(Flucht in ein neues Leben)
Irgendwo auf der Welt gab es einen Wald, der so düster und gefährlich war, dass er von den Menschen gemieden wurde. Auch die meisten Tiere trauten sich nicht, einen Fuß in den Wald zu setzen. Nur wenn ein Tier von seinem Menschen vertrieben wurde und es keinen anderen Ausweg sah, dann wagte es den langen und gefährlichen Weg durch den Wald. Denn unter Tieren ging das Gerücht um, dass es inmitten des Waldes einen Ort gab, auf dem solch ein Tier Zuflucht finden konnte. Keiner wusste wie viele Tiere es jemals gewagt hatten, sich auf diesen beschwerlichen Weg zu begeben und wie viele davon wirklich an diesem Ort angekommen waren. Aber ein Tier stand gerade am Rande dieses Waldes und überlegte, sich auf diese Gefahr einzulassen.
Feuriger Hengst trat unentschlossen von einem Huf auf den anderen. Vor ihm lag gruselige Dunkelheit zwischen den dichten Bäumen des Waldes. Und er spürte eisige Kälte aus dem Inneren durch sein rabenschwarzes Fell ziehen, dass ihm die Haare abstanden und es ihn fröstelte.
Wäre Feuriger Hengst klaren Verstandes gewesen, dann würde er unter keinen Umständen den Wald betreten. Aber in seinem Kopf ging alles drunter und drüber, seit ihn sein Mensch verstoßen hatte. Noch vor gar nicht langer Zeit hatte Feuriger Hengst seinen Menschen stolz gemacht. Zahlreiche Preise für seine Leistungen im Pferdesport hatte er gewonnen. Denn er war ein talentiertes Pferd, mit viel Willem zum Sieg gewesen. Dann jedoch war seine Schreckhaftigkeit zu einem so großen Problem geworden, dass sein Mensch ihn nicht mehr haben wollte. Oft genug hatte Feuriger Hengst im Schreck einen Reiter abgeworfen oder ein nahestehendes Auto eingetreten. Und irgendwann war der Schaden, den er anrichtete, um einiges größer als der Wert der Preise, die er gewann.
So hatte man ihn mit Stöcken vertrieben. Denn auch kein anderer Mensch hatte sich auf die Gefahr, die mit seiner Schreckhaftigkeit einherging, abfinden wollen.
Feuriger Hengst wusste, dass er in der Welt der Menschen keinen Platz mehr finden würde. So betrat er schlussendlich den Wald.
Anfänglich war es noch hell genug, dass er einen Weg erkennen konnte, dem er so schnell wie möglich folgte. Aber umso tiefer er in den Wald hinein kam, umso weniger Tageslicht drang durch die dichter werdenden Bäume. Bald war es so düster, dass Feuriger Hengst Mühe hatte, nicht vom Weg abzukommen. Und um ihm noch halbwegs folgen zu können, musste er langsamer werden.
Aber umso langsamer er wurde, umso stärker nahm er die Geräusche des Waldes wahr. Über ihm raschelte bedrohlich das Blätterwerk der Bäume und von weit weg hörte er das Klopfen eines Spechtes und das Flattern einzelner Vögel, das im Dunkel des Waldes furchteinflößend wirkte.
Plötzlich blieb Feuriger Hengst stehen. Da war ein wirklich merkwürdiges Geräusch gewesen. In der Ferne. Ganz anders, als Blätterrauschen oder Flügelschläge. War es ein Heulen gewesen? Und wieder! Feuriger Hengst fuhr verschreckt zusammen. Diesmal konnte er genau sagen, dass es wie ein hungriges Heulen geklungen hatte. Und diesmal war es schon viel näher als zuvor. Kam es in seine Richtung?
Feuriger Hengst hatte angst. So sehr, dass er wünschte, niemals in den Wald gegangen zu sein. Sein Herz pochte wild und seine Nüstern pumpten wie eine Dampfmaschine. Hastig bewegten sich seine Ohren in alle Richtungen.
