oder war das Sehnen nach ihm einfach nur nie erloschen? Sie hatte weiß Gott Besseres zu tun, als sich wie ein liebeskranker Teenager zu fühlen! Sie war fast 40, verdammt nochmal! Fast 30.000 eigentlich sogar! Sie sollte abgeklärt sein, souverän und weise! Vielleicht war ein Teil von ihr das sogar – aber der war offenbar gerade nicht im Dienst.
Nebenan klapperte Tomann mit Tasse und Untertasse. Kaffeeduft wehte ganz kurz herüber. Dann ging Tomann wieder in sein Büro. Und Carola konzentrierte sich auf ihre Arbeit.

Als sie am nächsten Tag von der Arbeit kam, wartete Erich bereits vor ihrer Wohnungstür. Obwohl Carola sich müde fühlte – Tomann hatte kurz vor Feierabend noch einmal versucht, sie als Knopflers Nachmieterin zu rekrutieren – freute sie sich, Erich zu sehen. Sie bat ihn herein.
„Kaffee?“, fragte sie, während sie ihn ins Wohnzimmer lotste und dabei ihre Tasche im Flur abstellte.
„Nein danke, ich hab grade.“ Er sah sich um und lächelte.
„Was?“
„Kommt mir vertraut vor. Andere Möbel, andere Accessoires, aber der gleiche Stil.“
Sie lachte. „Nett, dass du das Chaos Stil nennst!“
Er tat, als wüsste er nicht, was sie meinte, und setzte sich auf den Stuhl am Schreibtisch. Seine Haltung wirkte angespannt.
Caro nahm auf der Couch Platz. „Das ist kein Höflichkeitsbesuch, oder?“
„Wir haben einander nie aus Höflichkeit besucht“, erinnerte Erich.
„Stimmt. Das ist aber auch kein Stelldichein.“
Der Anflug eines Lächelns zog über sein Gesicht, er schwieg jedoch.
„Übrigens“, versuchte Caro, die Lage etwas zu lockern, „Charlie war überrascht, dass ich dich mit Erich angesprochen habe.“
„Er nahm wohl an, dass du meinen aktuellen Namen kennst.“
„Der wäre?“
„Hans Bernbauer.“
Sie starrte ihn an. „Das ist ein Scherz.“
Er grinste. „Hab ich auch erst gedacht, aber der Kerl mit den Papieren hat mir das als die am besten abgesicherte Identität verkauft.“
„Hat die was mit den Bernbauers zu tun, die ich damals benutzt habe?“
„Ich glaube, dein angeblicher Großvater war ein Cousin meines angeblichen Urgroßvaters.“
„Und wahrscheinlich war mein Identitäten-Händler der Großvater von deinem.“
Er grinste. „Gut möglich.“
„Und außerdem noch Hans …“ Sie schüttelte den Kopf. „Echt, wenn das jemand in einer Geschichte schreiben würde, würde man dem sein eigenes Buch wegen absurder Zufälle um die Ohren hauen.“
„Apropos Zufälle …“ Er rollte mit dem Stuhl etwas näher zur Sitzecke mit der Couch. „Du weißt, dass dein Chef für den Orden arbeitet, oder?“
„Tomann? Nein.“ Irgendwas an dem Gedanken fühlte sich logisch an. „Nein, das wusste ich nicht. Er ist Christ, katholisch sogar, aber Fanatiker …?“
„Nein nein, ich denke nicht, dass er deshalb dabei ist. Ich bin nicht mal sicher, dass ihm das ganze Ausmaß des … der Organisation bekannt ist. Er ist, wenn ich es richtig verstehe, über Christoffer dazu gekommen und wohl auch nicht wirklich eingeweiht. Ich nehme an, der macht es seinem alten Beichtvater zu liebe.“
„… und wegen der sich ergebenden geschäftlichen Kontakte“, ergänzte Caro.
„Ja, vermutlich. Er ist beauftragt, ein paar Dinge hinsichtlich eines Großtreffens der Lenker zu organisieren. Ich habe allerdings den Eindruck, dass er weiterreichende Pläne hat. Ist dir was Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Die Knopfler zieht weg.“
„Das wissen wir schon. Sonst noch was?“ Er sah sie fragend an.
Caro fühlte sich auf einmal zurückversetzt, konnte fast den Geruch der Petroleum-Lampe riechen, die im Versteck der Gruppe für gewöhnlich brannte. Das Geräusch der vor ihrem Haus vorbeifahrenden Autos erinnerte an das Grollen der näherrückenden Front. Und beinahe fühlte es sich so an, als trete das Baby in ihrem Bauch. Ihr wurde übel.
„Anna? Alles in Ordnung?“ Er setzte sich neben sie. „Anna?“
Sie atmete tief durch. „Nur ein Deja vu“, beruhigte sie ihn.
Er nickte verstehend.
Dann schwiegen sie eine Weile und es fühlte sich so an, als schwiegen sie über dasselbe. Aber es war nicht dasselbe, nicht ganz. Sie hatte damals gewusst, dass der Krieg länger dauern würde, als die Genossen hofften, sie kannte bereits die Bilder aus Auschwitz, Bergen-Belsen und Majdanek, lange bevor die Russen und Amerikaner sie veröffentlichten. Sie wusste, dass ihre Arbeit im Untergrund nur ein Tropfen auf dem heißen Stein war, aber sie hoffte auch, dass dieser stete Tropf den Stein etwas aushöhlen würde. Viel hatte es nicht gebracht, nur zwei Wochen weniger Krieg. Aber immerhin …
Erich stand auf. „Ich sollte gehen. Du bist müde.“
„Ich könnte uns noch Abendbrot machen“, bot sie an.
„Danke, aber … Ines erwartet noch meinen Anruf.“
„Deine Frau?“
Er nickte. „Gewissermaßen. Ich hab’s nicht so mit Trauscheinen.“
„Ach ja? Ich hab’s dir damals ausreden müssen.“
„Das waren andere Zeiten.“
„Es sind immer andere Zeiten, Janek.“
Er nickte erneut, berührte Carola kurz an der Schulter und ging dann.

Am nächsten Tag fiel es Carola schwer, sich zu konzentrieren. Die Routinearbeit war nicht sonderlich hilfreich dabei, die Gedanken von Tomann abzulenken. Auch Tomann selbst war nicht sonderlich hilfreich dabei – alle paar Minuten schaute er bei Carola im Büro herein, um irgendwas Belangloses zu fragen. Sie war kurz davor, ihn anzublaffen. Entweder merkte er es oder ihm gingen die Ausreden aus: Am Nachmittag wurden seine Fragen seltener. An sinnvolle Arbeit war trotzdem nicht mehr zu denken; Carola ging weit vor dem regulären Feierabend.
