Der leere Platz

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„Entschuldigung, Verzeihung …“, wiederholte Fritz jedes Mal, wenn sich die Zuschauer wie Perlen an einer Kette von ihren Sitzschalen für ihn erhoben und sich wieder hinsetzten.
Fritz schaute auf die Eintrittskarte und verglich die aufgedruckte Nummer mit der auf dem Messingschild des Sitzes. Er setzte sich hin, trank einen Schluck Bier aus dem Becher und blickte auf den leeren Platz neben sich, der nur mit einem Schal drapiert war. Vorsichtig stellte er den Becher auf die Kante seines Sitzes, klemmte ihn zwischen den Knien ein und pustete kräftig aus. Während er seine Jacke öffnete sagte er mehr zu sich selbst: „Puh, eben noch geschafft.“
Als sich die beiden Mannschaften in Reih und Glied auf dem Rasen aufstellten, beugte sich Fritz zu dem Mann an der anderen Seite des leeren Platzes und sagte: „Ich hatte Glück. Mein Kumpel hat keine Karte mehr bekommen. Ausverkauft! Und jetzt sehe ich hier den leeren Platz. Pokal-Finale! Also wirklich.“
„Wie … wie bitte?“, fragte der Mann.
Fritz deutete neben sich. „Der leere Platz.“
„Ach so. Der Platz. Der gehört … meinem Sohn.“
„Na, da muss er sich aber beeilen! Holt er noch Bratwurst?“ Fritz lächelte, stellte das Bier auf den freien Platz und knöpfte sich das Hemd weiter auf.
„Mein Sohn hat sich so auf dieses Spiel gefreut. Seit seinem zehnten Geburtstag haben wir zwei kein Finale verpasst. Für uns gab es nichts Schöneres: Kurztrip nach Berlin, das Spiel ... und heute ...", der Mann wurde von einem heiseren Husten unterbrochen, "heute könnte erstmalig unser Heimatverein den Pott holen!"
„Aber wo steckt er denn?“
Der Mann schnäuzte sich die Nase und fuhr fort: „Er ist gestorben.“
„Oh, das tut mir leid!“ Sofort nahm Fritz sein Bier vom Sitz und wischte mit der Hand drüber.
Das Orchester formierte sich auf dem Rasen. „Wollte denn Ihre Frau nicht an ihrer Stelle …?“
„Wir haben uns getrennt.“
„Oh. Also meine Kollegen hätten locker hundertfuffzig Euro …“
„Ich wollte die Karte nicht verkaufen!“
Verdutzt schaute Fritz geradeaus aufs Spielfeld. „Aber Verwandte, Freunde oder Bekannte …“, sagte er dann.
Kopfschüttelnd antwortete der Mann: „Nein. Die sind heute alle ... verhindert.“
„Wieso denn?“
Das Orchester setzte die Instrumente zur Spielstellung an. Im Stadion wurde es ganz still. Die ersten Zuschauer erhoben sich.
Leise sagte der Mann: „Die sind alle auf der Beerdigung“, und stand auf, als das Orchester die ersten Töne der Nationalhymne spielte.
 
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Tula

Mitglied
Hallo Franklyn
Idee gut, aber vielleicht auch etwas unwirklich. Ich erinnere mich dennoch an eine wahre Geschichte von einem Piloten, der kurz nach einer ungewöhnlich harten Landung seinem Kollegen im Cockpit gestand, dass sein Sohn erst Stunden vorher verstorben war. Er war nicht in der Lage mit irgend jemandem darüber zu reden und wusste sich nicht anders zu helfen als den nächsten Flug anzutreten.

LG
Tula
 
Moin, Tula,

danke fürs lesen und kommentieren.

Idee gut, aber vielleicht auch etwas unwirklich.
Sicherlich nur schwer vorstellbar, aber nicht undenkbar (Wer sagt eigentlich, dass hier nur wahre Geschichten gepostet werden dürfen? Wir sind ja hier nicht bei den Tagebüchern.) :)

Wie dem auch sein, könnte ich mir tatsächlich vorstellen, dass ein Elternteil nicht zur Beerdigung seines Kindes geht, eine andere Art der Trauer vorzieht. Warum nicht den ursprünglich mit großer Vorfreude geplanten, besonderen Tag in Ehren halten, allein das Ereignis besuchen, das man zusammen erleben wollte?
Hier sieht man ja nur, dass er nicht zur Beerdigung gegangen ist, Alles, was dahinter stecken mag, wird nicht ersichtlich. Vielleicht hat sogar am Ende ihr "eigener Verein" das Finale gewonnen und der Vater freut sich dann doppelt, für seinen Sohn mit und hängt später den Fan-Schal und/oder einen Papier-/Karton-Pokal an die Zimmerwand des Jungen?
Der Vater hat ja nur noch seinen Sohn. Vater und Mutter sind getrennt. Womöglich lebt Vater nun allein im Haus/in der Wohnung, wo noch das Zimmer des Sohns ist. Sicher wird er später das Grab aufsuchen, nicht jetzt, wo seine Ex ist. r möchte auf seine Art trauern.

