Der stille Tod

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Charybdis

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Eine überaus berührende Kurzgeschichte, die uns trefflich mitnimmt in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs, und ich kann sie nur loben!

Ein paar Anmerkungen zum "Drumherum", was nicht als Kritik, sondern als Ergänzung zum sperrigen Thema des Gaskriegs und auch zur Person Fritz Haber gedacht ist:

Der geschilderte Angriff ist die erste dokumentierte Attacke mit tödlichem Giftgas im Ersten Weltkrieg, allerdings nicht der erste Gasangriff an sich. Schon im August 1914 beschossen französische Truppen die deutschen Gegner mit Tränengas. Auch wenn die strategischen Erfolge dieser ersten Einsätze eher marginal waren, sahen die kriegsführenden Nationen dennoch ein hohes militärisches Potential in der Gaswaffe, und ein entsetzliches Wettrennen entstand.

Zunächst wurden in der Folge Reizgase gegen die jeweiligen Gegner eingesetzt, und den Deutschen gebührt schließlich die - zweifelhafte - "Ehre", den ersten Angriff mit Gas zum Zweck des Tötens durchgeführt zu haben.

Fritz Haber ist eine in der Geschichte höchst zwiespältig zu sehende Persönlichkeit. Unzweifelhaft war er ein begnadeter Forscher. Unzweifelhaft gehörte er auch zu denjenigen Wissenschaftlern, die eine wirtschaftliche Umsetzung ihrer Forschungsarbeit förderten und durchsetzten. Prägend in Erinnerung bleibt für die nachfolgenden Generationen eben Habers Engagement in der Entwicklung der Giftgaswaffe, ein Engagement, zu dem er sich als "Deutscher Patriot", als der er sich empfand, geradezu verpflichtet fühlte.

Es gibt jedoch auch gleich zwei andere Seiten Fritz Habers. Zunächst ist da die Geschichte mit dem Nobelpreis von 1918, verliehen im Jahr 1919. Die Kriegsgegner Deutschlands waren empört über diese Entscheidung, da Haber eben der Vater des deutschen Giftgaskriegs war. Den Nobelpreis allerdings erhielt er für seine Entwicklung der industriellen Ammoniaksynthese. Und damit ist der Vater des Giftgaskriegs gleichzeitig auch einer der Väter des Kunstdüngers und damit einer der Väter, endlich in vielen Regionen der Welt durch diesen Kunstdünger den Hunger und die Not erfolgreich bekämpfen zu können (wie wir wissen, hat das bis heute allerdings keineswegs zu einer vollständigen Verdrängung des Ernährungsproblems geführt, nur ist heutzutage kaum noch jemandem bewusst, wie schwierig es vor dem Haber-Bosch-Verfahren war, ausreichend Dünger selbst in den Industrienationen herzustellen (hierzu brauchte man natürlichen Salpeter in unglaublichen Mengen)).

Die dritte Seite Habers ist die Seite seines persönlichen Schicksals. Seine Frau Clara Immerwahr, selbst eine hochtalentierte und sensible promovierte Chemikerin, nahm sich kurz nach dem Giftgasangriff von Ypern das Leben - sehr wahrscheinlich aus Verzweiflung über die tödliche Arbeit ihres Mannes. Sein Sohn aus dieser Ehe beging 1946 ebenfalls Suizid. Haber selbst erlebte dies nicht mehr, da er bereits 1934 in der Schweiz verstarb. Haber war jüdischer Abstammung und nun im Deutschland des Nationalsozialismus nicht mehr gelitten. Chaim Weizmann, der spätere erste Präsident Israels und übrigens Chemiker von Beruf, hatte Haber nach Palästina eingeladen, nur erreichte der Wissenschaftler sein Ziel nicht mehr.

