Der lange Abschied von uns selbst, oder wie wir wurden, was wir sind - Teil 22

Klappentext mit Inhaltsverzeichnis
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4.23 Knochenfeuer 30.07.2019

Der Abmarsch fand gegen 03:15 Uhr statt, der LKW und vorweg der Evalia. Wir schlichen über die Seitenstraßen, umfuhren liegengebliebene Fahrzeuge, wichen Wandler-Wandergruppen aus. Fünfzehn quälend langen Kilometer später, mehr oder weniger gerade nach Westen, entschied Michaela, dass die Distanz zur Homezone ausreicht. Wir stellten den LKW auf einem Wanderparkplatz ab, in sicherer Entfernung zu Bäumen und Büschen.
Es hat zwar viel geregnet in den letzten Wochen, aber wir wollten das Risiko minimieren. Bislang hatte noch keiner von uns jemals zuvor einen LKW abgefackelt, von daher gestaltete sich die Folgenabschätzung schwierig. Motor- und Getriebeöl ließen wir ab, soweit möglich. Den noch verbliebenen Diesel saugten wir ebenfalls aus dem Tank. Wir hingen einen 5-Liter Glasballon, den Tom in einem der Keller gefunden hatten, an die Decke des Frachtabteils, gehalten von einem Seil, das wir nach draußen führten, knapp 10 Meter lang.
Den Ballon füllte Heike mit drei Litern Benzin. Auf und zwischen den Leichen lag Stroh, Heu, Papier und dünne, trockene Äste. Die Toten ruhten auf Brettern, Matratzen und andere Textilien, mit den sie in Berührung gekommen waren. Mit dem Brand entsorgten wir auch gleich Dinge, die ohnehin nicht mehr zu gebrauchen sind.
Um den Benzinbehälter zum Bersten zu bringen, packte ich scharfkantige Steine an die Stelle, wo der Glasbehälter aufschlagen sollte. In der Nähe befestigte Heike zwei fast heruntergebrannte Fackeln, entzündeten diese und wir gingen in Deckung. Sekunden, nachdem der Ballon zerbarst, brannte der LKW lichterloh.
Wir planten nicht, lange zu bleiben, für eine überstürzte Abfahrt bestand aber gleichermaßen kein Anlass. Bevor wir loslegten, prüften wir die Umgebung, Licht oder andere Anzeichen, die auf die Anwesenheit fremder Menschen hindeuteten entdeckten wir nicht. Wandler befanden sich dankenswerterweise ebenso keine in Sichtweite, wobei das, wie wir wissen, nicht immer etwas bedeuten muss.
Einige Minuten standen wir schweigend da, starrten in die Flammen. Ich empfand das Setting als traurig, es belastete mich. Selbst wenn ich die meisten der Toten nicht persönlich gekannt hatte, es waren meine Nachbarn. Jetzt verbrannten ihre Überreste auf einem Wanderparkplatz, irgendwie nicht gut.
Was ich als besonders belastend empfand, ist der Fakt, dass diese Menschen tatsächlich tot und vergessen sein werden. Miriam zum Beispiel ist ebenso tot, aber ich denke viel an sie, vermisse sie. Trotz ihres Todes lebt sie ein wenig in mir und mit mir weiter. Die, deren Überreste in dem LKW verbrannten sind dagegen tatsächlich tot und vergessen. Ich glaube nicht, dass noch jemand da sein wird, der diese Personen vermisst.
Schließlich meinte Michaela, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, den Rückweg anzutreten. Noch lag die Dunkelheit über dem Land, aber die Zeit lief. Wir saßen auf, Michaela übernahm abermals das Steuer. So rollten wir vom Parkplatz und just aus der Richtung, die zur Homezone führte, kamen uns Scheinwerfer entgegen – und zwar ziemlich viele.
Ohne zu zögern, schlug sie den entgegengesetzten Kurs ein und wir verschwanden in der Dunkelheit. Michaela hielt sich das Nachtsichtgerät vor die Augen, wandte den Blick nicht von der Straße vor sich. Wir anderen starrten wie die Rehe auf die schnell näherkommenden Scheinwerfer. Bedingt durch den Tarnanstrich sowie die abgeklebten Leuchten reflektierte an dem Wagen nichts mehr. Sogar die Scheiben sind mit Schlamm gesprenkelt.