Zu Hause nahm sie die Wohnungssuche wieder auf, schon um Tomann bei seinem nächsten Rekrutierungsversuch etwas Handfestes entgegenhalten zu können. Abgesehen davon, dass sie sich kaum vorstellen konnte, dass eine Wohnung, die Olivia Knopfler gefallen hat, ihren Geschmack treffen würde, schüttelte sie sich bei den Gedanken, in ihren Räumen zu leben. Selbst wenn es dann nicht mehr ihre Räume wären. Als sie sich bei diesem Gedanken ertappte, fluchte Carola und schaltete den Rechner ab.
Dann saß sie unschlüssig auf der Couch. Sie hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, ohne zu wissen, worüber eigentlich. Ihre Gedanken kreisten um Tomann und dessen plötzlich erwachtes Interesse an ihr. Sie versuchte, sich einzureden, dass es die pure Neugier war, die ihn trieb, zugleich wusste sie aus Erfahrung, dass das nicht sehr wahrscheinlich war. Versuchte er, sie zum Bleiben zu bewegen? Das lag schon näher. Aber was sollte das mit der Wohnung? Was sollte das mit der Knopfler überhaupt? Wenn sie sich trennten … Carola verbot sich den anschließenden Gedanken.
Stattdessen versuchte sie, darüber nachzudenken, wie Tomann an den Orden geraten sein mochte. Und noch wichtiger, was er sich davon erhoffte. Einfluss? Er war der Typ, der sich gern als Mann mit Einfluss sah. Oder besser als Mann mit Kontakten. Die würde er bekommen, wenn er es schaffte, sich in den Kreis der Lenkenden einzuklinken. Allerdings erschien es ihr eine Nummer zu groß für das, was Tomann für gewöhnlich so trieb. Was immer das war. Carola wurde sich bewusst, dass sie es gar nicht wusste, dass es nur so ein Gefühl war, dass er übers reine Kontakteknüpfen eigentlich nie hinaus kam. Zumindest für die Firma war nie etwas Einträgliches dabei herausgesprungen. Er war, wenn man es böse formulierte, ein Schaumschläger.
Es sei denn, er tat nur so.
Dann wäre er ein genialer Schauspieler. Und das wieder hieße, dass er gefährlich werden konnte, wenn er ihr zu nahe kam.
Nur dass er das nie tun würde.
Leider.
Hoffentlich.
Warum interessierte sich Erich für ihn? Carola spielte mit dem Gedanken, ihn anzurufen und zu fragen. Sie beschloss, es nicht zu tun. Dann ging sie ins Bett.

Eine Woche lang hörte Carola nichts von Erich, dafür wurde es immer deutlicher, dass Tomann sich um sie bemühte. Die Kollegen warfen ihr bereits fragende Blicke zu, die sie mit demselben fragenden Ausdruck erwiderte. Dann, am Mittwochvormittag, schaute er wiedermal wie zufällig bei ihr im Büro herein und sagte: „Haben Sie gerade zu tun?“
„Nichts Unaufschiebbares“, antwortete sie.
„Könnten Sie mich in die Stadt fahren?“
,Ungern‘, war sie versucht zu antworten. „Innenstadt?“, fragte sie stattdessen.
„In der Neustadt. Sie können direkt vorm Haus parken, ich muss nur schnell etwas abholen.“
Sie nickte und schloss die Ordner auf ihrem Desktop, die sie gerade hatte entrümpeln wollen.
Auf dem Weg zu ihrem Auto erklärte er, seines sei in der Werkstatt, weil etwas mit den Bremsen nicht stimmte. Sie nahm es zur Kenntnis, stieg ein, fuhr aus dem Hof und ließ ihn – nachdem er das Tor geschlossen hatte – einsteigen. „Wohin genau?“
Er nannte eine Straße. „Recht weit draußen, kurz vor dem alten Fabrikgelände.“
Caro kannte die Gegend, sie hatte 1944 ein paar Wochen mit Erich dort gelebt. Sie fuhr los.
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“, begann er das Gespräch.
Sie nickte.
„Sie wirken etwas angestrengt in letzter Zeit.“
„Das kann daran liegen, dass es etwas anstrengend ist.“ Sie merkte, dass das ein wenig zu aggressiv geklungen hatte, und schwächte ab: „Ich versuche, alles übergabefertig zu machen. Es hat sich ein Haufen Zeug angesammelt.“
„Kann ich bei irgendwas helfen?“
Sie schüttelte den Kopf. Hoffentlich kam er nicht wieder auf die Wohnung zu sprechen.
„Sie werden uns fehlen.“
Was sollte sie darauf sagen?
„Sie werden mir fehlen.“
Sie spürte, dass er sie anlächelte. Sie schaute nicht hin. Etwas schnürte die Kehle zu. Sie hätte sich freuen sollen, ungeachtet der Tatsache, dass sie wusste, dass ein Leben mit ihm nur in einem Desaster enden konnte. Im Moment aber war es ein Gemisch aus Argwohn und Trauer und Wut, das sich in ihr ausbreitete. Zu sehr fühlte es sich an, als hätte sein Werben eher mit der Firma als mit ihr zu tun. Oder dem Orden. Eine scheiternde Liebe, damit würde sie leben können, aber sowas? Sie wollte ein normales Leben, eines ohne Intrigen und Weltrettung und diese übergroße Verantwortung, die alles in ihr übernahm und sie innerlich erfrieren ließ. Am Anfang war es ihr wie eine große Chance vorgekommen, all diese Dinge tun zu können, stärker, größer zu sein, als die Frau, die sie vor dem ersten Sprung gewesen war. Aber inzwischen hatte sie keine Kraft mehr dafür.
„Habe ich was Falsches gesagt?“, fragte Tomann und er hatte dabei diesen weichen Tonfall in der Stimme, auf den sie so lange gewartet hatte.
Sie winkte ab, mit den Tränen kämpfend.
„Verstehe“, behauptete er und schwieg. Das gab ihr Gelegenheit, sich zu fangen. Ihre Gedanken begannen sich wieder um die Frage zu drehen, was Tomann mit dem Orden zu tun haben könnte.
„Dort vorn ist es“, sagte Tomann und wies auf eine Lücke in der Häuserfront. Das Grundstück war offenbar noch bis vor Kurzem bebaut gewesen, die Natur hatte gerade erst begonnen, sich das Terrain zurück zu erobern. Carola rollte auf den zur Parkfläche ausgebauten Bürgersteig und hielt an.