Das was du erzählt hast, hört sich ebenso unglaublich an, finde ich. Steht Piloten nicht psychologische Hilfe zur Seite? Solche eine Unterstützung wird unserem Prota hier in meiner Geschichte sicher nicht so einfach zugestanden haben. Und er hat durch seinen Besuch im Stadion auch nicht das Leben anderer in Gefahr gebracht.

Danke nochmals. Wenn du weitere Anregungen hast, wie z.B., ob der Text noch ausgebaut werden müsste, etwas fehlt, zu viel ist, etwas stilistisch nicht einwandfrei ist – gerne immer her damit.

LG, Franklyn
 
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G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
Hallo @Franklyn Francis: Ein Hammerschluss! Unwahrscheinlich, nicht leicht vorstellbar aber eine faszinierende Möglichkeit, seiner Trauer so Ausdruck zu geben. Sehr schön auch die zufällige Begegnung, der Smalltalk, der den Protagonisten unversehens an einer menschlichen Tragödie teilhaben lässt.
Der Arzt Dr. Wimmer, sagte, nachdem er sein Kind verloren hat: "Ich wollte kein Mitleid, dieses: ach-wie-furchtbar-schrecklich ...! Nur jemanden, der einfach fragt: Was brauchst du jetzt, was können wir zwei jetzt in dieser Situation gemeinsam tun?"

Hier stört mich das "nachdem":
„Entschuldigung, Entschuldigung“, wiederholte Fritz, nachdem sich Zuschauer wie Perlen an einer Kette von ihren Sitzschalen erhoben und wieder hingesetzt hatten
Vorschlag: "Entschuldigung, Verzeihung ...", wiederholte Fritz jedes Mal, wenn sich die Zuschauer wie Perlen an einer Kette von ihren Sitzschalen für ihn erhoben und sich wieder hinsetzten.

„Ach so. Der … der gehört zu mir“, antwortete der Mann. „Mein Sohn. Er hat sich so gefreut. Wir haben seit seinem zehnten Geburtstag kein Finale verpasst. Es gab nichts Schöneres für uns. Kurztrip nach Berlin, das Spiel ... Und heute …“, der Mann hustete blechern, „heute könnte sogar erstmalig unser Heimatverein den Pott holen!“
Vorschlag: "Ach so. Der freie Platz. Der gehört ... meinem Sohn. Er hat sich so auf dieses Spiel gefreut. Seit seinem zehnten Geburtstag haben wir zwei kein Finale verpasst. Für uns gab es nichts Schöneres: Kurztrip nach Berlin, das Spiel ... und heute ...", der Mann wurde von einem heiseren Husten unterbrochen, "heute könnte erstmalig unser Heimatverein den Pott holen!"

„Darf ich denn fragen, wo Ihr Sohn heute ist?“
Vorschlag: "Und wo ist er heute?"

„Oh, das tut mir leid“, sagte Fritz, nahm das Bier und wischte mit dem Schal über den Sitz.
[/QUOTE]
Vorschlag: "Oh, das tut mir leid!" Sofort nahm Fritz sein Bier vom Stuhl und wischte bedauernd mit dem Schal über den Sitz.
 
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G

Gelöschtes Mitglied 13736

Gast
Moin,
Die Pointe war mir schon als Witz bekannt. Diese in eine gut geschriebene Kurzgeschichte zu verpacken, ist dir prima gelungen.
Ich schreibe selbst gerne mal Zwölfzeiler, in denen ich irgendwo gelesene Witze verwurste.
Schönen Sonntag
LG
Oscarchen
 
Guten Morgen, Isbahan,

Danke fürs Lesen, Kommentieren und Bewerten.
Habe mich sehr gefreut.

Ein Hammerschluss!
Danke.

Unwahrscheinlich, nicht leicht vorstellbar aber eine faszinierende Möglichkeit, seiner Trauer so Ausdruck zu geben.
Ja, könnte aber so möglich sein, denke ich.

