Der Vorlesende

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herziblatti

Mitglied
Hallo Mistralgitter, nachdem Du mich direkt fragst, will ich noch einmal antworten: Lyrik-Forum, könnte ich mir vorstellen.
Ich bin nicht zuständig, will mir auch keine Kompetenzen anmaßen, an denen ich nicht interessiert bin, ich habe lediglich Text-Arbeit/Hilfestellung angeboten, was ich mir künftig ganz sicher besser überlegen werde! Servus und gute Nacht - herziblatti.
 
A

aligaga

Gast
Hallo @Mistralgitter,

wenn man die hübsch geschriebene Episode bis zum Ende durchhat, grübelt man, warum wir hier über den Schriftsteller zwar allerlei Äußerlichkeiten erfahren, die der ZuhörerIn ins Aug springen, aber rein gar nichts über dessen Text (ein bisschen unlogisch erscheint, dass man in dem schlechten Licht den Status der Maniküre erheben kann und dass ein Gewölbekeller so hoch sei, dass er eine Bühne vertrüge).

Die HörerIn scheint nicht wegen eines Werkes, sondern wegen der Person gekommen zu sein, die sie zudem vorher schon kannte. Jedenfalls hatte sie einen Schriftwechsel mit dem Typen, wobei der ihr persönliche Umstände mitteilte und mit seinen Radfahrkünsten prahlte.

Eine Internet-Bekanntschaft? Eine Art "Blind Date"? Ein "Autoren-Treffen"?

Rätselhaft der Ratschlag, die zur Lesung Gekommene solle in einen Radlerverein eintreten. Welcher anerkennenswerte Schriftsteller käme dazu, einem weiblichen Fan einen so abstrusen Vorschlag zu machen? Gruppenzwang statt künstlerischer Freiheit? Gemeinschaftsausflüge nach vorgegebenem Muster statt heiterer Fahrten ins Blaue?

Tipp, Mistralgitter: Lass die Finger von dem Kerl. Wer jeden Tag mehr als dreißig Kilometer radeln muss, nota bene im Rudel, hat kein lohnendes Ziel vor Augen, sondern ist auf der Flucht. Wahrscheinlich wirklich ein zentralnervöser Nagelbeißer!

Gruß

aligaga
 

Mistralgitter

Mitglied
Hallo aligaga,

zunächst einmal Danke für die Beschäftigung mit meinem Text und für den Kommentar.
Ich bin erst seit dem 07.04.15 in der LL und habe den Text am 09.04.15 eingestellt und wundere mich sehr, dass er so viel Beachtung gefunden hat.

Grundsätzlich bin ich immer der Meinung, dass meine Texte selten unverrückbar fertig sind - ich kann mich auch von ihnen trennen, d.h. sie überarbeiten oder auch löschen.

Über den Inhalt des vorgelesenen Textes wollte ich eigentlich nichts schreiben, mir kam es auf den Vorlesenden an, auf den Eindruck, den er auf dem Hintergrund des zuvor erfolgten Schriftwechsels bei seiner Lesung machte.
Der Schriftwechsel enthielt diesen ironischen und dem Literaturbetrieb kritisch gegenüberstehenden Rat, eher aufs Rad zu steigen und sich mit Sportlern zu umgeben, als sich (hauptberuflich) mit der Schriftstellerei zu beschäftigen und sich der Kritik der anderen Autoren bzw. der Literaturwelt auszusetzen.

Der Raum, in dem die Veranstaltung stattfand, ist ein fensterloser geräumiger Keller mit Gewölbedecke in einem alten historischen Gebäude, der als Theater genutzt wird, deshalb auch die Bühne. Was er früher war – Weinkeller? – entzieht sich meiner Kenntnis. Um das deutlicher zu machen, bedarf es sicher noch einer weiteren Überarbeitung des Textes.

Ein Blind-Date kommt wohl kaum in Frage – denn es gab ja ein Publikum, das Beifall klatschte. Wird nicht deutlich, dass es sich um eine Lesung handelte? In meiner jetzt erheblich gekürzten Fassung habe ich die Stelle weggenommen, die von dem Verleger handelte, der den Autor vorstellte.

Ich werde versuchen, den Text in die Kategorie „Tagebuch“ zu verschieben. Dass es so eine Kategorie gibt, habe ich zunächst nicht wahr genommen. Man verzeihe mir diesen Anfängerfehler.

Dein Tipp an mich am Ende deiner Ausführungen und die Einschätzung der Person des „Vorlesenden“ halte ich für unangebracht. Ich dachte, hier in der LL könne man zwischen kritischer Textarbeit und personenbezogenen, vor allem überheblich daher kommenden und abschätzigen Äußerungen unterscheiden.