Tomann stieg aus. „Es dauert nicht lange.“ Dann ging er in eines der Häuser neben der Baulücke. Es sah wie ein reines Wohngebäude aus.
Carola sah sich um. Sie suchte das Haus, in dem sie damals mit Hans und Elisabeth gewohnt hatte, aber sie war nicht sicher. Es war eine unruhige Zeit damals, sie hatte sich auf anderes konzentriert. Und auch danach gab es Wichtigeres.
Ein Mann fiel Carola auf. Er erinnerte sie an irgendjemanden. Als er in das selbe Haus ging, in dem Tomann verschwunden war, wusste er, wem er ähnelte: dem Fälscher, bei dem Caro 1964 die Papiere von Sieglinde Bergmayr auf sich hatte anpassen lassen. Vielleicht war es sein Sohn. Gab es sowas wie Fälscher-Dynastien? Gut möglich.
Tomann kam zurück, beim Aus-der-Tür-Treten steckte er gerade etwas in die Innentasche seines Sakkos. Beim Einsteigen ins Auto sagte er: „Ich lade Sie zum Essen ein. Italiener?“
„Okaayy …“
Sie fuhren zurück zur Firma. Statt ins Büro gingen sie jedoch zum Restaurant um die Ecke. Sie bestellte Salat, er eine Pizza.
Während sie auf das Essen warteten, musterte er sie. Sie tat, als merke sie es nicht.
Schließlich sagte er: „Ich meinte es ernst vorhin. Ich würde Sie vermissen.“
Sie hörte das „würde“ sehr deutlich, ignorierte es aber. „Was erwarten Sie jetzt? Dass ich sage, ich Sie auch?“
Er lächelte schelmisch. „Das wäre ein Anfang.“
„Etwas spät für einen Anfang“, erwiderte sie und merkte, dass sie nicht die war, die das vor ein paar Wochen noch gesagt hätte.
Er merkte es wohl auch. „Ich hoffe, nicht zu spät.“ Er beugte sich etwas vor. „Die Lage hat sich verändert.“ Er lächelte entschuldigend. „Affären im Büro – Sie wissen schon.“
Sie entzog sich seinem Charme, es fiel ihr leichter, als sie es für möglich gehalten hätte. „Dass ich schwanger bin, ist Ihnen doch noch bewusst, oder?“
Er nickte und lehnte sich zurück. „Verstehe. Sie lieben ihn.“
„Ja, aber das ist weitgehend irrelevant.“
„Weitgehend … Aha.“
„Ja.“
Er lächelte erneut. Es wirkte siegessicher. Carola wusste, dass sie sich darüber ärgern sollte, aber sie tat es nicht. Stattdessen erwiderte sie das Lächeln. Gerade als es ihr bewusst wurde, kam der Kellner und brachte das Essen.
Tomann nutzte die Gelegenheit, um auf einen sachlicheren Tonfall umzuschwenken. „Ich habe derzeit außerhalb der Firma ein paar wichtige Dinge zu tun, vielleicht könnten Sie bei der Suche nach einem Nachfolger für Sie helfen. Ich habe vorgestern eine Anzeige aufgegeben, die ersten Bewerbungen sollten also in den kommenden Tagen ankommen.“
Carola nickte. Es entspann sich ein oberflächliches Gespräch über Dienstliches und Halbprivates in einem seltsamen Tonfall zwischen Vertrautheit und Abstandhalten. Tomann fiel ab und an in diesen weichen, zuwendenden Tonfall, benutzte aber auch dabei konsequent das Sie. Es fühlte seltsam an, so als wolle er sich alle Türen offenhalten. Und vielleicht war es ja auch so.
Bevor sie das Lokal verließen, lud er Carola noch für den kommenden Abend in ein Restaurant in der Altstadt ein. Dann ging sie ins Büro und er zu einem Termin, wie er erklärte. Er kam bis zum Feierabend nicht zurück.

Tomann kam auch am nächsten Tag nicht ins Büro. Caro versuchte, Erich anzurufen. Er ging nicht ran. Stattdessen meldete sich Charlie und wollte sie für den Abend einladen. Sie vertröstete ihn auf ein andermal.
Nach Feierabend, Carola war gerade dabei, zu ihrer Verabredung mit Peter Tomann aufzubrechen, rief dieser an. Caro vermutete schon, dass er absagen würde, doch er bat sie lediglich, in ein anderes Restaurant zu kommen, da er ohnehin in diesem sei und noch ein paar Minuten, wie er es ausdrückte, dort zu tun hätte. Es handelte sich um das Lokal, in dem sie sich vor ein paar Tagen mit Erich getroffen hatte, ein Umstand, der sie in Alarmzustand versetzte.
Als sie in der Kneipe ankam, erwies sich, dass sie recht damit gehabt hatte: Sie sah Charlie sofort und erkannte in dem Mann, der mit dem Rücken zu ihr gewandt bei ihm saß, Peter Tomann. Noch während sie überlegte, ob sie zu ihnen gehen sollte, wurde sie von Charles entdeckt. Er winkte ihr zu.
Tomann drehte sich um. Sie konnte sehen, wie er erst fragend, dann sie erkennend und dann erst recht fragend zu ihr schaute.
Sie trat an den Tisch. Charlie stand auf, um ihr einen Stuhl zurecht zu rücken.
„Ich bin wohl etwas zu zeitig da“, sagte Carola zu Tomann. „Ich hoffe, ich störe nicht.“
„Nein, alles erledigt“, antwortete Charlie und klopfte sich auf die Brusttasche seiner Lederjacke.
„Woher kennen Sie sich?“, fragte Tomann. Es sollte wohl beiläufig klingen.
„Durch einen gemeinsamen Bekannten“, sagte Carola und schaute zu Charlie. Der verstand den Blick und erklärte, leider gehen zu müssen.
Als er fort war, zog Carola ihren Mantel aus und hängte ihn über den Stuhl, auf dem gerade noch Charlie gesessen hatte.
„Ein gemeinsamer Bekannter?“, fragte Tomann. Er tat schelmisch. „Doch nicht etwa …“ Sein Blick zu ihrem Bauch vervollständigte die Frage.
Sie setzte sich. „Nein. Nur ein alter Freund.“ Im selben Moment ärgerte sie sich über den verräterischen Zungenschlag und hoffte, dass Tomann das „alt“ nicht allzu wörtlich nahm. Sie versuchte abzulenken, indem sie sich demonstrativ umsah und sagte: „Ich wusste nicht, dass Sie auf so kuschlige Kneipen stehen.“
„Es kommt nicht auf das Lokal an, sondern auf die Begleitung“, erwiderte er flirtend.