In Haber vereinen sich also gleich mehrere Seiten: Patriotismus bis hin zur kompromisslosen Vernichtung des Feindes, dann aber auch die Damnatio Memoriae seiner Person durch die Nationalsozialisten (die seinen Namen aus dem Haber-Bosch-Verfahren tilgten), sein Familienschicksal, zu dem er selbst, zumindest was seine Frau betrifft, beigetragen hat, und eben sein Engagement zur Bekämpfung des Hungers auf dieser Welt.

Ein beeindruckender Mann, in jeder Hinsicht. Und leider, wie viele beeindruckende Männer, keineswegs mit einer weißen, sondern eben mit einer ziemlich schmutzigen Weste. Haber ist mehr als Giftgas, nur ist er damit untrennbar verbunden.
 

Blumenberg

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Lieber Charybdis,

zunächst einmal freue ich mich, dass dir der Text gefallen hat und dich zu so vielen interessanten Anmerkungen angeregt hat.
Ein so kurzer Text erlaubt es immer nur einen kleinen Ausschnitt an Wirklichkeit zu zeigen, dessen Offenheit aber zum weiteren nachdenken anregen kann und auch soll.
Du hast absolut Recht, wenn du anmerkst, dass die Deutschen den Gaskrieg nicht als erste begonnen haben. "
"Den Deutschen gebührt schließlich die - zweifelhafte - "Ehre", den ersten Angriff mit Gas zum Zweck des Tötens durchgeführt zu haben."
Dabei würde ich noch ergänzen, dass mit dem Großeinsatz von Giftgas zum Zweck des Tötens eine neue Eskalationsstufe erreicht worden ist. Und zwar eine die ich für ethisch noch bedenklicher halte, da eigentlich klar sein musste, dass diese Form der Kriegsführung im Erfolgsfall auch von den Gegnern adaptiert werden würde.
Vielen Dank für die ausführlichen und genauen Anmerkungen zu Fritz Haber, bei der du die Zwiespältigkeit seiner Person wunderbar herausarbeitest. Diese war es auch, die mich veranlasst hat, seinen Namen als einzigen in die Geschichte aufzunehmen, mit dem Ziel zu versuchen dadurch beim Leser eine gewisse Neugier zu Auseinandersetzung mit ihm zu wecken.

Ich freue mich schon deine Nachbargesichte zu lesen, was aber, ich habe schon einen ersten Blick darauf geworfen, bei ihrer Länge etwas mehr als eine ruhige Minute auf der Arbeit erfordert um den Text nicht nur zu überfliegen.

Beste Grüße und noch einmal vielen Dank für die kompetenten Anmerkungen!

Blumenberg
 

jon

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Teammitglied
So, und jetzt noch der Meckerkopp:

Ich hab den kurzen Text schnell runtergelesen, er ist recht rund und erfüllt die wichtigsten Forderungen nach Lesbarkeit, Fehlerfreiheit und Verständlichkeit sehr gut. Ich bin nicht gestolpert.

Außer über die Wiederholung von der „stille Tod“ - das hört sich gewollt an. Es ist ganz sicher auch gewollt, soll das Schlüsselwort, der rote Faden im Text sein, insofern ist man als Leser sicher schnell bereit, das zu akzeptieren. Schöner finde ich aber, wenn solche Dinge sich wie „im Text gewachsen“ anfühlen und man nicht sofort den (kleinen) Zaunspfahl erkennt, den der Autor zu schwingen beabsichtigt.