Da waren auf einmal noch viel mehr Geräusche. Manche ganz fern und manche doch so nah. Rascheln, Knacken im Unterholz und noch einmal, Heulen! Jetzt kam es aus verschiedenen Richtungen und es klang hungrig, gierig und suchend.
Feuriger Hengst zitterten die Flanken und Angstschweiß rann über sein Fell. War er vielleicht bemerkt und umzingelt worden? Langsam bewegte er sich rückwärts. Vielleicht gab es noch eine Chance, wieder unauffällig aus dem Wald heraus schleichen zu können.
Behutsam setzte er einen Huf nach dem anderen. Aber dann, was war das? Etwas Fremdes unter einem Huf. Es fühlte sich erst weich an wie dickes Fell und dann hart wie Knochen. Er wagte nicht, den Huf abzusetzen. Er verharrte und mit aufgerissenen Augen blickte Feuriger Hengst um sich herum. Hatte sich da etwas bewegt? Eine Gestalt, die hinter den Bäumen versteckt auf den Zeitpunkt wartete, hervorzuschnellen und anzugreifen? Plötzlich wieder Heulen und dann passierte es.
Feuriger Hengst fuhr bei dem Heulen ängstlich zusammen und trat ausversehen auf das merkwürdige Ding. Es machte laut ‚Knack‘ und was auch immer es war, es war unter seinem Huf zerborsten. „Wiieh!“, kreischte Feuriger Hengst darauf verschreckt und sprang nach vorne los, um wie von Sinnen im Jagdgalopp von dem unheimlichen Ding und allem Heulen um ihn herum davonzulaufen.
Er rannte durch den Wald ohne noch auf einen Weg zu achten. Äste peitschten ihn und oftmals strauchelte er über unwegsamen Boden. Doch nichts konnte ihn jetzt noch aufhalten, seine wilde Jagd durch den Wald zu beenden. Nichts, außer die Aussicht auf Rettung.
Lange Zeit war Feuriger Hengst so durch den Wald gerannt. Das Heulen war immer leiser geworden, bis es vollständig verschwunden war. Aber darauf hatte er sich nicht verlassen wollen. Seine Beine schmerzten von der Anstrengung und die Erschöpfung ließ ihn immer mehr straucheln. Aber als er die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, wurde es heller im Wald. Bald konnte er wieder den Weg erkennen und auf einmal sogar einen Ausgang. Und erst als er den erreicht hatte, blieb er schwer atmend stehen.
Und da war er. Der Ort, der ihn veranlasst hatte, den Wald zu betreten und von dem er schon geglaubt hatte, ihn niemals mehr erreichen zu können.
Vor Feuriger Hengst erstreckte sich eine riesige, von der Sonne hell und warm erstrahlte Fläche, die von allen Seiten von dem Wald umringt war. In der Mitte war ein Hof mit zwei großen Gebäuden und auf der einen Seite konnte er einen kleinen See erkennen. Mehrere Weiden waren überall voneinander mit Zäunen abgetrennt und ringsherum einfach nur saftiges Gras und von Blumen prächtig erblühte Wiesen.
Feuriger Hengst war am ganzen Körper zerkratzt von seiner wilden Flucht durch den Wald. In seinem Kopf brummte es mächtig und seine Flanken zitterten noch von der Anstrengung. Aber all das spürte er kaum unter dem Glücksgefühl, es geschafft zu haben. Langsam ging er auf den Hof zu.
Er sah aus der Ferne eine Kuh auf einer Weide grasen und Schweine in einem Schlammloch liegen. Auch an dem See raschelte es und einige Federviecher waren zu erkennen. Auf dem Hofplatzt selbst lag ein Hund, der jetzt aufsprang und schwanzwedelnd Feuriger Hengst entgegen lief.