Caro lächelte pflichtschuldig. Ihr Gehirn verarbeitete noch die Information, dass Tomann Charles offenbar das übergeben hatte, was er gestern in der Neustadt abgeholt hatte. Papiere?
Tomann merkte wohl, dass sie nicht so unbefangen war, wie sich geben wollte. Er musterte sie. „Merkwürdige Situation, oder?“, sagte er dann.
Sie sah ihn fragend an.
„Wir haben so lange so getan, als wären wir nur Kollegen, das jetzt plötzlich zu ändern, ist nicht ganz einfach.“
„Ja. Irgendwie schon. Es ist …“
Der Wirt unterbrach sie durch sein Kommen. Er stellte Caro ungefragt ein Glas Ginger Ale hin und nahm Tomanns leeres Bierglas an sich. Er reichte Caro die Speisekarte und empfahl dabei den Sauerbraten. Sie bestellte ihn. Tomann schloss sich an.
Als der Wirt weg war, schaute Tomann fragend auf Carolas Glas. „Sie sind wohl öfter hier?“
„Nein. Aber ich war …“ Sie brach ab.
„Sie waren was?“
„Mit Freunden hier, es war ein langer Abend. Wahrscheinlich hat der Wirt sich daran erinnert.“
„Blackwood?“, vermutete Tomann.
Sie nickte.
Er dachte einen Moment lang über etwas nach.
Carola beschloss, es misszuverstehen, und sagte: „Wir sind wirklich nur Freunde. Nichtmal besonders enge.“
Er nahm das Angebot an und tat erleichtert. Er kam auf das vorherige Thema zurück. „Ich gebe zu, ich war noch nie in so einer Situation. So muss sich ein Blind Date anfühlen, oder? Man weiß gar nicht recht, worüber man reden könnte.“
„Ja, wahrscheinlich. Normalerweise redet man dann davon, was man so arbeitet und was man für Hobbys hat und sowas.“
„… oder erzählt sich was aus seiner Lebensgeschichte.“
Sie lachte leise auf.
„Nicht?“
„Das ist so ziemlich die schlechteste Idee für ein Blind Date. Ich meine, wieso hat man denn eins? Weil es anders nicht geklappt hat. Nichts ist deprimierender, als dem andern irgendwas von unglücklichen Beziehungen zu erzählen, oder?“
„Sie meinen also, ich sollte nicht fragen.“
„Nach dem Vater?“ Sie lehnte sich zurück. „Ach da gibt es nicht viel zu erzählen. Eine … ein One-Night-Stand, sowas passiert. Darf ich auch was fragen?“
„Sicher.“
„Was ist mit Frau Knopfler?“
Jetzt lehnte auch er sich zurück und atmete tief durch. „Tja …“
„Das klingt nicht danach, als ob Sie sich getrennt hätten.“
„Ich sollte es, oder?“
„Ihre Entscheidung“, hörte sie sich sagen.
Er runzelte die Stirn.
„Nein im Ernst: Ihre Entscheidung. Ich käme klar damit. Solange sie nicht eines Tages vor meiner Tür steht und mir Prügel androht.“
Tomann lachte. „Na so schlimm ist sie nun auch nicht.“
„Ja, ich weiß.“
Er beugte sich vor. „Sie würden also …“
Der Wirt brachte ihm ein neues Glas Bier. Tomann dankte. Dann nahm er den Faden wieder auf: „Sie wären also auch mit einer … Affäre zufrieden?“
„Zufrieden? Nein. Aber man nimmt, was man kriegt.“ Carola hatte das Gefühl, einer Fremden zuzuhören.
Tomann grinste. Dann hob er prostend sein Bier und sagte: „Auf du! Nenn mich Peter.“
Carola hob ebenfalls ihr Glas. „Auch in der Firma?“ Das würde seine Chance erhöhen, dass die Knopfler sich von ihm trennte.
Er nickte mit großer Geste. „Auch in der Firma.“
Dann stießen sie an.

Carola wachte weit vor dem Morgengrauen auf. Peter Tomann schnarchte leise vor sich hin. Caro sah ihm ein Weilchen dabei zu. Alles hatte sich einfacher gefügt, als sie befürchtet hatte. Als er nach dem Essen den Stuhl wechselte, um neben ihr zu sitzen, hatte sie einen Moment lang Panik beschlichen. Seine Nähe, sein Duft, die Stimme – das alles hatte sie regelrecht überrollt, alles Denken ausgelöscht, jede Kontrolle ausgehebelt. Dann hatte er ihre Hand genommen und diese Berührung hatte sie wieder zurückgeholt. Sie hatten geplaudert, über belanglose Dinge, an die sie sich jetzt, da sie neben ihm lag, nicht mehr erinnerte. Nur dass es einer der wohligsten Abende war, die sie seit Langem erlebt hatte, wusste sie, wusste ihr Körper noch.
Tomann drehte sich schniefelnd zur Seite. Carola stand vorsichtig auf und tappte aus dem Schlafzimmer. Unterwegs sammelte sie ihre Sachen zusammen, zog sich an und dann verließ sie Tomanns Wohnung.

„Du warst früh schon weg“, sagte Tomann, als er am Mittag in Carolas Büro reinschaute.
„Ich konnte schlecht mit denselben Sachen wie gestern auf Arbeit gehen. Die Kollegen tuscheln sowieso schon.“
Tomann grinste. „Lass sie doch.“
„Auch, dass du wahrscheinlich …“, sie zeigte auf ihren Bauch.
Das schien ihn tatsächlich zu schockieren. Carola fand das albern. Eine Beziehung jetzt fand er völlig okay, eine vor zwei, drei Monaten wäre peinlich gewesen? Der Mann tickte schon sehr seltsam. Sie lächelte beruhigend. „Keine Panik, war ein Scherz.“
Er drohte ihr gespielt vorwurfsvoll mit dem Zeigefinger. Sein Gesicht verriet, dass ihn die Sorge, als Vater von Caros Kind zu gelten, nicht wirklich losließ. Zugleich hatte Carola den Eindruck, ihm läge die Frage nach dem Vater auf der Zunge. Sie hatte nicht vor, ihm diese Frage zu beantworten – weder jetzt noch irgendwann.
