Der moderne Romeo

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OKABEL

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Der moderne Romeo

O. wachte in seinem Bett auf. An diesem Morgen war dieses Gefuehl, mit dem er schon lange gekämpft hatte, wieder stärker denn je zu spüren und er wusste, dass es passieren würde, unbedingt passieren müsse, heute noch. Wann auch immer etwas Unabänderliches bevorstand wollte er es hinter sich bringen, da er an nichts anderes mehr denken konnte. Trotz seiner Überzeugung, einen starken Charakter zu haben, sah er diese Eigenschaft als Schwäche an. Er setzte sich in sein Auto, welches zwar keine großen Probleme hatte, jedoch, da es ihm zuwider war, sich mit technischen und toten Dingen zu beschäftigen, weswegen ihm oft Faulheit vorgeworfen wurde, viele kleine Unzulänglichkeiten aufwies: Ein Bremslämpchen funktionierte seit ein paar Tagen nicht mehr, es wurde, seitdem er es gekauft hatte,nicht gesaugt und das Öl hätte seit einiger Zeit gewechselt werden müssen. Unbekümmert von solchen Lappalien sorgte er sich nie um die Zukunft und für ihn stand ausser Frage, dass sich im "Wird" alles genauso verhalten wird wie im "Ist". Sein früheres, selbstkritisches Denken machte ihm klar, dass diese Eigenschaft von ihm schon immer dagewesen war und wahrscheinlich, so dachte er jetzt, von seiner zu behüteten Kindheit herrührte. Größere Sorgen als eine 4 in Mathe hatte er in seiner Kindheit nicht gekannt und stets konnte er darauf vertrauen, dass seine Eltern sich um alles sorgen würden. Sein Vater und seine Mutter waren immer auf sein Wohl aus und es mangelte nicht an guten Ratschlägen und Maximen. Man konnte also sagen, dass seine Kindheit gut gewesen war.
Nachdem er sich nun in sein Auto gesetzt hatte, dachte er nach: Was veranlasste ihn zu dieser selbstlosen Tat? Hatte sie was falsch gemacht, oder war sie nicht gut genug? Beides musste er verneinen. Sie war ausser Frage genau das, was er brauchte. Er sah sehr wohl ein, dass das Licht, eben jenes Licht, welches nur Mädchen auf das Leben eines Jungen scheinen konnten, ein nützliches war: Sie zeigte ihm sowohl seine positiven, als auch seine rudimentären Charaktereigenschaften. Doch ein Gefühl nagte an ihm. Was kann man gegen ein Gefühl, welches einen langsam beschleicht, tun? Wie wehrt man sich dagegen? Welcher Vater versucht seinem Sohn beizubringen, wie man mit einer scheinbar so aussichtslosen Situation zurechtkommt? Und viel mehr: Welcher Vater schaffte es je, aus dieser Art hoffnungsloser Ausweglosigkeit, als Sieger durch die Welt zu wandern? Und dabei kann niemand sagen, dass er noch nie in dieser Situation war. War es die Schuld der Jünger, dass sie im Garten eingeschlafen sind? Dieses rein menschliches Gefuehl darf nicht mit einem uns erhebendem Gefühl verwechselt werden. Nein es erniedrigt uns, zeigt uns unseren Platz. Unser zugewiesenes Loch, in einer Welt, die sich nicht gern von Menschen regieren lässt.