Michaela bog in eine Seitenstraße ab, wir verschwanden hinter einer Hecke. Sie stoppte und wir beobachteten aus sicherer Entfernung, wie 15 Motorräder auf den Parkplatz einbogen. Es handelte sich um eine gemischte Gruppe 10 Männer, fünf Frauen, die meisten trugen Lederkleidung. Die Fremden verfügten über eine gute Bewaffnung, Sturmgewehre, Schrotflinten, Pistolen. Gutmenschen sehen anders aus. Sie umkreisten das brennende Fahrzeug. Letztendlich stoppten sie und eine heftige Diskussion entspannte sich in der Gruppe. Was sie sagten, konnten wir nicht verstehen.
Die Männer und Frauen standen bei den Lastwagen und starrten misstrauisch in die Dunkelheit, ihre Waffen hielten sie schussbereit. Das Feuer des LKW leuchtet die Szene ausreichend aus, Michaela machte wieder Bilder von den Fremden mit ihrer Kamera.
Die Gruppe schien nicht auf der Durchreise zu sein, sie führten kein Gepäck mit sich und versperrten uns den Rückweg. Weiter westlich auszuweichen und über Umwege zur Homezone zurückzukehren schlossen wir aus. Das Risiko, auf einen blockierten Straßenabschnitt aufzufahren, schätzen wir als zu hoch ein. Falls die Motorradfahrer in dieselbe Richtung fahren, hätten wir ein ernsthaftes Problem.
Es mag paradox klingen, aber zu bleiben, wo wir uns befanden, schien uns am sicheresten. Wir standen auf einem befestigten Feldweg, das hieß, wir hinterließen keine Spuren. Friedrich und Heike zogen den Evalia weiter nach hinten, stellten ihn in den Wald, wo der Boden fest genug erschien, so dass wir, wenn überhaupt, nur minimale Abdrücke verursachten. Die beiden tarnten die Scheiben, entnahmen die Sicherung für die Batterieanzeige und verwischten die Fährte des Wagens.
Während dessen verharrten Michaela und ich auf dem Beobachtungsposten, hielten ein wachsames Auge auf die Fremden. Warum die Gruppe so lange bei dem brennenden LKW blieb, erschloss sich uns nicht. Sie schienen Gesprächsbedarf zu haben.
Auf einmal trennte sich die Versammlung, acht Motorräder fuhren nach Westen, in unsere Richtung, sieben blieben stehen. Heike und Friedrich kamen und gemeinsam verschwanden wir im Wald. So wie wir zwei passende Bäume gefunden hatten, schossen wir mit der Bergsteigerarmbrust Seile ins Geäst und bereiteten den Aufstieg vor. Die Notfallrucksäcke, welche wir mitführten, sicherten unsere Versorgung. Damit konnten wir zumindest auf Notrationen, Wasser und leere Flaschen, die Mädels auch auf einen Trichter zurückgreifen.
Heike und Friedrich bestiegen den ersten Baum, Michaela und ich den zweiten. Das Timing war recht knapp, denn die Motorradfahrer teilten sich weiter auf. Jeweils zwei Maschinen bogen in die abgehenden Feldwege ein. Sie passierten uns und den Evalia, auf dem Rückweg ebenso. Die Fremden entdeckten weder uns noch das Fahrzeug.
Zukünftig werden wir geschlechterspezifisch die Bäume besteigen. Es ist besser, wenn man den ganzen Tag auf einem „Hochsitz“ verbringt, dass mit Gleichgeschlechtlichen zu tun, es entwickelte sich, zumindest punktuell, etwas unangenehm – für beide Seiten.
Wir blieben über den Hotspot in Verbindung, texteten uns Blödsinn und Beobachtungen. Unsere Positionen ermöglichten uns zumindest streckenweise einen Einblick auf die Straßen und den Wanderparkplatz. Dass man uns in 10 Metern Höhe entdeckte, hielt ich für unwahrscheinlich.
Die Uhr zeigte die Sieben und vor uns lagen noch 10 Stunden auf den Beobachtungsposten. Wir zogen die Zeit durch, klingt vielleicht nicht aufregend, ist aber anstrengend.
Gegen 17.00 Uhr verließen wir die Bäume. Von der Gang hatten wir seit rund acht Stunden nichts mehr gesehen oder gehört. Für uns problematisch erwies sich, dass die Gruppe nach Osten verschwand. Scheint so, als ob wir Nachbarn haben.
