Der letzte Besuch

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lietzensee

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Der letzte Besuch

"Da bist du ja", sagte Regina. Sie lächelte kurz. "Du hast lange gebraucht."
"Ich musste laufen", erwiderte Frank. Er umarmte erst sie und dann Herbert.
Regina verriegelte die Tür. Dann führten sie ihren Gast ins Wohnzimmer.
"Willst du Schnaps trinken?", fragte Herbert.
Frank nickte. "Schnaps kriegt man jetzt nicht überall." Sie schwiegen und er blickte im Zimmer umher. So viele Feiern, so viele Nächte. In der Ecke stand noch der Tisch, auf dem sie einmal getanzt hatten.
"Hast du etwas von Suse gehört?", fragte Regina.
"Nein", antwortete Frank.
"Sabine?"
Er schüttelte den Kopf.
Herbert goss Gläser ein. Vor dem verriegelten Fenster schwankten noch immer die Zweige der Linde, doch ihr Laub hatte sich auf dem Gehsteig verteilt. Über die Dächer der Stadt senkte sich Dämmerung.
"Es tut mir leid", stieß Frank hervor und griff ein Glas. Für einen Augenblick stockte er. Hinter der Couch türmten sich ungewaschene Kleider. "Ich wollte euch immer sagen, es tut mir leid, dass ich damals ..."
"Frank", unterbrach ihn Regina, "das ist jetzt vollkommen unwichtig."
Herbert fragte. "Auf was wollen wir trinken?"
Sie schwiegen.
"Wenigstens sind wir alle gesund", sagte Regina.
Frank lachte. Dann entschuldigte er sich.
"Also, auf was?"
"Ja, auf was?"
"Auf die Zukunft", flüsterte Frank. Sie leerten ihre Gläser im schwindenden Licht des Zimmers.
 
Diesen Text, Lietzensee, finde ich bewundernswert in seiner extremen Verknappung. Eine Episode mit einer Vorgeschichte gerinnt zu einem Bild wie von Edward Hopper (z.B. "Nighthawks"). Was mir auffiel: Wie die Außenwelt mit nur zwei Sätzen mit einbezogen und gleichzeitig durch die Formulierung "verriegeltes Fenster" draußen gehalten wird - und ganz am Schluss verliert sich auch noch das Licht von da. Rätselhaft bleibt, warum es zu solch früher Abenddämmerungsstunde - es dürfte etwa November sein - nicht mehr überall Schnaps gibt ... Ebenso, warum Frank sich für sein Lachen entschuldigt.

Es ist angenehm, wenn man sich mit einem Kurzprosatext etwas länger beschäftigen kann.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

lietzensee

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Hallo Arno,
vielen Dank für deine Antwort! Es freut mich, dass du die Verknappung nicht als Mangel empfindest. Ich wollte hier bewusst Kontext vorenthalten und mich auf die Stimmung konzentrieren. Der Vergleich mit Hopper ehrt mich natürlich.

Viele Grüße
lietzensee
 

minimalist

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Mir fiel merkwürdigerweise auch Hopper ein. Auch ansonsten schließe ich mit dem Lob von Arno hier mal ganz einfach an.

Ja, Kurzprosa sollte nachwirken. Dein Text tut es. Der Text geht noch weiter, wenn er längst zu Ende ist.
 

lietzensee

Mitglied
Hallo Minimalist,
vielen Dank für dieses Lob!

Hallo Franke,
ich danke dir sehr für deine Empfehlung!

Viele Grüße
lietzensee
 



 
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