O. gingen oft Gedanken dieser Art durch den Kopf. Sie gaben seinem Charakter eine Tiefe, die in ihm das Interesse am Lesen schon fruehzeitig weckte. War er auch immer neidisch auf die Charaktere in Büchern, welche wahre, ehrliche, sie erhebende Gefuehle haben konnten, war dies kein Anlass für ihn, mit dem Lesen aufzuhören, sondern ermutigte ihn zu lesen, da er fälschlicherweise dachte, dass er dadurch lernen würde zu fühlen. Er selbst kannte nur Anzeichen solcher Gefuehle. Er dachte an seine erste Liebe, entschied sich jedoch schnell, nicht an Dinge zu denken, die nicht mehr sind, sondern versuchte, seine bevorstehende Handlung durch seine schon vorher durchdachten Argumente zu bestaerken. Er dachte daran, wie dünn die Liebe war, die er gefühlt hatte. Eine perversierte Version, eine nicht echte, eher entschiedene, von anderen vorgelebte Version der Liebe. Geträumt hatte er immer von der erhofften, jedoch fuer niemanden greifbaren "Liebe auf den ersten Blick". Er war müde geworden. Müde, wie die Jünger im Garten Eden und er konnte die Fassade genauso wenig länger aufrechterhalten, wie die Jünger ihre Sinne nicht länger hätten aufrecht erhalten können. Während sie schliefen, fielen alle Sorgen von ihnen. Sie vergaßen, dass der Sinn Ihres Lebens bald an das Kreuz geschlagen werden würde - und wie gut war dieses Vergessen!
Nun war auch er bereit, zu vergessen. Bereit zu vergessen, dass er eine von der Sorte der Menschen war, die nie eine wirkliche tiefe Fröhlichkeit haben konnten. Es war immer ein Hinnehmen der Sachen und Begebenheiten, die das Schicksal ihm vor die Füße warf. Jetzt wollte er, wenn er schon nicht froh sein konnte, wenigstens traurig sein. Eine Tragödie schreiben. Und er selbst wollte die Hauptolle spielen.
O. könnte sie glücklich machen. Es würde ihn sogar von seinem Unglück ablenken. Jedoch überkam ihn ein Sehnen nach Freiheit. Und ist Freiheit nicht etwas zu tun, einfach weil man es kann, und gleichzeitig nicht einmal die Möglichkeit hat, weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft zu denken? Wäre es gut, so frei zu sein? Und wäre man wirklich frei, wenn das Wissen, von diesem "Gefühl", immer um uns schleichen könnte, nur darauf wartend etwas zu zerstören, dass wir gelernt haben, als gut zu erachten? Was ist "gut"? Sollten wir immer tun, was andere als gut erachten? Ist das das Schicksal des Menschen? Er wollte sich von solchen Anschauungen lösen.
Trotz solcher Gedanken konnte er zu ihr fahren, ohne ein Unglück zu fürchten. Er kannte den Weg, apathisch wie ein Vogel, welcher in den Süden fliegt, weil er es eben hinter sich bringen musste. Jedoch kam ihm der Weg diesmal viel kürzer vor. Eine Art Vorfreude bemächtigte sich seiner.
Er erledigte die Angelegenheit schnell und abrupt, wie es seine Art war, wenn er sich auf etwas festgesetzt hatte. Natürlich gab es Tränen. Ein Mädchen weint immer wenn es kann, was ihn früher bewegt, ja sogar erschreckt und erregt hatte. Jetzt jedoch kannte er Mädchen, vor allem die, welche gerne weinten. Solidarisch ließ auch er ein paar Tränen fliessen und zu seiner Überraschung fühlte er für einen kurzen Moment sogar ein wenig Mitleid mit ihr. Doch dachte er schnell an die anderen Mädchen, mit denen es nicht anders war und er dachte sich, dass so eine Tragödie, wie er sie hier spielte, schon unendliche male in der Zeit der Menschheit passiert sei, und es sich somit nicht lohnt, niedere Gefühle wie Mitleid, zu verspüren. Es war ihm bewusst, dass seine Rolle wichtiger war als die ihre. Ihr jedoch war nicht bewusst, dass alles in der Natur fröhlich dem Ende zuläuft, um danach, oder parallel schon, etwas neues anzufangen.