Wir wälzten die Karte, suchten uns insgesamt drei Routen raus, wie wir diese Strecke möglichst weiträumig umfahren konnten. Gegen 18.00 Uhr beendeten wir die Streckenauswahl, bis zum Sonnenuntergang blieben rund dreieinhalb Stunden, von da bis Mitternacht nochmals etwa 150 Minuten.
Beruhigend fand ich die Gewissheit, dass die Homezone sich mittlerweile in Alarmbereitschaft befinden musste. Sie wussten, dass ein Problem vorlag, und würden entsprechend vorsichtig sein. Eigentlich wollten wir ihnen die Qual ersparen, nach Mitternacht einzulaufen, trotzdem blieben wir, bis die Dunkelheit anbrach.
Es ist sinnlos, sich Regeln zu geben, und sie dann bei der ersten Gelegenheit nicht zu beachten. Die einzige Frage, die wir ernsthaft diskutierten, lautete, ob wir die Ausweichrouten nehmen sollten. Wir hatten zwar zwei Nachtsichtgeräte dabei, es ist aber trotzdem extrem schwierig, sich nachts in einer völlig unbekannten Umgebung zu orientieren. Wir entschieden uns, das Risiko einzugehen, den direkten Weg zu nehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die fremde Gruppe eine Straßensperre oder eine Wache an der Straße eingerichtet hatte, vernachlässigten wir.
Sobald die Dunkelheit anbrach, fuhren wir los. Michaela holte mit Friedrich den Evalia, Heike und ich marschierten bis zum Wanderparkplatz. Mit den Ferngläsern suchten wir Straße ab, ohne Ergebnis. Der Van surrte heran, wieder begeisterte mich, wie leise diese Elektroautos sind, sneaky Bastards.
Michaela hatte mit der Scheibentarnung das Armaturenbrett und die anderen Leuchtquellen im Fahrzeug abgedunkelt. Der Wagen sah tatsächlich aus, wie ein Schatten, der sich bewegt. Wir rollten durch völlige Dunkelheit.
Die Wandler, die sich auf der Straße befanden, nahmen, wegen der geringen Geräuschemission, keine Notiz von uns. Nachts scheinen sie insgesamt weniger aktiv zu sein, als am Tag. Noch ein Grund, sich vorwiegend in der Dunkelheit und möglichst leise zu bewegen.
Nach rund zwei Kilometer sahen wir Licht auf der rechten Seite im Wald, ein offenes Feuer brannte, die Flammen loderten, ein schweres Tor versperrte die Zufahrt. Im Feuerschein erkannten wir schemenhaft ein schlossähnliches Gebäude. Die Einfahrt, das Tor, den gesamten Komplex hatten wir auf der Herfahrt nicht wahrgenommen. Wie die Fremden von diesem Anwesen das Feuer des brennenden LKWs sehen konnten, erschloss sich uns nicht. Auf jeden Fall merkwürdig, wir machten jedenfalls, dass wir Land sahen, und verschwanden in der Dunkelheit. Jetzt wissen wir zumindest, wo sich die Fremden aufhalten.
Kurz vor 23.00 Uhr erreichten wir die Barrikade im Westen. Nur Isabell erwartete uns, öffnete die Sperre und ließ uns herein. Statt einer Antwort auf die Frage, wo die anderen sich aufhielten, fiel sie uns um den Hals, jedem, sogar mir. Sie schluchzte, zog uns alle in eine Umarmung. Jetzt befanden wir uns nah an einer Panikattacke, schließlich stammelte Isabell, dass der Rest des Teams bewaffnet in der Dunkelheit Stellung bezogen hatte. Um 22.30 Uhr setzte sie den Notfallplan in Kraft. Die Gruppe hatte sich kampf- und abmarschbereit gemacht. Isabell schnappte sich ihr Smartphone und textete „sie sind zurück“.
Es dauerte keine fünf Minuten, und die anderen kamen angerannt, wir umarmten uns, lachten, weinten, die Anspannung eines gruseligen Tages fiel von uns ab, wir hatten es zurückgeschafft.
Während die anderen bereits zur Homezone liefen, blieben Isabell und ich noch bei der Barrikade stehen, blickten zurück, in die Richtung, in der die Fremden hausen.