„Willkommen!“, bellte er Feuriger Hengst zu. „Ich bin Kläffer, der Hofvorsteher.“
„Hallo Kläffer“, wieherte Feuriger Hengst erleichtert und sprudelte überglücklich los: „Mein Name ist Feuriger Hengst. Ich bin froh, endlich hier zu sein. Der Wald war so schrecklich und ich bin todmüde. Wenn ich etwas Wasser haben dürfte und einen Platz zum Ausruhen…“
„Ja, du siehst wirklich erschöpft aus“, unterbrach Kläffer. „Dann folge mir schnell, damit wir für dich einen Schlafplatz finden.“
Feuriger Hengst folgte ohne Widerworte, denn erst jetzt merkte er, wie sehr müde und entkräftet er war.
Sie gingen zuerst zu dem Schlammloch, denn das lag am nächsten. Dort suhlten sich zwei große runde Schweine genüsslich im Dreck und mehrere Ferkel sprangen fröhlich umher.
„Das sind Dreckiges Schwein, seine Frau Faule Sau und ihre Kinder Ferkel Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, Sechs.“ – Kläffer schnappte nach Luft. – „Und Sieben.“
„Willkommen Neuer“, gurgelte Dreckiges Schwein aus einer Schlammpfütze, während Faule Sau zur Begrüßung nur träge mit dem Kopf nickte. „Das ist unsere Schlammgrube“, grunzte es weiter. „Aber wenn du magst, darfst du dir hier gerne eine Ecke zum Schlafen suchen“, ergänzte es freundlich und sabbelte einladend im Dreck.
„Und wer soll das wieder aufräumen?“, fauchte plötzlich Faule Sau, so dass Dreckiges Schwein erschrak und sich tiefer in den Schlamm buddelte, wo es jetzt lieber die Schnauze still hielt.
„Äh, schon gut. Ich möchte keine Umstände bereiten. Ich werde auch woanders einen Schlafplatz finden“, stammelte Feuriger Hengst höflich und prüfte sein Fell, ob es Dreck abbekommen hatte.
„Vielleicht gefällt dir der See besser. Da kannst du auch deinen Durst löschen, denn er ist unsere Wasserquelle“, erklärte Kläffer, während sie weiter gingen.
Der See war nicht weit von dem Schlammloch der Schweine entfernt und schnell hatten sie ihn erreicht. Er war reichlich mit Schilf durchwachsen und sein Ufer von allerlei Pflanzen durchwuchert. Das Wasser selbst war leicht grünlich.
„Das soll ich trinken?“, fragte Feuriger Hengst angewidert. „Da schwimmen ja Fische drin. Das ist bestimmt nicht hygienisch.“
„Nun Feuriger Hengst, wenn du nicht verdursten willst, solltest du dich aber an das Wasser gewöhnen!“, kläffte Kläffer streng.
Widerwillig neigte Feuriger Hengst den Kopf über den See und schnüffelte mit aufgeblähten Nüstern. Es roch nicht unangenehm und so wagte er einen Schluck. Das Wasser war nicht so lecker wie das, was er früher bekommen hatte, aber sein Durst war so groß, dass er in langen Zügen eine ordentliche Portion trank.
So bekam er nicht mit, wie sich durch die Grasbüchel zwei Federviecher näherten. Aber als eines von ihnen mit dem Flügel an sein Bein klopfte und „Hallo!“ gackerte, erschrak Feuriger Hengst, sprang zur Seite, rutschte dabei am Ufer aus und landete am Ende im See.
Pitschnass kam er mit letzter Kraft heraus getrottet.
„Hey, wenn du hier baden willst, musst du uns erst einmal fragen“, schimpfte das Huhn künstlich streng, welches ihm an das Bein geklopft hatte und lachte.
„Schnaag, genau“, schnatterte die Ente belustigt, die sich nun wichtig neben dem Huhn aufstellte.
„Haltet die Schnäbel!“, befahl Kläffer dem Federvieh und zu Feuriger Hengst sagte er: „Wenn du im See baden oder hier schlafen willst, kannst du das gerne tun. Du brauchst nicht auf das Gerede von Schnatternde Ente und Gackerndes Huhn achten.“
„Wer wird denn gleich so streng sein“, sagte das Huhn und schwang einen Flügel um Kläffer. „Aber sag mal, haben Dreckiges Schwein und Faule Sau nicht gerade wieder gestritten?“, fragte es neugierig.