Tomann wechselte das Thema. „Hast du im Moment viel zu tun?“
„Nicht sonderlich.“
Er schloss die Tür hinter sich. „Woher kennst du Blackwood?“
Sie sah ihn fragend an. „Durch einen gemeinsamen Bekannten. Warum?“
„Er ist nicht so harmlos, wie er aussieht.“
Sie gab sich erstaunt. „Aber du machst Geschäfte mit ihm.“
„Eben. Dieser Bekannte – wer ist das?“
Sie setzte ein Grinsen auf. „Schon eifersüchtig?“
Er blieb ernst. „Der Wirt in der Kneipe gestern beschrieb mir diesen Bekannten; ich will sichergehen, dass ich den richtigen im Blick habe.“
„Der Wirt … Du spionierst mir nach?“ Sie tat empört.
Er sah sie einen Moment lang grübelnd an. Dann sagte er: „Du solltest dich vor Hans Bernbauer vorsehen.“
„Warum?“
„Vertrau mir einfach. Ich kenne ihn besser als du.“
Jetzt grübelte sie einen Moment lang und sagte danach: „Nein. Tust du nicht.“
Er lächelte nachsichtig. „Caro, glaub mir, er ist …“ Er unterbrach sich.
„Er ist was? Dein Kunde? Warum ist es in Ordnung, wenn du ihm Papiere verkaufst, aber nicht, wenn ich mich mit ihm treffe?“
Sie sah ihm an, dass er sich ertappt fühlte. „Woher weißt du …“
„Ich bin nicht blind. Und ich kenne Hans und Charlie besser, als du glaubst.“
„Woher?“ Die Frage kam ohne Zögern.
„Frag du nicht, woher ich sie kenne, und ich frag dich nicht, woher du die Papiere bekommst, die du ihnen verkaufst.“
Er musterte sie. „Wer bist du?“
„Falls du das je rauskriegst, werde ich dich töten.“
Er stutzte, dann lachte er.
Sie stand auf und sah ihn wortlos an.
Das Lachen verging ihm.
Als sie sicher war, dass er den Ernst ihrer Worte begriffen hatte, nahm sie ihren Blick von ihm und setzte sich wieder. Sie spürte ihren Puls rasen. Sich ihm zu verraten, war wahrscheinlich das Dümmste, was sie seit Langem getan hatte. Er würde nachforschen. Aber wahrscheinlich hätte er das früher oder später sowieso getan. Was konnte er finden? Dass sie eine Unsterbliche war, die ihre Gabe verloren hatte? Wenn er ohnehin von der Gabe wusste, war das unerheblich. Vielleicht ging ihm auf, dass er vor Jahren ihrer Mutter und ihrem Bruder begegnet war. Etwas, was bei einer normalen Untersterblichen schlichtweg unmöglich sein müsste. Er könnte natürlich annehmen, dass sie sich einfach eine perfekte Tarnung aufgebaut hatte. Wahrscheinlich würde er es annehmen. Hoffentlich würde er es.
Und was, wenn er nichts von der Gabe wusste? Erich hatte so etwas erwähnt …
„Du bist wirklich immer für eine Überraschung gut“, sagte Tomann. Es klang fast ein bisschen respektvoll.
Caro schwieg.
„Ich wusste, dass das eine große Sache ist, mir war nur nicht klar, wie groß.“
Sie hatte nicht die Absicht, aus dem Busch zu springen, auf den er da klopfte.
„Gehörst du zu ihnen?“
„Zu wem?“
„Dem Kreis um Pater Christoffer.“
„Nein.“
„Du weißt aber, von wem ich rede?“
„Nur dem Namen nach.“
„Und was weißt du über den Kreis?“
Sie runzelte demonstrativ die Stirn. „Erwartest du im Ernst, dass ich dir erkläre, für wen du arbeitest?“
Er grinste. „So nah, wie wir uns stehen …“ Als sie nicht antwortete, fragte er: „Oder ist das auch etwas, wofür du mich töten würdest?“
„Ich? Nein. Aber ich kenne die Gepflogenheiten des … dieses Kreises nicht.“
Er musterte sie.
Sie fühlte sich außerstande, den angeschlagenen Tonfall beizubehalten. „Hör zu“, bat sie, „du hast dich auf diesen Job eingelassen, lange bevor du aus mir unerfindlichen Gründen beschlossen hast, mich … also mit mir was anzufangen. Und zwar ohne, dass du wusstest, dass ich die beiden kenne. Belass es dabei! Ich habe keine Ahnung, wie dieser Kreis tickt und was dich in Gefahr bringen könnte. Ich habe mit ihm nichts zu tun und will es auch nicht.“ Sie bemerkte, dass sie die Hand auf ihren Leib gelegt hatte. „Meine Prioritäten sind ganz andere. Was immer du tust: Lass mich da raus, okay?“
Sein Blick wurde weich. Er nickte. „In Ordnung.“

Peter Tomann ließ Carola da raus. Für den Rest des Tages und den nächsten Vormittag glänzte er mit Abwesenheit. Die Kollegen sahen sie fragend an, aber auch Caro konnte nur raten. Sie vermutete, dass er etwas für den Orden erledigte, aber wenn sie ehrlich zu sich war, konnte es auch genausogut sein, dass er irgendeinen guten Bekannten getroffen und mit ihm bis spät in die Nacht einen drauf gemacht hatte. Sowas lief bei ihm unter Kontaktpflege.
Als Tomann am Mittag zur ihr ins Büro kam, wirkte er wie immer: ein wenig verknittert, als hätte er zu wenig Schlaf gehabt, aber voller Elan und vor Charme sprühend. „Guten Morgen!“, sagte er gut gelaunt.
Sie runzelte die Stirn. „Halb zwölf? Guten Tag wohl eher.“ Sie merkte, dass das vorwurfsvoll geklungen hatte, und ärgerte sich darüber.
Tomann reagierte nicht auf den Tonfall. „Hast du heute Nachmittag zu tun?“
„Wenig. Warum? Hast du einen Nachfolger gefunden, den ich einweisen soll?“
Er winkte ab. „Die Anzeige kommt morgen erst raus. Nein, ich habe dummerweise eine Terminüberschneidung, es wäre schön, wenn du mich bei der Catering-Firma vertreten könntest.“
„Catering-Firma?“
„Ja.“ Er schloss die Tür hinter sich und zog einen Zettel aus der Hosentasche. Er reichte ihn ihr. „Das sind die Eckdaten. Termin und Ort habe ich mit dem Caterer schon abgestimmt, es geht eigentlich nur noch um das Essen selbst.“
Sie zog die Brauen zusammen und studierte die spärlichen Notizen. „Zwölf Leute, mehr steht nicht fest? Was ist das für ein Anlass? Gibt es Buffet, Fingerfood oder was?“
Er beugte sich etwas zu ihr und senkte die Stimme. „Es ist ein Treffen des Ratskreises.“
Sie sah ihn fragend an.
