[ 4]
[ 4]Der Musterschüler
Waren sie ein Musterschüler, der Liebling der Lehrer, der Klassenbeste? Ich war einer – leider.
Schuld an allem war meine Mutter. Ich war ein sehr interessiertes Kind und hatte viele Fragen gestellt. Was ich nicht konnte, wollte ich unbedingt lernen. Ich ging häufig an der Hand meiner Mutter durch die Stadt. Ein eigenes Fahrzeug besaß damals noch kaum jemand. Wege, die nicht allzu weit waren, wurden zu Fuß erledigt. Bei jeder Plakatwand blieb ich stehen und ließ mir den Text vorlesen. Auf diese Weise lernte ich lesen, schon lange vor meinem Schuleintritt.
Im Alter von sechs Jahren musste ich meine Mutter zur Einschreibung in die Volksschule begleiten. Welche Tests die Direktorin und die Klassenlehrerin mit mir durchführten, um meine Schulreife festzustellen, weiß ich nicht mehr. An eines kann ich mich aber noch gut erinnern. Schon im Gehen wies meine Mutter meine künftige Klassenlehrerin nicht ohne Stolz darauf hin, dass ich bereits lesen könne. Gleich am zweiten Schultag brachte die Lehrerin ein Märchenbuch mit und fragte mich mit einem zuckersüßen Lächeln, ob ich nicht der Klasse etwas vorlesen möchte. Aufgeregt war ich schon etwas, als mich die anderen Kinder anstarrten. Aber ich konnte ja lesen. Deshalb nahm ich das Buch und las die aufgeschlagene Seite laut vor – und seither war ich der Musterschüler in der Klasse.
Das Lernen fiel mir leicht. Ich merkte mir alles bereits während der Unterrichtsstunden. Wo Übung erforderlich war, reichte es, einfach die Hausaufgaben zu machen. So hatte ich viel Zeit, die ich aber nicht dazu nutzte, mit Gleichaltrigen zu spielen. Ich unterhielt mich lieber mit den Erwachsenen oder suchte mir etwas zum Lesen oder Basteln. Im Zeugnis der letzten Volksschulklasse hatte ich fast lauter Einser, außer im Turnen. Ich galt als begabt und durfte daher die Mittelschule besuchen. Die damals noch obligate Aufnahmsprüfung bestand ich ohne Probleme. In der ersten Klasse schaffte ich es wieder ohne viel Arbeitsaufwand, der Klassenbeste zu sein. Allein diesem Umstand verdankte ich es, zum Klassensprecher gewählt zu werden. Alle meinten, dass sich der Liebling der Lehrer wohl auch am besten dafür eigne. Niemand dachte damals an die Vertretung von Schülerinteressen. Der Klassensprecher wurde hauptsächlich dafür eingesetzt, Arbeiten für die Lehrer zu übernehmen, wie das Einsammeln von Hausübungsheften oder der Entschuldigungen für das Fernbleiben vom Unterricht.
Manche Lehrer mussten, aus welchem Grund auch immer, öfter die Klasse während des Unterrichts verlassen. Die Schüler durften sich nicht vom Platz bewegen und auch nicht miteinander reden. Aber wer sollte das überwachen, wenn kein Lehrer in der Klasse war? Nichts einfacher als das. Es wurde eben ein vertrauenswürdiger Schüler als Aufpasser eingesetzt. Der musste unfolgsame Schüler ermahnen und sie nachher dem Lehrer melden, damit sie eine Strafe erhielten. Wen hatten die Lehrer für diese Aufgabe ausgesucht? Natürlich einen Musterschüler, der, wie ich, auch oft Klassensprecher war. So musste ich häufig am Lehrertisch auf dem Podium Platz nehmen und die anderen Schüler mit Argusaugen und den Ohren eines Wildtiers beobachten und jeden aufschreiben, der aufstand oder schwätzte.
Ich brachte es als Aufpasser zu einer gewissen Perfektion. Wenn jemand nur den kleinsten Mucks machte, schrieb ich seinen Namen auf und dass er schwätzte, mit einem Strich daneben. Wenn er daraufhin protestierte, setzte ich einen zweiten Strich dazu. Stand er sogar auf, notierte ich: aufgestanden. Es gab natürlich immer Freunde, die dem Beschuldigten helfen wollten und sich lautstark einmischten. Schon hatte ich sie aufgeschrieben. Ich entwickelte den Ehrgeiz, dem Lehrer eine Liste mit möglichst vielen Namen und Vergehen zu überreichen. Ich ging davon aus, dass schlechte Schüler, was deren Leistung betraf, automatisch auch schlimm sein müssten. Die hatte ich jedes Mal auf meiner Liste. Sie erhielten dann auch oft eine Strafe vom Lehrer aufgebrummt. Ich hatte bald entdeckt, dass ich auf diese Weise fast jedem, den ich nicht mochte, Schwierigkeiten bereiten konnte.