In dem Fall kommt ja noch dazu, dass „stiller Tod“ eine den tatsächlichen Qualen entgegengesetzte Stimmung einer gewissen Friedlichkeit suggeriert, es klingt, als gleite man sanft „hinüber“.
[ 3]Nun mag es sehr gut sein, dass der Ich-Erzähler das Sterben nicht gehört hat – die Entfernung, die dämpfende Wirkung des Nebels, die Tatsache, dass mit sich ausflösenden Lungen Schreie eher unwahrscheinlich werden. ABER: Die suggerierte Stimmung wird auch nicht aufgehoben: Nur zwei Formulierungen („Todeskampf“ und „verdrehte Leiber“), die durch ihre Nähe zueinander auch gut und gern als nur eine Phrase aufgefasst werden können, sollen das Ungeheuerliche tragen. Das schaffen sie nicht.
[ 3]Sie schaffen es auch deshalb nicht, weil der gesamte Text sehr friedlich vor sich hinfließt. In einem Kommentar steht, die Diskrepanz zwischen diesem Klang und dem tatsächlichen Geschehen sei Absicht. Und diese Idee gefällt mir auch, sogar recht gut. Aber es reicht nicht, die eine Seite dieser Diskrepanz allein aus dem erlernten Wissen des Lesers („Krieg ist schlimm, dieser Giftkrieg war es in besonderem Maße") speisen zu wollen. Auch wenn Wirkung von Text natürlich immer auch vom Leser anhängt - der Text sollte (ja darf) sich nicht allein darauf verlassen, dass er auf den passend geschulten Leser trifft. Und er muss einen Kristallisationspunkt für diese Leser-Reaktion bieten. In diesem Fall einen Bruch, in dem - und sei es nur kurz - spürbar wird, dass eben nicht alles friedlich fließt.
[ 3]Spüren kann man ehesten Rhythmen und Sound: In den „Erkenntnismomenten“ sollte also das Fließen unterbrochen werden. Interessanterweise nutzt du, lieber Blumberg, dieses Mittel schon, nämlich am „Erkenntnispunkt gelbe Wolke“. Bis dahin war alles vage, hier erkennt der Erzähler, was los ist bzw. dass es wirklich losgeht. Zwei kurze Sätze markieren diesen Moment. (Leider dehnst du das nicht auf die Empfindung des Erzählers aus, es bleibt bei der Bildbeschreibung – das Beeindruckende erschöpft sich in „riesig“.) So einen (Schreck-)Moment sollte er auch haben, als er plötzlich vor den feindlichen Gräben steht, oder? Diesen Moment zerdehnst du aber zu einem langen Satz („Dann plötzlich taucht unvermittelt der erste feindliche Graben aus dem gelben Dunst auf.“). Und dann der Anblick der Toten – statt des weich klingenden Satzes mit dem sehr hohen Abstraktionsgrad („Ich blicke mich um, aber alles, was ich sehe, ist der Tod.“) wäre ein schlagartiges Begreifen der Realität sicher effektvoller. („Ich blicke um mich. Da liegen sie. Verrenkte Leiber mit zu Grimassen erstarrten Gesichtern. Als dauere ihr Todeskampf noch immer an. Dutzendfach. Hundertfach. So weit das Auge reicht. // Vielleicht dachten sie …“)

… das war jetzt viel Gerede, man könnte fast denken, ich fände den Text schlecht. Tue ich nicht, er ist nur noch nicht perfekt. Aber wer oder was ist das schon. ;)


Ein Detail gab es noch, über das ich gestolpert bin:
Sie bedeckt bereits den ganzen Horizont, aber noch immer strömt neuer Rauch aus den Druckbehältern. Nach nicht einmal zehn Minuten sind die Behälter leer, haben den stillen Tod ausgespien.
Hier klingt die berichtende Absicht zu sehr durch. Wenn der Ich-Erzähler die Wolke beobachtet, dann sind die Gasbehälter nicht in seinem Fokus – ich bezweifle, dass er das so denkt. Was ich für noch unwahrscheinlicher halte, ist, dass er denkt, dass die Behälter leer sind - das weiß er gar nicht, sie könnten auch zugedreht worden sein. Was er von dieser Sache tatsächlich wahrnimmt, ist das Wachsen der Wolke und dass es aufhört. Nur falls er - was im Text nicht steht - einen Blick zur Seite macht und die Jungs an/mit den Gasflaschen sieht (oder falls er das Gas ausströmen hört), wäre dieser Gedankengang harmonisch. Diese Passage scheint mir vor allem dafür geschrieben worden zu sein, den Begriff „stiller Tod“ bringen zu können - an dieser Stelle fand ich ihn dann auch extrem aufgesetzt.