„Der Kreis um Pater Christoffer. Jaja, ich weiß“, kam er ihrem Einwand zuvor, „ich sollte dich da rauslassen. Aber ich kann da wirklich nicht hin, ich muss einen der Gäste vom Flughafen abholen. Und es geht doch nur um die Auswahl von Essen.“ Er sah sie mit einem filmreifen Dackelblick an; fehlte nur noch, dass er mit den Augen klimperte.
Caro musste sich ein Grinsen verkneifen. „Irgendwas Bestimmtes? Sind Vegetarier oder so dabei?“
„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass die aus aller Welt zusammenkommen. Ein finanzielles Limit gibt es übrigens nicht, aber das musst du dem Caterer ja nicht auf die Nase binden.“
„Wissen die über die Räumlichkeiten Bescheid? Also wie groß das Buffet sein kann und so?“
„Ja, Termin, Dauer, Lokal – alles schon geklärt.“ Er küsste sie flüchtig und verschwand wieder. Schon im Korridor rief er ihr noch ein „Danke!“ zu.
Sie atmete tief durch. Dann suchte sie im Internet nach der Adresse des Caterers. Es gab zum Glück Parkplätze in der Nähe, sie konnte also mit dem Auto fahren.
Eine halbe Stunde später war Carola vorm Büro der Catering-Firma, zwanzig Minuten zu früh. Sie blieb im Auto sitzen. ,Ratskreis‘, dachte sie. Wahrscheinlich waren das die Lenker des Ordens. Alles Unsterbliche also. Die dürften in Sachen Essen schon einiges erlebt haben, da konnte man beim Catering wohl nicht viel falsch machen. Es wäre sicher charmant, wenn man für jeden etwas aus seiner Kindheit und Jugend auftischen würde. Dazu müsste man natürlich wissen, wer da kommt und aus welcher Zeit und Weltgegend er stammte. Aber selbst wenn sie jeden einzelnen vorab treffen könnte, würde sie das nicht erfahren – der Codex verbot es, danach zu fragen. Er verbot es generell, über vergangene Leben zu sprechen. Für Caro erwies sich das als günstig, denn wenn Erich und Charlie sich über sie unterhalten würden und sie dabei feststellten, dass weder der eine noch der andere die Gabe in ihr gespürt hatte … Caro wollte sich das gar nicht vorstellen. Selbst wenn sie im Training gewesen wäre: In den sicher dicht gepackten Erinnerungen eines Unsterblichen einzelne Informationen zu blockieren, würde kein Zuckerschlecken werden. Weder für den Unsterblichen noch für sie.
Jemand klopfte an die Seitenscheibe ihres Autos. Caro schreckte auf. Es klopfte erneut. Es war Erich. Sie öffnete ihm die Beifahrertür. „Was tust du hier?“
„Das wollte ich auch grade fragen“, erwiderte Erich und setzte sich neben sie.
„Peter bat mich, das Catering zu besprechen.“
„Dich? Er hat mich doch gestern Nacht angerufen.“
„Hat er wahrscheinlich vergessen.“
„Ja.“ Er sah auf seine Uhr. „Dafür, dass du nichts mit dem Orden zu tun haben willst“, sagte er dabei, „bist du recht nah dran.“ Erst jetzt sah er sie an.
„Weil ich für euch das Essen bestelle?“ Sie lachte leise auf.
Er blieb ernst. „Das meine ich nicht.“
Sie drehte sich zu ihm. „Überwachst du mich?“
„Nein. Nicht dich.“
„Warum?“
„Warum ich dich nicht überwache?“
„Hör auf mit den Spitzfindigkeiten! Was ist dein Problem mit Peter?“
„Was ist deines?“
„Meines?“ Sie verstand wirklich nicht, was er meinte.
„Komm schon! Du hast doch nicht ohne Grund plötzlich in sein Bett gefunden.“
Carola antwortete nicht. Sie setzte sich wieder gerade hin und sah zum Büro des Caterers.
„Verstehe. Du willst nicht darüber sprechen.“
„Nein.“ Sie drehte sich erneut zu ihm. „Nein, du verstehst nicht. Ich liebe ihn. Oder begehre ihn zumindest“, korrigierte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung. „Er ist auf mich zugekommen und ich brachte es nicht fertig, ihn abzuweisen. Aber selbst wenn ich es gekonnt hätte, ich hätte es nicht gewollt. Er ist …“ Sie suchte nach einem Wort, das liebenswerter als nur charmant klang.
Erichs Gesicht spiegelte überdeutlich seine Skepsis.
„Ich weiß, wir passen nicht zusammen …“
„Oh nein! Garantiert nicht!“, betonte er.
„… aber das heißt nicht, dass ich nur aus irgendwelchen geheimniskrämerischen Gründen mit ihm zusammensein könnte. Und überhaupt!“ Sie tat empört. „Wie willst du denn wissen, ob wir zusammenpassen?“
„Ich kenne dich“, erinnerte er. „Und ich habe ihn ein wenig kennengelernt. Er wirkt harmlos, ist es aber nicht. Auf eine beunruhigende Weise.“
Sie runzelte die Stirn.
„Doch“, antwortete er auf die unausgesprochene Frage. „Du bist auch nicht so harmlos, wie du dich gibst.“
Sie grinste schief. „Und bei mir beruhigt dich das?“
Er nickte. „Dir kann ich vertrauen.“
„Ihm nicht?“
„Vielleicht. Aber ich tu es nicht.“
„Erich?“
„Ja?“
„Du sprichst in Rätseln.“
Er atmete tief durch und sagte: „Ich weiß.“
Sie konnte hören, dass er nicht genauer werden wollte, und versuchte, das Thema zu ändern. „Und deshalb beschattest du ihn. Also nicht wegen der Rätsel, sondern weil du beunruhigt bist.“
Er nickte.
„Was genau fürchtest du?“
„Das eben weiß ich nicht. Auf den ersten Blick scheint es, dass Tomann aus alter Verbundenheit Pater Christoffer ab und an einen Gefallen tut. Ich bezweifle jedoch, dass er das in Christoffers Sinne tut. Dennoch hält dieser an ihm fest, holt ihn näher und näher in den Umkreis des Ordens.“
„Im Gegensatz zu dir vertraut er ihm offenbar.“
„Nicht genug, um ihn in Gänze einzuweihen. Mir ist nicht klar, was der Pater sich von ihm erhofft.“
„Frag ihn doch!“
„Hab ich. Er hat nur gelächelt.“
„Gelächelt“, echote sie.