Mit kühlem Ton wies sie mich darauf hin, dass ich dafür verantwortlich bin, dass wir hier zusammen sind. Mit einem nicht minder frostigen Blick teilte sie mir mit, dass sie nichts unversucht lassen würde, dass wir hier überleben. Das, so schloss sie, schulde sie ihrer Mutter. Mit diesen Worten ließ sie mich stehen.
Irgendwie fühlte ich mich gedisst. Andererseits ist es gut, zu wissen, dass Isabell dem Projekt uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkt. Außerdem ist sie nicht mein größtes Problem, womit ich wieder bei den Fremden bin.
Ich glaube nicht, dass wir hier noch sicher wären, wenn sie von unserer Existenz wüssten. Man muss natürlich aufpassen, dass man keine gepflegte Paranoia entwickelt, aber sie haben sie auch nicht gesehen.
Ihre Erscheinung wirkte raumgreifend, das Auftreten arrogant. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir ein junger Mann. Auf dem Sozius seiner Maschine saß eine rothaarige Frau. Vom Verhalten der anderen Anwesenden auf dem Parkplatz schloss ich, dass es sich bei ihm um den Anführer handelte. Schlicht und einfach, ein schöner Mensch. Auch seine Begleiterin wirkte auf die Entfernung von außerordentlicher Schönheit. Die beiden schienen sich dieses Umstandes nur zu bewusst zu sein.
Während ich nach Westen blickte, bemerkte ich Bewegung auf der Straße. Eine Gruppe von Wandlern bewegte sich langsam in unsere Richtung. Sie blieben in hundert Metern Entfernung stehen und starrte auf die Homezone. Näher kamen sie nicht. Mit dem Restlichtverstärker erkannte ich in der Gruppe einen Lazarus-Wandler an den leuchtenden Augen. Diese Augen sind schlicht unheimlich, insbesondere wenn man durch ein Nachtsichtgerät auf sie blickt. Warum sie dort stehen blieben, erschloss sich mir nicht, dennoch machte sich Erleichterung in mir breit. Wütende Wandler an einer unserer Barrikaden brauchte ich in dieser Nacht eindeutig nicht.
Giulia kam zu mir, stellte sich neben mich, wollte wissen, was ich trieb.
Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass ich dastehe, in die Dunkelheit starre, an unsere Nachbarn denke sowie eine Wandlergruppe beobachte, die weiter vorne auf der Straße campiert. Ich gab ihr das Nachtsichtgerät und zeigte ihr das Rudel.
Bei dem Blick durch den Apparat schüttelte sie sich, sagte, wie unheimlich sie die Wandler finden würde und ob wir die Wesen nicht irgendwie von der Homezone fernhalten könnten.
Bei diesen Worten formte sich in meinem Kopf eine Idee. Ich habe sie den anderen noch nicht mitgeteilt, sie ist noch nicht reif, wenn ich das so sagen darf. Das Interessante an dem Ort in dem die Homezone liegt, ist die Abgeschiedenheit.
Das ist nicht gut, falls man auf ein pulsierendes Nachtleben setzt. Es ist sehr gut, will man seine Ruhe haben. Wir liegen abseits von den großen Bundes- oder Kreisstraßen. Eingefasst von Wäldern und Feldern. Natürlich gibt es Verbindungsstraßen zu den Hauptverkehrswegen, die sind aber schmal und nicht im besten Zustand. Wenn wir an den Abfahrten von bzw. zu den großen Verkehrsadern Baustellenschilder und Umleitungsschilder aufstellen, Baustellenabsperrungen einrichten, dann müssten wir eigentlich verhindern, dass Menschen zu uns kommen. Selbst bei Wandlern könnte das funktionieren. Es ist mir schon aufgefallen, dass sie meistens die Straßen und Wege benutzen. Bei Sperren bleiben sie häufig stehen, insbesondere dann, wenn nicht klar ist, wie man an ihnen vorbeikommt. Irgendwann gehen sie in eine andere Richtung weiter. Das Ganze macht dahingehend Sinn, dass die Benutzung von Wegen und Straßen Energie spart. Mal sehen, was die Gruppe zu dem Plan sagt.


4.24 Abriegelung und Birnenernte 31.07.2019

Als ich morgens in die Küche kam, saß Isabell bereits am Küchentisch, eine Tasse Kaffee vor sich. Daran erkannte ich, dass ich gestern echt fertig gewesen sein muss, da ich den Vollautomaten nicht gehört hatte.