PS: Ist es Rauch (winzige feste Partikel), der ausströmt? Ich habe nur ganz schnell mal gegoogelt, bekomme aber nur „ChlorGAS“ als Ergebnis. Meine arg zerrütteten Chemiekenntnisse lassen mich noch vermuten, dass sich vielleicht auch Nebel gebildet haben könnten …

Mehr Detailkram will ich mal nicht rauspuhlen, das kann man immer noch machen.
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Jon,

zunächst einmal vielen Dank für die ausführliche und ausgesprochen hilfreiche Besprechung meines Textes. Dass dieser nur einmal schnell gelesen wurde, mag ich aber bei der ausführlichen Besprechung nicht so recht glauben.
Du hast sicherlich recht, wenn du anmerkst, dass mein Text die Diskrepanz zur erwarteten Lautstärke an der Front bewusst unterstreicht und überdeutlich hervorhebt. Hier habe ich mir ein wenig künstlerische Freiheit genommen um diesen Aspekt noch weiter zuzuspitzen.
Ich würde dir aber widersprechen, was die Betonung lediglich einer Seite angeht und damit das nötige Vorwissen des Lesers angeht. Du schreibst:
Auch wenn Wirkung von Text natürlich immer auch vom Leser anhängt - der Text sollte (ja darf) sich nicht allein darauf verlassen, dass er auf den passend geschulten Leser trifft.
Ich glaube nicht, dass der Leser hier sonderlich geschult sein muss, da es mir nicht so sehr darum geht an vorhandenes Wissen über den ersten Weltkrieg, oder speziell um den Gaskrieg anzuknüpfen. Vielmehr geht, denke ich, jeder Leser an einen Text über den Krieg mit der Erwartung einer gewissen Lautstärke des Geschehens, seien es Schüsse, Schreie, die dumpfen Einschläge der Geschütze, heran. Dazu wollte ich einen bewussten Kontrast schaffen, auch indem ich die ungewöhnliche Stille bewusst überzeichnet habe. Auch weil der Protagonist als fronterfahren die normalen Abläufe eines Angriffs kennt und er daher den Kontrast zum normalen Ablauf als besonders einschneidend empfindet.
Deine zweite Anmerkung über das Wissen meines Protagonisten finde ich überlegenswert. Ich wollte hier an das Gespräch anknüpfen, was dieser ein paar Tagen zuvor mit den Herren vom Gaskorps geführt hat und aus dem er die genauen Abläufe des Einsatzes kennt. Ich werde mal überlegen, ob ich da noch etwas umstelle um das deutlicher zu machen.
Mit dem Rauch hast du übrigens Recht, dass wird geändert. So viel Detailtreue muss ja schließlich sein :) Was die Perfektion angeht, ich glaube so etwas gibt es nicht, es geht aber immer noch besser!

