Trotz seiner 60 Jahre führte Dr. Wilhelm seine Praxis mit der gleichen Sorgfalt und Begeisterung für seine Patienten wie in den ersten Tagen. Er war Land-, Haus- und Naturarzt, Psychologe und Lebensberater in einer Person. Die eine Hälfte der Bevölkerung in dem 5000 Einwohner kleinen Städtchen, die seine Patienten waren, duzte er in der Praxis, die andere im einzig noch verbliebenen Wirtshaus. Das verschaffte ihm einen besonderen Zugang zu den Menschen. Sie vertrauten ihm blind, auch wenn er einmal vom Pfad der Schulmedizin abwich und gegen ihren Widerstand Mittel aus der Natur und ohne Chemie verschrieb. In solchen Fällen verordnete er Quarkwickel, Kompressen mit Blättern des Beinwell, oder, etwa bei Magenverstimmungen, ein paar Tropfen einer Mädesüß-Tinktur.
Das Pünktchen auf dem i der Wertschätzung aber war sein Humor, den jeder seiner Patienten in jedem Raum seiner kleinen Praxis wie Frischluft einatmen konnte. In vielen Fällen brach eine Aufheiterung durch ein Witzchen oder Kommentar auch den hartnäckigsten Bann – etwa die Furcht vor Verschlimmerung eines Leidens, die Hoffnungslosigkeit in den schlimmen Fällen oder, wie bei Lotti, die Scham. An einem Donnerstagabend, in der verlängerten Öffnungszeit für die Berufstätigen, empfing er die junge Frau als letzte Patientin.
Lotti war 22 Jahre alt, bildhübsch und großgewachsen und hatte erst letztes Jahr Abitur gemacht. Da es ihr ein dringendes Anliegen war, die Strenge des Elternhauses schnellstmöglich zu verlassen, begann sie, fünfzig Kilometer von zu Hause entfernt zu studieren. Eines Tages aber ließ sie alle Vorlesungen hinter sich und suchte einen Arzt auf, nicht irgendeinen, sondern die Praxis von Dr. Wilhelm in ihrem Heimatort.
„Tag, Lotti“, begrüßte Dr. Wilhelm sie mit seiner sympathischen tiefen Stimme. „Bist lange nicht mehr vorbeigekommen. Du siehst richtig gesund aus: rote Backen, ein charmantes Lächeln und ein Gang voller Schwung, aber nicht ganz glückliche Augen. Was ist los?“
„Eigentlich fühle ich mich ganz gut, nur morgens, da ist mir hundeelend.“
„Geht das schon länger?“
„Vierzehn Tage, vielleicht ein paar mehr.“
„Da gibt es mehrere Möglichkeiten, aber eine ist die wahrscheinlichste. Bevor wir in die Tiefen der Medizin steigen, Lotti, kann es sein, dass du schwanger bist?“
Es war nicht zu übersehen, wie sie bei der Frage zusammenzuckte. Sie entspannte sich aber sofort wieder und vermied, ihm in die Augen zu sehen. „Auf gar keinen Fall! Das ist unmöglich“, kam es prompt, als wäre es ihr besonders wichtig, gerade diesen Verdacht sofort auszuräumen.
„Hmm, bist du dir da ganz sicher?“
„Sicherer geht es nicht!“ Sie griff nach ihrer Handtasche, öffnete sie und kramte ein kleines Testgerät mit einer farbigen Skala hervor. „Sehen Sie, das ist der Beweis! Eine Schwangerschaft können wir also ausschließen.“ Sie hielt ihm das Testgerät hin. Es schloss, nach den angezeigten Farben zu urteilen, eine Schwangerschaft tatsächlich aus.
Dr. Wilhelm zog die Augenbrauen hoch. „Wo hast du denn das Altertum her, Lotti? Diese Dinger sind seit 30 Jahren nicht mehr zugelassen, weil sie zu ungenau sind. Wer hat dir denn das untergejubelt?“
„Ich habe es von einer Freundin.“
Seine Augenbrauen hoben sich abermals, so dass sich ein paar Falten auf der Stirn bildeten. „Ich schätze eher, du hast es in der verstaubten Hausapotheke bei euch zu Hause entdeckt. Weißt du was? Wir gehen auf Nummer sicher und machen einen neuen Test. Der ist dann zu 100% zuverlässig, und wir wissen, woran wir sind. Einverstanden?“
Lottis hitzige Röte im Gesicht übertönte inzwischen das fröhliche Rot ihrer Wangen, und die Angst dominierte ihre Blicke. Sie senkte schamhaft wieder ihren Kopf und flüsterte kaum hörbar ein „Einverstanden“ in Richtung Fußboden.