Eines Tages kam mitten im Trimester der Direktor mit dem Klassenvorstand in die Stunde und brachte einen neuen Schüler mit. Er hieß Wysowsky. Seinen Vornamen habe ich nicht behalten oder nie erfahren. Mit wenigen Ausnahmen sprachen wir uns auch in der Klasse stets nur mit unseren Nachnamen an. Es war ein dicker, unsportlicher Typ, mit rotfleckigem Gesicht und blonden Haaren. Er war mir von Anfang an unsympathisch. Der Klassenvorstand setzte ihn auf den einzigen freien Platz neben einen Schüler, neben dem sonst niemand sitzen wollte.
Gleich bei meiner ersten Aufsicht begann sich der Nachbar mit dem Neuen zu unterhalten.
‚Wysowsky tratscht mit Baierl’, notierte ich.
Dann holte sich der Neue ein Taschentuch aus seiner Jacke.
‚Wysowsky steht auf und geht in der Klasse herum.’
Ich warf ihm einen drohenden Blick zu.
‚Wysowsky grinst blöd.’
Jetzt griff er zu seinem Nachbarn hinüber, weil der ihn kitzeln wollte.
‚Wysowsky rauft mit Baierl.’
Beim Tratschen, Raufen und Grinsen fanden sich am Ende noch mehrere Striche.
‚Der Wysowsky muss wieder weg’, dachte ich. ‚Der ist so schlimm. Wahrscheinlich ist er zu uns gekommen, weil sie ihn in der anderen Schule hinausgeworfen haben.’
Während der nächsten Wochen stand Wysowsky immer zuoberst auf meiner Liste.
Zu Beginn des nächsten Trimesters saß er nicht mehr in der Klasse.
Heute denke ich oft daran, was wohl aus Wysowsky geworden ist. Ist er in eine Klasse gekommen, in der kein Musterschüler Klassensprecher war? Hat er bis zur Matura durchgehalten? Was ist er von Beruf geworden? Oder hat er sich vorher umgebracht? Ich weiß es nicht und könnte es auch nicht mehr ändern. Ich bin aus der Kirche ausgetreten. Eigentlich schade. Ich würde ganz gerne einmal beichten gehen.
[ 4]Der Musterschüler
Waren sie ein Musterschüler, der Liebling der Lehrer, der Klassenbeste? Ich war einer – leider.
Schuld an allem war meine Mutter. Ich war ein sehr interessiertes Kind und hatte viele Fragen gestellt. Was ich nicht konnte, wollte ich unbedingt lernen. Ich ging häufig an der Hand meiner Mutter durch die Stadt. Ein eigenes Fahrzeug besaß damals noch kaum jemand. Wege, die nicht allzu weit waren, wurden zu Fuß erledigt. Bei jeder Plakatwand blieb ich stehen und ließ mir den Text vorlesen. Auf diese Weise lernte ich lesen, schon lange vor meinem Schuleintritt.
Im Alter von sechs Jahren musste ich meine Mutter zur Einschreibung in die Volksschule begleiten. Welche Tests die Direktorin und die Klassenlehrerin mit mir durchführten, um meine Schulreife festzustellen, weiß ich nicht mehr. An eines kann ich mich aber noch gut erinnern. Schon im Gehen wies meine Mutter meine künftige Klassenlehrerin nicht ohne Stolz darauf hin, dass ich bereits lesen könne. Gleich am zweiten Schultag brachte die Lehrerin ein Märchenbuch mit und fragte mich mit einem zuckersüßen Lächeln, ob ich nicht der Klasse etwas vorlesen möchte. Aufgeregt war ich schon etwas, als mich die anderen Kinder anstarrten. Aber ich konnte ja lesen. Deshalb nahm ich das Buch und las die aufgeschlagene Seite laut vor – und seither war ich der Musterschüler in der Klasse.
Das Lernen fiel mir leicht. Ich merkte mir alles bereits während der Unterrichtsstunden. Wo Übung erforderlich war, reichte es, einfach die Hausaufgaben zu machen. So hatte ich viel Zeit, die ich aber nicht dazu nutzte, mit Gleichaltrigen zu spielen. Ich unterhielt mich lieber mit den Erwachsenen oder suchte mir etwas zum Lesen oder Basteln. Im Zeugnis der letzten Volksschulklasse hatte ich fast lauter Einser, außer im Turnen. Ich galt als begabt und durfte daher die Mittelschule besuchen. Die damals noch obligate Aufnahmsprüfung bestand ich ohne Probleme. In der ersten Klasse schaffte ich es wieder ohne viel Arbeitsaufwand, der Klassenbeste zu sein. Allein diesem Umstand verdankte ich es, zum Klassensprecher gewählt zu werden. Alle meinten, dass sich der Liebling der Lehrer wohl auch am besten dafür eigne. Niemand dachte damals an die Vertretung von Schülerinteressen. Der Klassensprecher wurde hauptsächlich dafür eingesetzt, Arbeiten für die Lehrer zu übernehmen, wie das Einsammeln von Hausübungsheften oder der Entschuldigungen für das Fernbleiben vom Unterricht.