„Ja. Auf diese Du-wirst-schon-sehen-Weise, die die anderen so gern als Hinweis dafür nehmen, dass er einer göttlichen Eingebung folgt.“ Er atmete tief durch. „Er selbst glaubt es wohl auch. Normalerweise lag er immer richtig, aber diesmal … Das einzig Gute bis jetzt bis du.“
Sie antwortete nicht. Der Gedanke, dass Christoffer tatsächlich einer göttlichen Eingebung folgen könnte, gruselte sie. Einem Reflex folgend legte sie die Hand auf ihren Leib.
Beim Büro des Cateres ging die Tür auf und eine geradezu dürre junge Frau stellte ein großes Schild auf den Gehweg. Die Worte „Weisse Wiesnʼ Würstle“ waren mit roter Kreide untereinander geschrieben worden, die Ws waren betont. Caro fühlte erneut ein Gruseln, diesmal weckte es allerdings das Bedürfnis, mit einem nassen Schwamm die Tafel gründlich zu säubern. Sie öffnete die Autotür und stieg aus. Erich folgte ihr. Gemeinsam gingen sie ins Büro, um für zwölf Unsterbliche ein Buffet zusammenzustellen.

Am Nachmittag rief Tomann an und entschuldigte sich. Er müsse sich noch um ein paar Gäste kümmern und könne am Abend nicht kommen. Caro erinnerte sich zwar nicht, dass sie einen gemeinsamen Abend verabredet hatten, aber sie tat so, als sei sie ein wenig enttäuscht. Immerhin kannte sie ihn seit nahezu zehn Jahren, sich zu verabreden, obwohl er eigentlich schon einen anderen Termin hatte, war nicht ungewöhnlich für ihn. Ihm frühzeitig ein schlechtes Gewissen deswegen zu machen, erschien ihr eine gute Idee. Nicht, dass sie glaubte, es würde tatsächlich funktionieren.
Als Caro am Abend vor dem Fernseher saß und bemerkte, dass sie nicht wusste, worüber die Kriminalisten da eigentliche redeten, wurde ihr klar, dass sie tatsächlich enttäuscht war. Er hätte es für wichtiger halten sollen, Zeit mir ihr zu verbringen. Selbst wenn es nur zum Schein gewesen wäre. War er sich ihrer bereits so sicher? Natürlich war er das. Und, so musste sie zugeben, durchaus zu Recht. Ihr gefiel der Gedanke nicht. Um ihn abzuschütteln, beschloss sie, ein wenig spazieren zu gehen.
Sie fand sich in der Kneipe in der Innenstadt wieder. Sie sah Erich sofort und ging zu ihm. Als sie sich setzte, war auch schon der Wirt mit dem Ginger Ale da. Erich bestellte einen Rotwein.
Caro lächelte.
„Was?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ach nichts. Ich habe mich nur gerade an unsere erste Begegnung erinnert.“
Jetzt lächelte er auch.
Caro fragte sich, wie ernst Erich den Codex nahm. Ob sie mit ihm über die gemeinsam erlebten Jahre reden konnte? Es hätte ihr im Moment gut getan. So schwer die Zeit auch gewesen war, das unbedingte Vertrauen, das sie zueinander hatten – haben mussten – war etwas, was sie vermisste. Einen Moment lang wünschte sie sich Vic her, er war der erste Mensch gewesen, dem sie die Sache mit den Zeitlöchern anvertraut hatte. Sie wechselte in Gedanken das Thema und bat Erich: „Erzähl mir was über deine Familie!“
Erich lehnte sich zurück und sah dem Wirt zu, der ihm den bestellten Wein brachte. Dann, als der Wirt außer Hörweite war, nahm er einen langen Schluck aus dem Glas.
„So kompliziert?“
„Nein.“ Er beugte sich etwas vor und begann, das Glas in der Hand zu drehen. „Ich überlege nur, was ich erzählen könnte.“
„Du tust das wohl nicht oft?“
„Nein. Wirklich nicht.“ Er machte eine kleine Pause. „Also gut. Ich habe einen dreijährigen Sohn namens Janik. Seine Mutter heißt Ines. Aber das weißt du ja schon.“
„Ja, du erwähntest es. Wie ist sie so?“
„Ines? Hochbegabt.“
„Tatsächlich?“
„Ja. Sie hat mit zwölf ihr Abitur gemacht und dann studiert. Biologie zuerst, dann alles mögliche.“
„Wow!“
Er lächelte. „Ja. Sie ist unglaublich. Sie ist die jüngste Professorin Deutschlands. Mindestens.“
„Was unterrichtet sie?“
„Terraforming.“
„Terra…?“
„Ja. Da geht es darum, wie man …“
„Ich weiß, was Terraforming ist“, unterbrach sie ihn. „Ich meine, ich … Ich wusste nicht, dass es in Deutschland als Fach gelehrt wird.“
Er nickte. „Die Uni hat diesen Lehrstuhl extra für Ines eingerichtet. “
In Caro keimte ein Gedanke. „Du sagtest, ihr seid nicht verheiratet.“
„Nein. Warum?“
„Sie heißt also nicht Bernbauer?“
„Nein. Johnson.“
„… Johnson.“
Er nickte.
„Wow.“ Ines Johnson würde in der Zukunft als Mutter des Terraforming gelten. Das stimmte zwar so nicht, aber ihre Arbeiten waren grundlegend für das Fach. ,Würden es sein‘, korrigierte sich Caro.
„Wow?“ Er hob die Brauen. „Johnson ist nicht gerade ein seltener Name.“
„In Deutschland schon.“
„Ihre Mutter war Amerikanerin“, erklärte er.
„Okay. Dort ist es ein häufiger Name. – Wieso war?“
„Sie starb vor Ines‘ Geburt.“
Jetzt hob sie die Brauen. „Vor?“
„Sie wurde erschossen, als sie mit Ines hochschwanger war.“
Caro fühlte, wie sie innerlich erstarrte.
„Ein unglaublicher Zufall wollte es, dass ein Rettungswagen buchstäblich um die Ecke stand. Die Sanitäter hörten den Schuss und kamen sofort. Für Johanna kam die Hilfe zu spät, aber immerhin konnte man das Baby retten.“
Sie versuchte zu lächeln.
Er schien nicht zu bemerken, dass es in ihr brodelte. Stattdessen versank er in eigenen Gedanken.
