Ein appetitlicher Matsch aus pflaumenähnlichen Früchten (lila)
Korrekt ist es wohl nicht, aber die Lust dazu drängt sich mir auf. Ich rezensiere die Sprache dieses Werks mit Bezug auf den Kollegen, der das Werk vor mir besprach - und mit Bezug auf die Antwort, die derselbe Kollege kurz zuvor unter ein anderes Werk geschrieben hatte. Ich hatte eine Benachrichtigung erhalten, dass Kollege Ofterdingen etwas über eine Geschichte geschrieben habe, die ich kürzlich freundlich beurteilt hatte. Zu jener (anderen) Geschichte meinte Ofterdingen:
> „Die Handlung hat schon was, da stimme ich mit meinen Vorrednern ... überein, doch finde ich die Sprache hölzern bis peinlich, zum Beispiel hier: „Das Schriftstück besitzt mit Sicherheit mehr als vier Worte, soviel sagt ihm seine berufliche Erfahrung.“
Unbeabsichtigt stieß ich kurz darauf auf eine weitere Ofterdingen-Antwort, weil ich mal sehen wollte, was gerade das „beste Prosawerk der letzten Wochen“ war. Eben die zum „Luftballon“. Hier schrieb Ofterdingen:
> „Dir ist hier ein sprachlich ungewöhnlich dichter, starker Text gelungen."
Um es gleich zu sagen, die beiden Werke bieten sich nicht dazu an, gegen einander ausgespielt zu werden, und ich möchte auch nicht behaupten, dass Ofterdingen mit seiner Kritik an den sprachlichen Schwächen des anderen Beitrages Unrecht hatte. Vielmehr geht es mir um das grundsätzliche Problem, dass solche Qualitätsurteile halt immer den Aspekt von „Geschmackssache“ in sich tragen und dass auch die qualitativen Maßstäbe eines einzelnen Rezensenten nicht immerdar konstant sind, sondern Stimmungen unterliegen - wie wohl auch von Zu- oder Abneigung zur jeweiligen Thematik und der grundsätzlichen Herangehensweise eines Autors an dieselbe berührt werden.
> „ Charlotte hievt mit Mühe ihren schweren Koffer über die hohen Stufen des alten Zuges herunter.“
Dass die deutsche Sprache die Möglichkeit bietet, an jedes Substantiv ein Adjektiv zu hängen, bedeutet nicht, dass man es ständig machen müsste. So scheint mir das Gewicht des Koffers in dem Wort „hieven“ bereits enthalten. Warum hat ein „kleiner“ Zug „hohe“ Stufen?
> „... aus dem ein in der Augusthitze kaum wahrnehmbarer Wind ihr durch den Zugfensterspalt die Botschaft haucht: „Du hast dort nichts zu suchen.“
Winde (fast unmerkliche zumal), die den Protagonisten von Kurzgeschichten persönliche Botschaften zuflüstern, dürften ansonsten eher nicht nach Ofterdingens Geschmack sein, wähne ich.
Sowieso spricht diese Welt ja ständig sehr eindeutig und sehr aufdringlich mit der Protagonistin. Gern in Gestalt von Adjektiven.
Der Bahnhof:
> „ein hässliches, heruntergekommenes Gebäude“
Das Bahnhofsviertel:
> „die öde Gegend, einstöckige verwahrloste Bauten und eine Misstrauen erweckende Bahnhofskneipe“
> „Die Straße ... ist lang und gerade gezogen und verwandelt sich zunehmend zu einer abstoßenden Kulisse...“
> „unappetitlicher Matsch“
Was wäre appetitlicher Matsch?
> „Die Zeit ... hat sich ... richtig ausgetobt an ... der langen Straße ... so dass sie jetzt wie das Gebiss eines alten, kranken Menschen aussieht, das zwischen den maroden Zähnen viele Lücken aufweist.“
Weder halte ich den Vergleich einer heruntergekommenen Straße mit dem Gebiss eines alten Menschen für sonderlich originell noch hätte es der Erklärung bedurft, dass so ein Gebiss marode Zähne und Lücken aufweist.
> „Hier befindet sich der Busbahnhof, der ... das Straßenbild noch weiter verschlechtert...“
> „Hinter dem Busbahnhof wird die Straße ... offensichtlich verkehrsfrei, denn im folgenden fast menschenleeren Abschnitt sind mehrere verkommene Marktstände lieblos auf ihren beiden Seiten gewürfelt.“
Was genau ist die Funktion des Wortes „offensichtlich“ in diesem Satz? Wie geht liebevolles Würfeln?
> „Ein Gefühl von Trostlosigkeit steigt vom nackten ... Markt hoch, kann aber nicht entweichen, bleibt zwischen den beklagenswerten Häuserreihen stecken.“
Klar, so Häuserreihen leiden, wenn so viel Gefühl zwischen ihnen stecken bleibt.
> „Sie ... sucht nach Erinnerungen, die sehr schwer auffindbar sind, denn sie sind nur Sándors Erinnerungen, nicht ihre eigenen, vielleicht auch noch durch seine Persönlichkeitsstörung bis zu Unkenntlichkeit verdreht, deshalb sind sie für sie unsichtbar...“
Dass die Erinnerungen eines Abwesenden, die jener mit den Straßen seiner Heimatstadt verbindet, in welcher die sich Umschauende zuvor ja noch nie gewesen ist, „schwer auffindbar“ sind, kommt mir plausibel vor. Aber darf man an dieser Stelle von einer „Persönlichkeitsstörung“ zu raunen anfangen, wenn vorher im Text noch nicht die Rede von ihr war?
> „Doch die Vorstellung ist so undurchführbar...“
Durchführbar sind Vorstellungen schon. Bloß ist das Wort nicht schön.
> „Sándor hatte ihr auch mal eine kleine Tüte mit feinen Pralinen geschenkt, als sie bereits spürte, wie er aus ihren Armen entglitt.“
Finde ich eine lustige Szene.
> „Er hatte immer wieder neue Luft in den weißen Ballon hineingeblasen, der wurde daraufhin immer größer und größer.“
Das musste mal gesagt werden. Was, wenn Sándor alte Luft genommen hätte?
> „Sie möchte die geistige Verbindung zu Sándor ... festhalten ... Rot, das leuchtet, ... , Freude über einen gelungenen Kauf könnte den Fluss der Melancholie trüben.“
Also, sie empfindet die Lust, sich etwas zum Anziehen zu kaufen. Sie freut sich an der Vorstellung, wie ein neues Top ihr stehen würde. Aber sie verbietet sich diese Freude dann sogleich, weil sie die Melancholie bewahren möchte, in der sie sich durch die Erinnerung an einen Mann befindet. Hm, ja. So können wohl nur Frauen handeln. Und ich als Mann werde das nie verstehen. Bei mir kommt da eher etwas wie Mätzchenhaftigkeit und Selbstgefälligkeit an, was in Wahrheit aber vielleicht höchster Seelengüte entspricht.
> „Sie erhebt sich von der Bank ... und tritt auf den Mülleimer zu, der daneben steht."
Ungewöhnlich dichte Sprache. Starker Text.