Manche Lehrer mussten, aus welchem Grund auch immer, öfter die Klasse während des Unterrichts verlassen. Die Schüler durften sich nicht vom Platz bewegen und auch nicht miteinander reden. Aber wer sollte das überwachen, wenn kein Lehrer in der Klasse war? Nichts einfacher als das. Es wurde eben ein vertrauenswürdiger Schüler als Aufpasser eingesetzt. Der musste unfolgsame Schüler ermahnen und sie nachher dem Lehrer melden, damit sie eine Strafe erhielten. Wen hatten die Lehrer für diese Aufgabe ausgesucht? Natürlich einen Musterschüler, der, wie ich, auch oft Klassensprecher war. So musste ich häufig am Lehrertisch auf dem Podium Platz nehmen und die anderen Schüler mit Argusaugen und den Ohren eines Wildtiers beobachten und jeden aufschreiben, der aufstand oder schwätzte.
Ich brachte es als Aufpasser zu einer gewissen Perfektion. Wenn jemand nur den kleinsten Mucks machte, schrieb ich seinen Namen auf und dass er schwätzte, mit einem Strich daneben. Wenn er daraufhin protestierte, setzte ich einen zweiten Strich dazu. Stand er sogar auf, notierte ich: aufgestanden. Es gab natürlich immer Freunde, die dem Beschuldigten helfen wollten und sich lautstark einmischten. Schon hatte ich sie aufgeschrieben. Ich entwickelte den Ehrgeiz, dem Lehrer eine Liste mit möglichst vielen Namen und Vergehen zu überreichen. Ich ging davon aus, dass schlechte Schüler, was deren Leistung betraf, automatisch auch schlimm sein müssten. Die hatte ich jedes Mal auf meiner Liste. Sie erhielten dann auch oft eine Strafe vom Lehrer aufgebrummt. Ich hatte bald entdeckt, dass ich auf diese Weise fast jedem, den ich nicht mochte, Schwierigkeiten bereiten konnte.
Eines Tages kam mitten im Trimester der Direktor mit dem Klassenvorstand in die Stunde und brachte einen neuen Schüler mit. Er hieß Wysowsky. Seinen Vornamen habe ich nicht behalten oder nie erfahren. Mit wenigen Ausnahmen sprachen wir uns auch in der Klasse stets nur mit unseren Nachnamen an. Es war ein dicker, unsportlicher Typ, mit rotfleckigem Gesicht und blonden Haaren. Er war mir von Anfang an unsympathisch. Der Klassenvorstand setzte ihn auf den einzigen freien Platz neben einen Schüler, neben dem sonst niemand sitzen wollte.
Gleich bei meiner ersten Aufsicht begann sich der Nachbar mit dem Neuen zu unterhalten.
‚Wysowsky tratscht mit Baierl’, notierte ich.
Dann holte sich der Neue ein Taschentuch aus seiner Jacke.
‚Wysowsky steht auf und geht in der Klasse herum.’
Ich warf ihm einen drohenden Blick zu.
‚Wysowsky grinst blöd.’
Jetzt griff er zu seinem Nachbarn hinüber, weil der ihn kitzeln wollte.
‚Wysowsky rauft mit Baierl.’
Beim Tratschen, Raufen und Grinsen fanden sich am Ende noch mehrere Striche.
‚Der Wysowsky muss wieder weg’, dachte ich. ‚Der ist so schlimm. Wahrscheinlich ist er zu uns gekommen, weil sie ihn in der anderen Schule hinausgeworfen haben.’
Während der nächsten Wochen stand Wysowsky immer zuoberst auf meiner Liste.
Zu Beginn des nächsten Trimesters saß er nicht mehr in der Klasse.
Heute denke ich oft daran, was wohl aus Wysowsky geworden ist. Ist er in eine Klasse gekommen, in der kein Musterschüler Klassensprecher war? Hat er bis zur Matura durchgehalten? Was ist er von Beruf geworden? Oder hat er sich vorher umgebracht? Ich weiß es nicht und könnte es auch nicht mehr ändern. Ich bin aus der Kirche ausgetreten. Eigentlich schade. Ich würde ganz gerne einmal beichten gehen.