Carola rang den Aufruhr in sich nieder. „Redet ihr miteinander?“, fragte sie.
Er sah sie irritiert an.
„Ich meine … über … nun ja …“ Sie machte eine unbestimmte Geste.
Er verstand nicht. Oder er tat nur so. „Ihre Mutter?“
„Die Gabe. Weiß sie davon?“
Er zögerte. Dann schüttelte er den Kopf.
Caro wusste, dass er log. Nach so langer Zeit kannte sie ihn noch immer gut genug dafür. Aber sie spielte mit. „Vielleicht solltest du es ihr erzählen.“
„Warum?“ Die Frage war zu schnell gekommen. „Es würde den Codex verletzen.“
„Weil man manchmal jemanden braucht, mit dem man offen reden kann.“
Sein Blick sprach Bände. Bände darüber, dass sie recht hatte, und darüber, dass es so einfach nicht war. Nur, dass er sich irrte. Es war einfach. Nur noch ein paar Jahrzehnte …
Erich trank sein Glas aus und winkte dem Wirt.
„Vertraust du ihr?“
„Ja.“
„Auch, dass sie es geheim halten würde?“
„Darum geht es doch nicht, Anna. Nicht nur. Ich weiß nicht, wie alt du bist, aber ich gehe jede Wette ein, dass es Dinge gibt, die du am liebsten nicht mal selbst von dir wüsstest.“
Sie war versucht, nein zu sagen, schwieg aber. So krass hätte sie es nicht formuliert, aber sie wusste, worauf Erich hinaus wollte. Und es ging dabei nicht nur um Dinge, die man getan hatte, sondern auch um welche, die man erlitten hatte. Schlimme Dinge. „Trotzdem“, sagte sie dennoch. „Es geht nicht darum, es jemandem zu erzählen, sondern jemanden zu haben, von dem man sich vorstellen könnte, es zu erzählen. Bei dem man nicht bei jedem Satz aufpassen muss, sich nicht zu verplappern.“
Er lächelte matt. Sehr matt. Gerade genug, um sehen zu lassen, dass er sie verstanden hatte. Und dass er ihr nicht zustimmte.
Caro versuchte, das Thema zu wechseln. „Warum lässt …“
Der Wirt trat an den Tisch und stellte Erich ein frisches Glas Rotwein hin. „Ein Snack?“, fragte er dabei, ohne sich konkret an einen von ihnen zu wenden. Dann sagte er in Carolas Richtung: „Meine Frau hat ihre berühmten Dips gemacht. Brotsticks dazu oder Gemüse?“
„Eigentlich keine schlechte Idee. Ich würde Gemüsesticks nehmen.“
„Auch Knoblauchsoße?“
„Warum nicht, es ist ja Wochenende.“
„Und der Herr?“, wandte er sich an Erich.
„Für mich auch. Aber Brot.“
Der Wirt nickte bestätigend und ging.
„Warum lässt der Orden eigentlich Peter die Sache mit den Papieren regeln?“, nahm Carola den Faden wieder auf.
„Warum nicht?“
„Naja … Ihr habt doch schon lange vor ihm das Problem mit den …“, sie sah sich kurz um, beugte sich etwas vor und senkte die Stimme, „… Identitäten gelöst. Ich denke, jeder von euch hat passende Kontakte.“
„… die recht merkwürdig gucken, wenn man nach dreißig oder vierzig Jahren erneut auftaucht, ohne sich geändert zu haben.“
Sie grinste. „Verstehe.“
Erich ging nicht darauf ein.
Der Wirt kam und stellte ein Tablett auf den Tisch, das rappelvoll von Schälchen und anderen Gefäßen war. Offenbar hatte er den „Snack“ bereits vorbereitet gehabt.
Als er verschwunden war, lehnte sich Carola zurück. „Weißt du, wohin Charlie gehen wird?“
„Blackwood? Wohin sollte er gehen?“
„Es hat neue Papiere gekauft.“
„Für einen Neuling in Los Angeles.“
„Oh. Aha. Er … betreut ihn wohl.“
„Sozusagen.“ Erich nahm eine der Brotstangen und tunkte sie in eine giftgrüne Soße. „Wir versuchen, Neulingen den Übergang so glatt wie möglich zu gestalten. Schon damit sie sich nicht verraten.“ Er biss ab. Offenbar war die Soße sehr scharf, denn ihm schossen Tränen in die Augen und er nahm hastig einen großen Schluck von seinem Wein. Als er wieder sprechen konnte, sagte er: „Meerrettich. Mindestens.“
„Der Farbe nach wohl eher Wasabi.“
„Oder das.“ Für den nächsten Bissen wählte er die Salsa. „Diesmal wird es einfacher. Der Neue war Polizist und hat viel undercover gearbeitet. Er ist Rollenwechsel also gewöhnt.“
Carola fragte sich, ob die den Mann kannte. Wohl kaum, entschied sie. Erstens war LA groß und zweitens war es lange her. Dann fragte sie sich, warum Erich ihr das erzählte. Bei allem Vertrauen: Sie gehörte nicht dazu. Nicht mehr aus seiner Sicht, aber das erklärte nicht, warum er sie in solche Interna einweihte. War es ein erneuter Versuch, sie in den Orden zu holen? Caro nahm einen Möhrenstick und dippte ihn in eine weiße Soße, die von Kräutern durchsetzt war. Sie kostete. „Lecker. Echt.“ Sie knabberte weiter.
„Christoffer hofft, mit seiner Hilfe die Queen zu finden.“
Carola verschluckte sich und hustete. Als wieder Luft hatte, fragte sie: „Die britische Königin?“
Er lächelte matt. „Die Schneekönigin von LA.“
Etwas zu schnell fragte sie: „Wozu?“
Er hatte es bemerkt. Er musterte Caro.
Sie schwieg. Anscheinend begriff Erich, dass sie die Queen gewesen war. Sie sah keinen Grund, ihm zu widersprechen. Oder ihm offen zuzustimmen. Sag nichts, frag nichts – der Codex half ihr, nicht daran erinnert zu werden, was sie damals getan hatte. Und was sie deswegen verloren hatte.
Erich lehnte sich zurück, streckte sich ein wenig und sah sich um. Warum immer er auf die Queen zu sprechen gekommen war, es schien plötzlich nichtig zu sein. Caro war es recht. Sie nahm einen Kohlrabistick und testete sich durch die Dipps. Auch den mit Wasabi. Und obwohl sie vorgewarnt war, schossen auch ihr die Tränen in die Augen. Erich grinste.


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