Beste Grüße

Blumenberg
 

Blumenberg

Mitglied
Ypern, 22. April 1915
Heute ist es also so weit. Schon nach dem Aufstehen hatte ich dieses ungute Gefühl, dass es ernst werden könnte. Kaum aus dem spärlichen Unterstand getreten, spürte ich den leichten Wind, der aus Nordosten durch den Graben wehte. Obwohl der Generalstab sich die größte Mühe gegeben hatte, von einer Grabendesinfektion war die Rede, blieb es nicht geheim. Konnte es auch nicht. Die Langweile in den Gräben bringt uns zum Sprechen, der Mangel bringt uns zusammen. Ich hatte auf der Suche nach einer Tasse heißen Kaffees vor ein paar Tagen davon gehört. Ein paar Jungs, denn nichts anderes waren diese kaum zwanzigjährigen ehemaligen Studenten, die beim „Desinfektionskorps“ dienten, hatten mir etwas von ihrem zu trinken angeboten und wir kamen ins Plaudern. Sie erzählten von einer neuen Offensive, einer anderen diesmal, einer, die uns den Durchbruch und damit den Sieg bringen würde. Ich hatte mich skeptisch gezeigt, denn jede Offensive bisher sollte anders sein und jede sollte den Durchbruch bringen. Mit Skepsis ist es so eine Sache, da ist der Grad zur Zersetzung der Moral der Truppe schmal, da muss man aufpassen. Aber sie hatten gelacht und mir von den Behältern erzählt, die sie in den Tagen zuvor in Stellung gebracht hatten. 40 Kilogramm schwer, Druckmechanismus zum Abblasen, randvoll mit dem stillen Tod.
Fritz Haber hatte persönlich am 11. April ihren Graben besucht und nach seiner Inspektion nur lobende Worte für seine braven Studenten gehabt, die mit ihm zusammen vom Schießplatz Wahn gekommen waren. Seit diesem Tag war alles bereit, erzählten sie mir, nur der Nordostwind fehlte noch. Ich werde schon sehen, es sei nur eine Frage von Tagen, rief mir einer noch im Hinausgehen zu. Seitdem wartete ich. Wartete auf den Nordostwind, denn der trägt uns auf sanften Schwingen zum Sieg.
Heute Morgen war er da, ich spürte ihn auf meiner Haut. Spüre ihn auch jetzt, im Graben kauernd, ein mit Chemikalien getränktes Tuch vor dem Gesicht, bereit loszustürmen, sobald die schrille Pfeife meines Zugführers mich dazu auffordert. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es beinahe so weit ist. Eine Minute vor sechs. Eine Minute, bevor es beginnen soll. Ob die armen Schweine dort drüben in Saint-Juliaan ahnen, was ihnen blüht? Wohl nicht, unsere Spähtrupps haben auf der Gegenseite nichts Auffälliges gemeldet. Wüssten sie es, hätten sie sich längst davongemacht. Noch während ich das denke, schiebt sich der Zeiger voran. Jetzt es ist es so weit. Ich sehe die Unruhe meiner Kameraden, aber noch zögere ich, den Blick über den Rand des Grabens zu heben. Die Franzosen sind ordentliche Schützen und unsere Helme mehr Zier als Schutz.
Als ich die überraschten Rufe von denen höre, die, mutiger als ich, einen Blick riskieren, siegt auch bei mir die Neugier und ich richte mich langsam auf. Dann sehe ich sie. Die gelbliche Wolke ist riesig. Sie bedeckt bereits den ganzen Horizont, aber noch immer strömt neuer Dunst aus den Druckbehältern. Nach nicht einmal zehn Minuten sind die Behälter leer, haben den stillen Tod ausgespien. Keiner von uns denkt mehr daran, nach einem kurzen Blick wieder in Deckung zu gehen. Wir sehen der gewaltigen Wolke zu, die, angetrieben vom Nordostwind, träge in Richtung der französischen Gräben walzt. Es ist beängstigend still, schweigend stehen wir dem stillen Tod Spalier.
Dann reißt uns das Pfeifen des Gruppenführers aus unserem andächtigen Schauen. „Angriff! Raus mit euch aus den Gräben!“, brüllt er und stürmt voran. Wir folgen, die Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett in Position. Aus dem schwungvollen Loslaufen wird rasch ein langsames Traben, die Wolke zwingt uns ihre Geschwindigkeit auf. Aus unseren Reihen fällt kein Schuss. Aber worauf sollten wir auch schießen, vor uns ist nur die Wolke.
Ich setze einen Fuß vor den anderen, horche gespannt, um mich beim ersten Dröhnen des feindlichen Feuers auf den Boden zu werfen. In Deckung, nur in Deckung, wenn die Hölle losbricht. Aber sie bricht nicht los, nur Schweigen erwartet uns. Schritt für Schritt nähern wir uns dem Feind. Der Weg durch das schlammige Niemandsland zwischen den Grabensystemen scheint dieses Mal einfach nicht enden zu wollen.
Dann plötzlich taucht unvermittelt der erste feindliche Graben aus dem gelben Dunst auf. Ich warte auf die feindlichen Salven, denn sie müssen nun auch uns sehen können. Doch noch immer herrscht nur diese gespenstische Ruhe. Ich packe mein Gewehr fester und beschleunige meinen Schritt. Dann sind wir heran und ich springe mit einem Kampfruf in den Graben hinab. Als ich lande, gerate ich ins Stolpern und falle. Panik macht sich in mir breit, ich weiß, ich bin wehrlos. Schnell rapple ich mich hoch, bereit, mit dem Bajonett zuzustoßen, auf den Feind, der mich hier erwartet. Die Reste des Chlorgases brennen in meinen Augen und lassen sie tränen. Ich blicke mich um, aber alles, was ich sehe, ist der Tod.
Vielleicht dachten sie, es sei Rauch, der uns vor ihren Blicken verbergen sollte. Wer von ihnen sollte schon ahnen, dass es der stille Tod ist, der über sie hinwegzieht. Der stille Tod, der ihre Lungen verätzt, so dass sie sich mit Blut füllen. Jetzt liegen ihre im Todeskampf verdrehten Leiber in den Gräben, so weit ich sehen kann. Vier Kilometer stoßen wir vor, vorbei an Toten und Sterbenden, für die es keine Rettung mehr geben kann, sondern nur noch das Ende. Vier Kilometer ohne einen einzigen Schuss.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Okay, du magst in Sachen „bei Krieg denkt man an Kriegslärm" recht haben. Das meinte ich aber auch nicht explizit (sorry, wenn es so klang). Ich meine das damit (und dem Sound) erzeugte Gefühl des Fließens, den Eindruck einer gewissen Harmlosigkeit und Normalität, ja Friedlichkeit.