*
„Also, Lotti“, begann Dr. Wilhelm, als er aus dem Labor kam. Er griff nach seiner Brille und beurteilte den Teststreifen. „Da gibt es jetzt nichts mehr herumzudeuten. Du bist schwanger, das ist Fakt.“
Lotti ließ schlagartig den Kopf hängen. „Das kann nicht sein, Doktor. Mein Test gegen Ihren, und außerdem habe ich in letzter Zeit mit niemandem geschlafen.“
„Lotti, komm, jetzt lass mal die Kirche im Dorf. Du weißt genau, was Sache ist.“ Er machte eine kleine Pause. „Willst du mir verraten, wer der Vater ist?“
„Es gibt keinen Vater, weil ich mit keinem Mann geschlafen habe. Gibt es nicht andere Ursachen für diese Übelkeit jeden Morgen?“ Sie war den Tränen nahe und starrte hilflos mit zusammengepressten Lippen auf den Fußboden.
„Jetzt mal Butter bei …“
Sie schnitt ihm das Wort ab. „Ich sagte, es gibt niemanden, mit dem ich etwas hatte!“
Dr. Wilhelm war mittlerweile klar, dass es wenig sinnvoll war, das Gespräch in dieser Weise fortzuführen. Er schwenkte um und versuchte, ihr zu vermitteln, dass ein Kind zu bekommen und aufzuziehen, das Schönste auf der Welt sei. Er erzählte überschwänglich und in ganz vorsichtigen Worten von Muttergefühlen, dem eigenen Fleisch und Blut und der natürlichen Pflicht, Nachkommen in die Welt zu setzen. Aber er stieß auf unvermindert taube Ohren.
„Ich sage es nochmal.“ Sie richtete sich auf und erwiderte resolut: „Ich kann Ihnen den Namen nicht nennen, weil ich mit keinem Mann zusammen war.“
Dr. Wilhelm wusste im Moment nicht mehr weiter. Und da versuchte er es mit seiner lockeren, humorigen Art. Er stand auf, ging zum Fenster, öffnete es trotz der klirrenden Kälte draußen und blickte in den rappelfinsteren Winterhimmel. Seine Augen wanderten von einem Ende des Himmelsgewölbes zum anderen. Immer wieder, hin und her, bis es Lotti, schon leicht fröstelnd, zu bunt wurde.
„Was suchen Sie denn da draußen, Doktor?“, fragte sie mit einem Hauch von Ungeduld.
„Ich warte auf den Stern“, verkündete er gelassen.
„Stern? Was für ein Stern?“ Lotti verstand jetzt überhaupt nichts mehr.
„Das letzte Mal, dass er zu sehen war, war vor 2000 Jahren. Jetzt kommt er wieder.“
Lotti schluckte, grinste und brachte das Eis endlich zum Brechen.
Disclaimer: Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken. Habe die Pointe irgendwo aufgeschnappt, weiß nur nicht mehr wann und wo.
Das Pünktchen auf dem i der Wertschätzung aber war sein Humor, den jeder seiner Patienten in jedem Raum seiner kleinen Praxis wie Frischluft einatmen konnte. In vielen Fällen brach eine Aufheiterung durch ein Witzchen oder Kommentar auch den hartnäckigsten Bann – etwa die Furcht vor Verschlimmerung eines Leidens, die Hoffnungslosigkeit in den schlimmen Fällen oder, wie bei Lotti, die Scham. An einem Donnerstagabend, in der verlängerten Öffnungszeit für die Berufstätigen, empfing er die junge Frau als letzte Patientin.
Lotti war 22 Jahre alt, bildhübsch und großgewachsen und hatte erst letztes Jahr Abitur gemacht. Da es ihr ein dringendes Anliegen war, die Strenge des Elternhauses schnellstmöglich zu verlassen, begann sie, fünfzig Kilometer von zu Hause entfernt zu studieren. Eines Tages aber ließ sie alle Vorlesungen hinter sich und suchte einen Arzt auf, nicht irgendeinen, sondern die Praxis von Dr. Wilhelm in ihrem Heimatort.
„Tag, Lotti“, begrüßte Dr. Wilhelm sie mit seiner sympathischen tiefen Stimme. „Bist lange nicht mehr vorbeigekommen. Du siehst richtig gesund aus: rote Backen, ein charmantes Lächeln und ein Gang voller Schwung, aber nicht ganz glückliche Augen. Was ist los?“
„Eigentlich fühle ich mich ganz gut, nur morgens, da ist mir hundeelend.“
„Geht das schon länger?“
„Vierzehn Tage, vielleicht ein paar mehr.“
„Da gibt es mehrere Möglichkeiten, aber eine ist die wahrscheinlichste. Bevor wir in die Tiefen der Medizin steigen, Lotti, kann es sein, dass du schwanger bist?“
Es war nicht zu übersehen, wie sie bei der Frage zusammenzuckte. Sie entspannte sich aber sofort wieder und vermied, ihm in die Augen zu sehen. „Auf gar keinen Fall! Das ist unmöglich“, kam es prompt, als wäre es ihr besonders wichtig, gerade diesen Verdacht sofort auszuräumen.