Meinen „guten Morgen“ erwiderte sich nicht, sah mich nur lange und durchdringend an.
Schließlich begann sie zu sprechen. Sie sagte, dass sie gestern fast durchgedreht wäre vor lauter Sorge um uns und auch um mich. Am gestrigen Tag, so Isabell, ist sie in dieser Welt angekommen, hat begriffen, was passiert ist.
Ich hatte nicht den Eindruck, als ob das ein Gespräch werden sollte. Also zog ich mir nur einen Kaffee, setzte mich ihr gegenüber und beobachtete sie, wie sie einen Schluck aus ihrer Tasse nahm, bevor sie fortfuhr.
Ihre Mutter ist tot, fuhr sie fort. Es gab von ihr noch nicht einmal den Versuch, sie zu retten. Die Schuld, so meine Freundin, muss sie für den Rest ihres Lebens tragen. Gestern wurde ihr, inmitten von all den Schuldgefühlen, die sie mit sich herumträgt, bewusst, dass es sich dennoch lohnt zu leben. Wir sind zusammen, haben dieses Dorf. Für sie macht unsere Gemeinschaft das Leben lebenswert.
Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie fortfuhr, dass sie mir nicht verzeihen kann, dass ich sie nicht früher einweihte. Die Frage, die zwischen ihr und mir steht, ist „was wäre wenn“? Hätte es eine Chance gegeben, ihre Mutter zu retten?
Sie schüttete den Rest ihres Kaffees in sich hinein, stand brüsk auf und meinte, bevor sie mich alleine zurückließ: „Es wird nie wieder so werden, wie es war. Aber ich lasse nichts unversucht, dass wir alle überleben. Dafür bin ich bereit weit zu gehen – und wenn es sein muss über Leichen. Das ist mir gestern bewusst geworden.“
Mit diesen Worten rauschte sie hinaus. Sie kam erst später mit den anderen zurück. Ich wusste nicht so genau, was ich aus diesem Auftritt machen sollte. War das jetzt ein Versprechen oder eine Drohung?
In Schöntal habe ich erstmalig getötet, bin ich da über Leichen gegangen? Dieser Tag und was er aus mir gemacht hat, kreist noch immer bei mir im Kopf herum. Jetzt kommen Bilder dazu, die mir mein Gehirn einspielt. Wie wird das aussehen, wenn Isabell über Leichen geht? So wie an diesem Tag in Schöntal? Oder viel schlimmer?
Später beim Frühstück habe ich den anderen den Plan von der Blockierung vorgeschlagen. Die Begeisterung hielt sich in Grenzen.
Friedrich zeigte sich nicht überzeugt, ob es Menschen tatsächlich davon abhalten würde, zu uns zu kommen. Wie er seine Bedenken darlegte, musste ich zugeben, dass er in einigen Punkten richtig liegt. Es geht nicht nur um die Durchreise als solche. Menschen sind gezwungen zu plündern und Vorräte zu sicheren. Wer am Verhungern ist, wird sich nicht von einem Durchfahrt-Verboten-Schild aufhalten lassen.
Die Idee wurde beerdigt, schade eigentlich, ich fand sie durchaus charmant.
Heute verbrachten wir einen Großteil der Zeit in der unmittelbaren Umgebung bzw. im Dorf selbst. Die Birnen sind teilweise reif, die Äste biegen sich unter der Last. Wir müssen sie ernten und einlagern beziehungsweise einkochen. Erste Versuche mit dem Dörren der Früchte endeten vielversprechend, die Ergebnisse sind akzeptabel. Die nächsten Tage wird uns das beschäftigt halten.
Und dann ist da noch das Depot. Wir sind am überlegen, was wir zuerst angehen, die DHL-Lagerhalle oder das Einkaufszentrum. Da sind wir uns nicht schlüssig. Insgesamt ist die Versorgungslage momentan entspannt. Die Gärten spucken reifes Obst und Gemüse aus, wir müssen es nur einsammeln und essen. Die gemeinsamen Mahlzeiten haben sich zu einem Highlight des Tages entwickelt. Nach der klaustrophobischen Enge der Anfangszeit genießen wir die frische Luft und den Sommer, soweit es die Umstände zulassen. In manchen Momenten vergisst man fast, was geschehen ist.
 



 
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