Dass der Erzähler inzwischen abgestumpft ist, ist dabei eine Sache (und spiegelt sich in dieser Normalität), den Leser aber willst du ja nicht auch abstumpfen. Ihm willst du diese Diskrepanz ja vor Augen halten. Dafür sollte der Text auch Gelegenheit geben.
Abgesehen davon, dass auch so ein Soldat durchaus markante Momente erlebt - wie den Anblick dieser Toten -, die er nur noch keine Zeit hat, sich bewusst zu machen bzw. sie „zu verarbeiten“ … also abgesehen davon geht es in dem Text doch darum, zu zeigen, dass diese Stille (und das durch Gewöhnung hervorgerufene Fließen) nicht einen Deut besser als Kampflärm (und Panik) ist (sind). Das Herstellen von Bruchpunkten, an denen sich die Aufmerksamkeit konzentrieren kann, ist für diese Text-Wirkung extrem hilfreich.

Im Übrigen halte ich für sinnvoll, wenn diese Bruchpunkte inhaltlich korrelieren.
Der erste betrifft das Gas - der Anblick ist neu und es wirkt bedrohlich.
Der zweite betrifft die neue Qualität des Krieges, die durch den Gaseinsatz entsteht. So plötzlich, wie die Soldaten an dem gegnerischen Gräben stehen, so plötzlich ist der Mann-gegen-Mann-Kampf (zumindest potentiell) obsolet geworden. Krieg erscheint plötzlich einfach, weil er den Einzelnen von der psychischen Last des „den konkrten Menschen gegenüber töten“-Müssens befreit. (Potentiell jedenfalls, denn im 1. WK relativiert sich das ja dann wieder, als Gasmasken eingesetzt werden; aber später wird dieses Element ja immer weiter perfektioniert …)
Der dritte Bruchpunkt betrifft die Konsequenz: Die Bedrohung des Todes ist realer denn je - konnte man Kugeln mit Glück noch entgehen, Schusswunden noch überleben, ist das bei einem Gasangriff quasi nicht möglich. Wichtig erscheint mir in diesem Hauptbruchpunkt auch zu sein, wenigstens für einen wirksamen Moment (der nicht im Fließen gleich wegdriftet) unübersehbar zu machen, dass die Stille nur eine sensorische ist - die die Seele zum Schreien bringende Brutalität ist noch immer (eigentlich sogar stärker als vorher) da.