„Hmm, bist du dir da ganz sicher?“
„Sicherer geht es nicht!“ Sie griff nach ihrer Handtasche, öffnete sie und kramte ein kleines Testgerät mit einer farbigen Skala hervor. „Sehen Sie, das ist der Beweis! Eine Schwangerschaft können wir also ausschließen.“ Sie hielt ihm das Testgerät hin. Es schloss, nach den angezeigten Farben zu urteilen, eine Schwangerschaft tatsächlich aus.
Dr. Wilhelm zog die Augenbrauen hoch. „Wo hast du denn das Altertum her, Lotti? Diese Dinger sind seit 30 Jahren nicht mehr zugelassen, weil sie zu ungenau sind. Wer hat dir denn das untergejubelt?“
„Ich habe es von einer Freundin.“
Seine Augenbrauen hoben sich abermals, so dass sich ein paar Falten auf der Stirn bildeten. „Ich schätze eher, du hast es in der verstaubten Hausapotheke bei euch zu Hause entdeckt. Weißt du was? Wir gehen auf Nummer sicher und machen einen neuen Test. Der ist dann zu 100% zuverlässig, und wir wissen, woran wir sind. Einverstanden?“
Lottis hitzige Röte im Gesicht übertönte inzwischen das fröhliche Rot ihrer Wangen, und die Angst dominierte ihre Blicke. Sie senkte schamhaft wieder ihren Kopf und flüsterte kaum hörbar ein „Einverstanden“ in Richtung Fußboden.
*
„Also, Lotti“, begann Dr. Wilhelm, als er aus dem Labor kam. Er griff nach seiner Brille und beurteilte den Teststreifen. „Da gibt es jetzt nichts mehr herumzudeuten. Du bist schwanger, das ist Fakt.“
Lotti ließ schlagartig den Kopf hängen. „Das kann nicht sein, Doktor. Mein Test gegen Ihren, und außerdem habe ich in letzter Zeit mit niemandem geschlafen.“
„Lotti, komm, jetzt lass mal die Kirche im Dorf. Du weißt genau, was Sache ist.“ Er machte eine kleine Pause. „Willst du mir verraten, wer der Vater ist?“
„Es gibt keinen Vater, weil ich mit keinem Mann geschlafen habe. Gibt es nicht andere Ursachen für diese Übelkeit jeden Morgen?“ Sie war den Tränen nahe und starrte hilflos mit zusammengepressten Lippen auf den Fußboden.
„Jetzt mal Butter bei …“
Sie schnitt ihm das Wort ab. „Ich sagte, es gibt niemanden, mit dem ich etwas hatte!“
Dr. Wilhelm war mittlerweile klar, dass es wenig sinnvoll war, das Gespräch in dieser Weise fortzuführen. Er schwenkte um und versuchte, ihr zu vermitteln, dass ein Kind zu bekommen und aufzuziehen, das Schönste auf der Welt sei. Er erzählte überschwänglich und in ganz vorsichtigen Worten von Muttergefühlen, dem eigenen Fleisch und Blut und der natürlichen Pflicht, Nachkommen in die Welt zu setzen. Aber er stieß auf unvermindert taube Ohren.
„Ich sage es nochmal.“ Sie richtete sich auf und erwiderte resolut: „Ich kann Ihnen den Namen nicht nennen, weil ich mit keinem Mann zusammen war.“
Dr. Wilhelm wusste im Moment nicht mehr weiter. Und da versuchte er es mit seiner lockeren, humorigen Art. Er stand auf, ging zum Fenster, öffnete es trotz der klirrenden Kälte draußen und blickte in den rappelfinsteren Winterhimmel. Seine Augen wanderten von einem Ende des Himmelsgewölbes zum anderen. Immer wieder, hin und her, bis es Lotti, schon leicht fröstelnd, zu bunt wurde.
„Was suchen Sie denn da draußen, Doktor?“, fragte sie mit einem Hauch von Ungeduld.
„Ich warte auf den Stern“, verkündete er gelassen.
„Stern? Was für ein Stern?“ Lotti verstand jetzt überhaupt nichts mehr.
„Das letzte Mal, dass er zu sehen war, war vor 2000 Jahren. Jetzt kommt er wieder.“
Lotti schluckte, grinste und brachte das Eis endlich zum Brechen.
Disclaimer: Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken. Habe die Pointe irgendwo aufgeschnappt, weiß nur nicht mehr wann und wo.