Sein Zustand auf dem Rückweg jedoch frappierte ihn. Anstatt Traurigkeit und tragischen Gefühlen kam kein Gefühl, außer einer leichten Ohnmacht. Und, vermischt mit ihr, die alt vertraute Zufriedenheit, welche sich schnell stärker ausprägte, bis er gänzlich mit allem einverstanden war. Er war zufrieden, dass er nicht so alleine war. Ein komisches Gefuehl, dachte er, wo er doch jetzt viel einsamer hätte sein sollen. Bei genauerem Nachdenken jedoch wurde ihm bewusst, dass er mit ihr viel einsamer war. Immer hielt Sie ihm unbewusst vor Augen, dass beide nie eins sein können. Sie hob ihn vom Boden auf, ließ ihn sich jedoch nie in den Himmel erheben. Sie hatte ihn nie ganz verstanden. Überhaupt, dachte er, gibt es keine Menschen die sich verstehen können. Zwar sagen sich Menschen: "Ich weiß, wie du dich fühlst.", jedoch ist das immer eine Lüge. Menschenseelen werden nie "Eins". Er brauchte nicht mehr vorzuheucheln, dass er glücklich werden kann wie andere, die immer flach über der Erde fliegen. Und jetzt endlich war sie nicht mehr da, um ihm vorzuhalten, dass er einsam ist. Er konnte für sich selber existieren und vielleicht ein Gefühl finden, welches ihm Befriedigung gibt. Keine oberflächliche Befriedigung, wie etwa Alkohol oder andere Substanzen ihm früher schon gegeben hatten.
Er wusste jedoch, dass er sich traurig fühlen sollte. Und es gab einen Ort, der ihn traurig stimmen würde. Auf dem Weg lag ein Friedhof, und auf diesem Friedhof war ein Grab, und in diesem Grab lag sein Großvater. Leere Glasflaschen, welche beim Lenken und Schwenken und Parken aneinander stießen, klirrten auf der Rückbank. An viele glückliche Tage erinnerte er sich beim Anblick des Grabes, welches sehr gepflegt von seiner Grossmutter, so aussah, als sei sein Grossvater vor einer Woche noch am Leben gewesen. Er erinnerte sich an längst vergangene und fast in Vergessenheit geratene Tage, an denen er mit seinem Großvater sonnige Stunden verbrachte. Aber auch strenge Stunden, in denen er von ihm im Russischen unterrichtet wurde. Doch überwiegend an die spielerischen, kindlichen Stunden, in denen sein Großvater, als sei er selbst ein Kind, mit ihm gespielt hatte. Es wurden Papierflieger gebaut, das Schwimmen erlernt und Spaziergänge gemacht. Der Besuch am Grab tat seine Wirkung. Ihn erfasste zwar keine tief liegende Traurigkeit, jedoch eine Melancholie die man bekommt, wenn man sich an Kindheit oder erste Liebe erinnert. Liebe... Alles musste ja letzendlich wieder zu den jetzigen Problemen zurückführen. Ihn störte es, dass jetzige Probleme seine Kindheitserinnerungen befleckten. Erbost setzte er sich in seinen Wagen.
Zuhause angekommen, ohne zu zögern, öffnete er Instagram und löschte alle Bilder die er mit ihr hatte. Jetzt wurde ihm bewusst, dass er das machte, um anderen ein bestimmtes Bild von sich zu geben. Ein Bild von ihm, welches vielleicht gar nicht wirklich er war, jedoch eins, welches er anderen zu verkaufen versuchte. Tief im Inneren musste jeder klardenkenden Mensch zu dem Schluss kommen, dass die Abhängigkeit von den Followern einen nicht glücklich machen kann. War die Anhänglichkeit der modernen Menschen zu solchen Dinge zu stark? Er dachte darüber nach, vergaß einen Augenblick von den Geschehnissen des Tages, bis er sich derer plötzlich wieder bewusst wurde und er einen bitteren Geschmack im Mund bekam. War er im Unrecht? Musste er an sich selbst arbeiten, um Menschen die ihn lieben nicht zu verletzen? Vielleicht, wenn er sich das nächste mal mehr bemühte, wird es klappen? Der Gedanke wurde jedoch schnell von ihm verworfen, da Ihm plötzlich die Unsinnigkeit und Lächerlichkeit dieser bewusst wurde. Und nachdem ihm einleuchtete, dass er Komödie anstatt Tragödie gespielt hatte, nahm er seinen Shakespeare vom Regal, las den Rest des Tages und war glücklich, bis er sich in sein Bett legte.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo OKABEL, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von DocSchneider

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