Sehr schön auch die zufällige Begegnung, der Smalltalk, der den Protagonisten unversehens an einer menschlichen Tragödie teilhaben lässt.
Ja, ganz harmloser Smalltalk, der dann zu einer Tragik führt.

Deine Vorschläge sind super. Du hast Stellen gefunden, mit denen ich auch noch nicht 100 pro zufrieden war. Sehr gerne habe ich das übernommen.

Schönen Sonntag und
LG, Franklyn
 
G

Gelöschtes Mitglied 23262

Gast
Hallo, lieber Franklyn
ich habe gestern schon deine Geschichte gelesen und gerne darauf rumgedacht. Eine wirklich tragisch-schöne Geschichte.
Ich möchte dir gerne zwei meiner Gedanken schreiben:

Der leere Platz neben dem Vater ist eigentlich ein voller Platz, ein Andenken, ein Altar, ein kostbarer Raum (so jedenfalls nehme ich ihn wahr). Da passt es nicht, dass er einen anderen dort Bier und Schal platzieren läßt. Isbahans Vorschlag geht ja schon in dieselbe Richtung. Aber ich glaube, das Würdigen des Platzes beginnt bereits früher: Nämlich beim Vater selbst.

Der Schluß ist enorm wichtig. Hier kannst Du das Ding in die eine oder in die andere Richtung drehen. Also hat der Mann einen an der Klatsche, ist sozial verarmt, emotionslos oder aber hat er eine besonders selten schöne Art des Abschiednehmens. Es lohnt sich, finde ich, hier gefühlvoll und langsam rumzubasteln und auszuprobieren. Mir fiel so was ein wie "Er sagte leise: Die sind DOCH alle auf der Beerdigung". Ende. Aber es gibt besimmt noch viele andere Möglichkeiten.

Jedenfalls ein ordentliches Stück Leben, das du da angepackt hast.
Ich wünsch dir einen schönen Rest-Sonntag.
Judith
 
Hallo Oscarchen,

danke fürs lesen, kommentieren und bewerten.

Die Pointe war mir schon als Witz bekannt.
Keine Ahnung, ob ich den Witz vorher mal gehört habe. Im Unterbewusstsein vielleicht. Aber gelacht hätte ich sicher nicht :)

Diese in eine gut geschriebene Kurzgeschichte zu verpacken, ist dir prima gelungen.
Danke für deine Einschätzung.

Ich schreibe selbst gerne mal Zwölfzeiler, in denen ich irgendwo gelesene Witze verwurste.
Hört sich gut an, ich schaue bei Gelegenheit rein, wenns denn keine Lyrik ist, denn das ist nicht mein Steckenpferd. ;)

Meine Anregungen bekomme ich oft aus Zeitungsartikeln.

Schönen Sonntagabend.

LG, Franklyn
 
Liebe Judith,

danke fürs Lesen und Kommentieren.

ich habe gestern schon deine Geschichte gelesen und gerne darauf rumgedacht.
Na, was Besseres kann man ja gar nicht hören, wenn die Geschichte zum Nachdenken anregt.

eine wirklich tragisch-schöne Geschichte.
Danke sehr.

Der leere Platz neben dem Vater ist eigentlich ein voller Platz, ein Andenken, ein Altar, ein kostbarer Raum (so jedenfalls nehme ich ihn wahr). Da passt es nicht, dass er einen anderen dort Bier und Schal platzieren läßt.
Ja. Der andere Mann, also Fritz, nimmt das Bier auch wieder schnell vom Sitz runter und wischt über den Platz, so dass der Trauernde nicht einzugreifen braucht (was ja anzunehmen wäre).

Der Schluß ist enorm wichtig. Hier kannst Du das Ding in die eine oder in die andere Richtung drehen. Also hat der Mann einen an der Klatsche, ist sozial verarmt, emotionslos oder aber hat er eine besonders selten schöne Art des Abschiednehmens.
Ich dachte ans Zweitgenannte. Er kann ja trotzdem einen Kleinen an der Klatsche haben, das schließt es ja nicht aus ;-)

Jedenfalls ein ordentliches Stück Leben, das du da angepackt hast.
Danke für deine Einschätzung.
Deinen Tipp mit dem "doch" habe ich gerne übernommen. Das passt!

