Der Verschlag

ketelwald

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Leise pulste ein Schmerz durch den Körper. Irgendetwas hatte Mahmoud in die Seite getroffen, war abgeprallt und auf der Plastikfolie zu Boden gegangen. Die Zielscheibe dieses Angriffs richtete sich langsam auf, schob einen rostigen Blecheimer zur Seite und lugte an einer alten Bastmatte vorbei. Zwar konnte er nichts sehen, aber umso deutlicher fühlen. Mahmouds Knochen ächzten unter jeder Bewegung und strahlten mit schöner Einträchtigkeit ihren Schmerz an die Zentren im Gehirn, die ihm dann den Zustand dienstfertig meldeten. Auch aus der Magengegend machte sich ein solches Gefühl bemerkbar, eher undeutlich flüsternd, aber vernehmbar. Plötzlich wurde aus dem Flüstern ein lautes Aufheulen, die Magenwände rieben sich gegeneinander und Mahmoud sprang wie ein gejagtes Wild auf. Langsam dämmerte alles um ihn herum etwas deutlicher. Schmutzige Häuserwände grinsten höhnisch auf ihn herab aus ihren weit geöffneten Fenstern. Ein buntes Muster von Wäschestücken tanzte farbenfroh vor seinen Augen, ehe es langsam zur Ruhe kam. Etwas irregeleitet durch einen Alkoholrauschnebel kamen nun auch die ersten Geräusche in der Schaltzentrale an. Ein unangenehmer Geruch, Mischung aus Methanolgasen, Abfall und Staub, waberte ohne Unterlass durch die Luft. Ein trockenes Husten entrang sich seiner Kehle: Wasser!

Langsam wagten sich auch erste geordnete Gedanken in dieses Chaos in seinem schmutzigen, von schrumpelkastanienbrauner Haut umspannten Kopf vor. Sie wühlten sich durch vermüllte und lange nicht mehr genutzte Windungen. Au! Alkohol... So war es doch bis jetzt immer noch gegangen, wunderte er sich. Noch weiter zurück, langsam bohrten sich Bilder hindurch, noch undeutlich, aber schon mit einem hässlich verzerrten Lachen zu ihm hindurch. Eine Frau, die bei näherem Hinsehen einmal hübsch gewesen sein könnte, zwei kleine Menschlein, die ihn mit großen Augen anstarrten. Tränen stiegen ihm in die dunklen Augen. Doch wie ein schützender Mantel breitete sich wieder ein dunkler Schatten über diese Erinnerungen und ließ sie verblassen. Dieser Mantel begleitete ihn nun schon 27 Jahre ungefähr, rechnete man mal die ersten anderthalb davon ab, die er noch zufrieden schreiend unter liebevoller Obhut seiner Mutter zugebracht hatte. Er hatte alles zugedeckt, was ihn irgendwie bewegt hatte, er hatte ihn lächeln lassen und er hatte ihn zu Boden gedrückt, wo er in Frieden sitzen und auf das geschäftige Treiben um ihn herum blicken konnte. Der Mantel hatte ihn so zufrieden gemacht, dass er irgendwann darüber in völlige Gedankenlosigkeit verfiel. Und als ihn dann keine Gedanken mehr durchzogen, schwebte er in einen leeren Raum, bewegte sich im Spiel der Wellen, trank aus ihnen. Immer wenn er lange genug geschwebt war, wehte es ihn in eine Ecke, aus der er sich dann mit einer kurzen Klarheit wieder aufrichtete, den Weg zurück fand, um das Spiel von neuem zu beginnen. Längst war das der einzige Kreislauf in ihm, der noch funktionierte.

Der alte Mechaniker mit seinem winzigen Hinterhof und den Schraubenschlüsseln war diesem Kreisen ebenfalls überdrüssig geworden. Er, der Mahmoud für eine Schüssel Hirsebrei, etwas getrocknetes Obst und einen Krug Wasser an diesen verrosteten Ungetümen hatte schrauben lassen, die sich gespenstisch vor ihm auftürmten und jeglichen Annäherungsversuch mit ewigem Schweigen beantworteten.

Schließlich hatte er das knarrende Hoftor für immer hinter sich gelassen und war in die Sonne getreten, die unbarmherzig jeden Tag mit stoischer Ignoranz auf ihn nieder brannte. Schatten fand er immer wieder ein paar Straßen weiter. Was wohl seine Eltern machten, die jeden verbogenen Sou und jeden Tropfen Wasser immer mit einem klugen Ratschlag begleitet hatten?

Keine klugen Ratschläge mehr verbreiten. Die Hitze und Trockenheit hatte sie ganz austrocknen und friedlich schlafen lassen. Und auch Mahmoud wurde wieder friedlich zu Mute. Er schloss die Augen und lauschte dem Rauschen der staubigen Straße mit kleinen Spitzen von Kinderschreien... Wasser?! Ein heller, abgestumpft-leiser Ton drang zuerst an seine Ohren, die er vom gröbsten Schmutz reinigte, um etwas deutlicher zu hören. Dann spürte er auch einen Treffer auf seiner Handoberfläche, der sich mit überraschender Kühle um ein paar Zentimeter ausbreitete. Seine Augen richteten sich zum Himmel, wo sich schwere Gebilde mit massiger Dunkelheit ballten und den fahlen Schein der Himmelsscheibe mehr und mehr verblassen ließen, sich schließlich ganz davor schoben. Es wurde dunkler, kühler, ein tiefes Grollen deckte sich über die Geräusche, die andächtig zu lauschen schienen. Immer öfter war ein kurzer, heller Aufschlag auf dem Boden zu vernehmen, wo Mahmoud einzelne Staubflöckchen auffliegen sehen konnte. Ein paar Meter weiter starrten auch andere Menschen nach oben und ließen sich Tropfen auf die Nasenspitze fallen, als gäbe es nichts zu tun. Für eine Minute stand die kleine Welt um ihn herum still...
Dann brachen die Wolkenfronten auf und es stürzten Sintfluten zur Erde. Sie bildeten schnell einen Flusslauf auf der staubigen Straße, der Wind fegte Zeitungsfetzen durch die langsam vorwärts tastenden Autos, die durch die Wand aus Wasser kaum sehen konnten. Alles wurde davon gespült. Mahmoud nahm die Hände nach vorn und ließ sie voll des kostbaren Nass laufen, reinigte sie, strich über sein nasses Haar und die kastanienbraune Haut. Dann füllte er sie erneut und trank. Einzeln konnte er jeden Tropfen durch seinen Hals spüren und sein wunderbares Werk verrichten. Mit jedem Tropfen spannte sich sein Körper, seine Gelenke, mit jedem wurde sein Lächeln menschlicher. Langsam fiel er von sich ab wie die alte Haut einer Schlange. Kräftig spürte er sich gehen. Er würde Teller waschen, im Regen.
 

DocSchneider

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Hallo ketelwald, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


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