Die Soldaten betreten einfach so das vorher „gesäuberte“ Feindesland; der Gegner wird von fern getötet, die Mensch-zu-Mensch-Begegnung wird eliminiert und der Krieg damit von einer psychischen Hürde entlastet (man tötet nicht selbst, mit eigenen Händen).
 

Blumenberg

Mitglied
Liebe Jon,

vielen Dank für die nochmaligen Anmerkungen und die wunderbare Interpretation der Bruchlinien meines Textes. Das bringt mich allerdings in eine etwas zwiespältige Lage.
Einerseits gebe ich dir Recht, dass der Text an einigen Stellen sehr verknappt ist, worduch auch der Abstraktionsgrad des Gesagten mit angehoben wird. Beispielsweise „Ich blicke mich um, aber alles, was ich sehe, ist der Tod.“ Hier hätte, und das hast du richtig gesehen, durchaus auch die Möglichkeit bestanden weiter ins Detail zu gehen, allerdings habe das an dieser Stelle bewusst vermieden, da es meines Erachtens gerade das Signum eines Massenkrieges ist, dass der Tod von der individuellen Ebene allein durch die Anzahl der Getöteten auf eine abstrakte Ebene gehoben wird. Die Toten im Graben sind so zahlreich, dass eine Betrachtung des Einzeltodes aus dem Sichtfeld verdrängt wird, der Protagonist nimmt so nicht mehr die einzelnen Toten, sondern nur noch den Tod als abstraktes Phänomen war. Das korreliert auch mit deiner Anmerkung zum zweiten Bruchpunkt den du anführst: Der Soldat wird dem konkreten Töten enthoben, damit aber auch der direkten Beziehung zu seinem Feind. Er ist nicht mehr Beteiligter sondern vielmehr lediglich Beobachter und damit auch in gewisser Weise unbeteiligter an der eigenlichen Kampfhandlung.
Andererseits habe ich wohl zumindest bei dir, ich meine aber auch bei anderen Kommentatoren dieses Textes eines der Ziele erreicht, die ich mit diesem kurzen Text verfolgt habe, nämlich durch ein etwas anderes Herangehen an das Phänomen Krieg zu irritieren und den Leser zu einem eigenständigen Nachdenken über das Gelesene anzuregen. Dazu gehört meines Erachtens auch, den Leser genau dieses abstumpfende Dahingleiten des Erlebens spüren zu lassen.
Vielleicht als letzte Anmerkung: Ich wäre auch durchaus in der Lage gewesen das Geschehene in seiner ganzen Grausamkeit zu schildern, genauer gesagt hatte ich das sogar zuerst. Ich habe mich dann aber entschieden auf eine solche Darstellung zu verzichten, da ich fand, dass dadurch die Eindringlichkeit des Geschilderten noch zunimmt. Ich will das an einem Beispiel aus einer etwas späteren Zeit verdeutlichen. Auf den Spartenkanälen laufen gefühlt zu jeder Zeit Dokumentationen über die Konzentrationslager. Dabei zeigen die Bilder in drastischer und sicherlich auch unimmtelbar sehr verstörender Weise die abgemagerten Leichenberge. Aber mir ist das eindringlichste Bild ein anderes gewesen, dass sicherlich im ersten Augenblick weit weniger verstörend ist, aber im Nachdenken über seine Abtraktheit zumindest bei mir eine größere Wirkung entfaltet hat, weil es nötigt über das Gesehene nachzudenken. Es ist das Bild einer Lagerhalle in der sich ein bis zur Decke reichender Haufen Brillen befindet. Eigentlich ein neutraler Gebrauchsgegenstand, der aber in dem Moment seinen Schrecken entfaltet in dem einem bewusst wird, dass jede dieser Brillen einmal einem lebenden Menschen gehört hat, der nun "keine Verwendung" mehr dafür hat, da er vernichtet wurde. Gleichzeitig warten diese Brillen auf ihren Abtransport zu neuen, lebenden Besitzern, es soll ja nichts verkommen.