Wünsche dir einen tollen Wochenstart.
LG, Franklyn
 
G

Gelöschtes Mitglied 23262

Gast
Lieber Franklyn, mir ist da noch eine Idee gekommen....
.... was hälst Du davon, dass der Vater den Fan-Schal des Jungen mitgebracht und auf den leeren Platz drapiert hat? Quasi als Stellvertreter.
Du müßtest dann am Beginn etwas umstricken, aber ich fände das Bild dieses unkonventionellen Abschiedsnehmens noch eindringlicher.
"Das Spiel fängt gerade an. Schade, dass ihr Sohn noch nicht da ist. Wo ist er denn?".....
Du merkst schon, lieber Franklyn, ich finde Hirn- und Seelenwindungen sehr faszinierend :eek:)))
Viele Grüße in deinen Wochenstart zurück
Judith
 
Liebe Judith,

ja, die Idee kam mir inspiriert durch deinen vorherigen Kommentar auch. Schön, dass du das wohl auch gut finden würdest.

Ich mache mir dazu noch Gedanken, gerade auch, wie ich entsprechend den Anfang anpassen kann.

LG, Franklyn
 
G

Gelöschtes Mitglied 21924

Gast
@Franklyn Francis, @PUCKPUCK , vielleicht so:

Er setzte sich hin, trank einen kleinen Schluck Bier aus dem Becher und schaute auf den leeren Platz neben sich. „Ist der frei?“, fragte er den Zuschauer auf der anderen Seite des leeren Sitzes.
„Ja“, lautete die knappe Antwort.
Er setzte sich hin, trank einen kleinen Schluck Bier aus dem Becher und blickte auf den leeren Platz neben sich, der nur mit einem Schal drapiert war.
"Ist der frei?", fragte er den Sitznachbarn auf der anderen Seite des leeren Sitzes.
"Nein", lautete die knappe Antwort.

Den folgenden Satz müsste man nur streichen - und eine Szene erfinden, dass er irgendwann doch sein Bier auf dem leeren Stuhl abstellt und barsch aufgefordert wird, das gefälligst zu lassen ...
 
Hi Isbahan,
Hi Judith,

schön, wie auch du dir Gedanken über eine weitere Textanpassung, eine Verbesserung machst, Isbahan.

Ja, das würde so gehen.

Den folgenden Satz müsste man nur streichen - und eine Szene erfinden, dass er irgendwann doch sein Bier auf dem leeren Stuhl abstellt und barsch aufgefordert wird, das gefälligst zu lassen ...
Na ja, barsch sollte er m.E. nicht sein.
Der Fritze sollte schon selbst merken, dass er etwas falsch gemacht hat. Hm, oder doch ...?

Ich denke noch drüber nach. Kommt Zeit, kommt Rat. Vielleicht gibt es ja noch Anmerkungen von anderer Seite.

Das mit dem mitgebrachten bzw. im Stadion extra für den Sohn gekauften Fanschal (stelle mir den so vor, dass da auch die Spielpaarung und das Datum draufsteht), ist auf jeden Fall eine tolle Sache. Den würde er ja im Zimmer an der Wand hängen, zu den anderen Schals. Und bestimmt geht er auch die nächsten Jahre immer wieder allein zum Finale und lässt die Tradition fortleben.

Habt einen schönen Abend.
LG, Franklyn
 
G

Gelöschtes Mitglied 23262

Gast
Bei den Wörtern "wie Perlen an einer Kette, Sitzschalen, pustete aus, sagte er mehr zu sich selbst, kleiner Schluck würde PUCKPUCK nochmal ran. Mußt du aber nicht.;)
„Er ist kürzlich verstorben.“
Das sagt, glaub ich, ein trauernder Vater nicht. Vielleicht sagt er schlicht: "Er ist tot" oder "Er ist gestorben". Ich weiß, du willst das "kürzlich" unterbringen. Mußt du aber vielleicht gar nicht. Dann kommt der Knaller am Schluß noch besser. Was meinst Du?

So, lieber Franklyn, es macht viel Spaß mit dir an diesem Text zu feilen.
Viele Grüße
Judith
 
Liebe Judith

aus Zeitgründen (Mittagspause ist gleich rum) kann ich dir zunächst nur kurz auf deinen ersten Kommentar antworten.

Wunderbar, lieber Franklyn
Danke sehr.

Versuch mal das "freie" wegzulassen. Für den Vater ist der Stuhl nicht leer. Für ihn ist er sehr voll.
Sehr guter Einwand. Kaufe ich gerne!

Über das weitere denke ich dann später nach. Bis dann.

LG, Franklyn
 



 
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