„Ja, erzähl mal!“, wurde auch Schnatternde Ente interessiert.
„Das geht euch gar nichts an!“, kläffte Kläffer böse, dass Gackerndes Huhn den Flügel schnell wieder wegnahm.
„Willst du jetzt hier bleiben?“, drängelte Kläffer, um von dem Federvieh wegzukommen.
„Lieber nicht. Kann ich nicht im Stall schlafen?“, fragte Feuriger Hengst erschöpft.
„Wie du willst, aber du solltest dich langsam entscheiden“, befahl Kläffer und lief ohne ein weiteres Wort weiter. Feuriger Hengst guckte noch kurz verunsichert auf das Federvieh, welches ihn misstrauisch anstarrte, lief dann aber schnell Kläffer hinterher.
Sie näherten sich dem Stall und Feuriger Hengst begann zu zweifeln, ob er dort einen angemessenen Schlafplatz finden würde. Der Stall sah wackelig und dreckig aus. Spinnweben hingen an jeder freien Fläche und etwas dunkel war er auch. Insgesamt wirkte der Stall einfach nicht so komfortabel wie die Ställe, die er einmal bewohnt hatte. Aber Feuriger Hengst wusste, dass er in seiner Lage nicht mehr wählerisch sein durfte und eigentlich würde er einfach nur froh sein, wenn er sich endlich ausruhen konnte.
„Hier wird es dir aber gefallen“, sagte Kläffer. „Denn hier wohnt auch Störrischer Esel. Ihr werdet euch bestimmt gut vertragen, schließlich seid ihr irgendwie verwandt.“
„Ein Esel?“, fragte Feuriger Hengst entsetzt. „Preisgekrönte Pferde haben nichts mit Esel zu tun!“ Schon immer war unter den Pferden, die er gekannt hatte, abgelehnt worden, sich mit Eseln abzugeben. Esel als entfernte Verwandte würden den guten Ruf der viel edleren Pferde kaputt machen, hatte es immer geheißen.
„Iaaah!“, protestierte es auf einmal aus dem Stall und ein struppiger kleiner Esel mit langen Ohren guckte über die Stalltüre. „Ich will auch mit niemanden etwas zu tun haben. Mit dir schon gar nicht. Willst du nicht, will ich auch nicht. Iaaah!“
„Kein Grund laut zu werden“, sagte Feuriger Hengst fassungslos.
„Kein Grund laut zu werden? Jetzt erst recht! Iaaaah!“, grölte Störrischer Esel noch lauter als zuvor.
Feuriger Hengst wollte gerade zum Gegenschlag ausholen, da mischte sich Kläffer ein.
„Ruhe, alle beide!“, kläffte er ärgerlich. „Ob es euch passt oder nicht, Feuriger Hengst wird ab sofort im Stall wohnen. Ich habe keine Lust mehr noch länger einen Schlafplatz für ihn zu suchen und wenn ihr euch nichts zu sagen habt, dann haltet eben den Mund!“
Kläffers Ansprache hatte Wirkung gezeigt und Störrischer Esel verzog sich beleidigt zurück ins Innere seiner Box, während Feuriger Hengst die zweite Box daneben bezog und sich erschöpft auf dem frischen Stroh nieder ließ.
„Morgen kannst du dich überall umsehen und die anderen Tiere kennenlernen. Ich wecke zum Morgenappell!“, sagte Kläffer zum Abschied und verschwand.
Feuriger Hengst war etwas traurig, dass er wohl nie wieder in dem Luxus leben würde, den er all die Jahre gekannt hatte und dass er jetzt sogar neben einem Esel wohnen musste. Aber fürs erste war er nun so müde, dass er einfach nur noch schlafen wollte.
„Glaub bloß nicht, dass wir jemals Freunde werden können“, sagte Störrischer Esel als er in seine Nachbarbox guckte. Aber Feuriger Hengst war schon eingeschlafen und hörte ihn gar nicht mehr.