Ich werde mir aber trotzdem mal Gedanken machen, ob ich nicht den ein oder anderen Vorschlag aufgreife, da deine Vorschläge durchaus Substanz haben und zwischen der Intention des Autors und dem was davon beim Leser ankommt durchaus eine gewisse Diskrepanz entstehen kann, die es zu überbrücken gilt. Auch wenn das hieße den verknappten text in gewisser Weise wieder zu "entknappen".

Beste Grüße und noch einmal vielen Dank für die ausführlichen Tipps und geschilderten EIndrücke, so Stelle ich mir eine konstruktive Auseinandersetzung vor!

Blumenberg
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Blumenberg,

diese fein komponierte und einfühlsam erzählte Geschichte, die sich wirklich eines schweren Themas annimmt, ist für mich das Werk des Monats Januar.

Deshalb sehr gerne gestempelt!

Viele Grüße,

DS
 
T

Trainee

Gast
Aus meiner Sicht: Zu Recht ausgezeichnet!
Ein wirklich guter Text. Spannend, ohne spürbare Überlängen.

Jon sollte man vielleicht ein kleines Eckchen aus dem Stempel herauslösen - als Anerkennung für das überaus gelungene Lektorat. ;)

Trainee
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Doc Schneider,

vielen Dank für die Stempelung und die freundlichen Worte.

Ich freue mich, dass es mal ein Text von mir zum Text des Monats gebracht hat.

Beste Grüße

Blumenberg



@ Trainee,

dir natürlich auch Danke für Wort und Wertung. Das Eckchen gebe ich gerne ab, ist der Text in meinen Augen doch ein Beispiel, dass konstruktive Kritik dabei helfen kann, einen Text tatsächlich nochmal runder zu machen.

Beste Grüße
 
T

Trainee

Gast
Liebe(r) Blumenberg,

ich freue mich stets ganz besonders, wenn professionell lektoriert wird. Das ist mir sozusagen ein ästhetisches Vergnügen - ganz unabhängig von der Qualität des rezensierten Textes.

Deiner war und ist saugut. :)

Herzliche Grüße
Trainee
 

G. R. Asool

Mitglied
Hallo Blumenberg,

deine Geschichte finde ich sehr gut und war sofort drin. Allerdings finde ich es zu still. Sicherlich, ist diese Operation im Vergleich sehr ruhig abgelaufen, aber wenn einem die Lungen verätzen gibt man doch bestimmt wenigstens ein Röcheln von sich. Aber vielleicht täusche ich mich auch.

Gerne gelesen!

Gruß
GR
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo G.R.Asool,

zunächst einmal natürlich Danke, ich freue mich, wenn die Geschichte trotz des schweren Themas interessant ist. Du hast mit deiner Bemerkung sicherlich Recht, auch wenn ich kein Experte für Giftschäden bin. Ich habe die Stille innerhalb der Geschichte überbetont um einen Kontrast zu der Erwartungshaltung des Lesers herzustellen. Hier gestattet die Ichperspektive meines Erachtens, sich in diesem Punkt ein wenig von der Realität zu lösen, da die eigenartige Stille das zentrale Wahrnehmungserlebnis des Protagonisten bildet.

Beste Grüße

Blumenberg

P.S. Dir auch noch einmal Dankeschön Trainee
 



 
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