Mistralgitter
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Mistralgitter,

der Text ist für mich durchaus eine Kurzgeschichte, sprachlich ausgereift. Ich sehe keine Veranlassung, den Text ins Tagebuch zu verschieben. Denn selbst dort stehen fiktive Dinge - und über Deine Quellen und Inspirationen solltest Du besser schweigen. Kardinalfehler!

Den Schluss der Geschichte könntest Du noch etwas offener gestalten. Das ist mir zu glatt. Vielleicht sehen sich beide nur an und sprechen mit den Augen? Sie haben ja offensichtlich einen regen schriftlichen Austausch und scheinen sich zu kennen. Scheinen!

@rothsten:

Ich stelle mir solche Fragen kaum noch. Für mich ist fast alles hier keine Kurzgeschichte. Wenn wir ehrlich sind, wird doch eigentlich nur nach dem Schema hochgeladen:

- Kein Scroll: Kurzprosa

- max 3 Scrolls: Kurzgeschichten

- > 3 Scrolls: Erzählungen

Je nach Haupt-Ausschlag wird es dann noch verfrachtet in eines der anderen Genre.
Nana, das stellt hier so ziemlich alles in Frage, was die Redakteure in sorgfältig forumuliren Forentexten zusammen getragen haben. Natürlich brauchen wir eine Einteilung, sonst herrscht hier fröhliche Anarchie. Scrollbewegegungen gehören nicht zu Einstellungskritieren.

Das hier


Ich sehe das jedenfalls entspannt. Online-Forum heißt, kurz zu schreiben. ES ist fast eine eigene Art.

trifft insofern zu, als dass bei langen Texten das Lesen am Bildschirm mühsam sein kann. Aber dann bleibt ja immer noch die Möglichkeit des Ausdruckens. Die angeblich goldene Regel der Internetschreiber "Fasse dich kurz" passt nicht immer.



LG Doc
 
A

aligaga

Gast
Dein Tipp an mich am Ende deiner Ausführungen und die Einschätzung der Person des „Vorlesenden“ halte ich für unangebracht. Ich dachte, hier in der LL könne man zwischen kritischer Textarbeit und personenbezogenen, vor allem überheblich daher kommenden und abschätzigen Äußerungen unterscheiden.
Sonderbare Aussage von jemandem, der die Kritik von Textungereimtheiten mit persönlichem Erleben zu erklären versucht. Was denn nun?

In Bezug auf das "Blind Date": In deinem Text heißt's im ersten Satz, dass "man" sich persönlich nicht kenne. Weiter unten dann, dass es Korrespondenz gäbe. Wer sorgfältig liest und ein wenig reflektiert, könnte auf die Idee kommen, hier habe jemand zuvor im Cyberwald nach Pilzen gesucht und säße nun ganz vorn vor der Kellerbühne und sähe im Dämmer erstmals die Analogschwammerl des radelnden Avatars.

Wenn du nicht möchtest, dass der Leser diesen Eindruck gewinnt, müsstest du dich anders artikulieren, @Mistralgitter. Oder wirklich unter "Tagebuch" publizieren. Da bekämest du - jedenfallls vom böhsen @ali - dann freilich keine Literaturkritik mehr.

Immer noch grüßend

ebenderselbe
 

Mistralgitter

Mitglied
Der Vorlesende

Er huschte von der Seite auf die Bühne und setzte sich ein wenig ungelenk an den Holztisch mit der Leselampe. Seltsamerweise wirkte er schüchtern und verloren dort oben auf der Bühne, obwohl er ein routinierter Schriftsteller war und dies sicher nicht seine erste Lesung. Es war kühl in diesem ungemütlichen, kaum beleuchteten Gewölbekeller, der sonst für Theateraufführungen genutzt wurde. Die Wände des Raumes hatte man teilweise mit schwarzen Tüchern behängt, an anderen Stellen schauten die düstergrauen Steinquader hervor. Vor solch trauriger Kulisse zu lesen war schon ein gewagtes Unterfangen, dachte ich.

Und dann begann er zu reden, bemerkte entschuldigend, er hätte sicher die falschen Stellen aus seinem Buch herausgesucht für diese Veranstaltung. Das sei meist so und das merke man erst hinterher. Seine Selbstironie war unüberhörbar. Er fühle sich grippig, fuhr er fort, sein Hals täte weh. Aber er würde das Beste daraus machen, versprach er. Wir lächelten wohlwollend. Er hielt sein Versprechen. Er redete deutlich, jedoch zu eilig, als ob alles, was er zu sagen hätte, unwesentlich sei und keine große Bedeutung hätte, nur wenig Raum bekommen sollte. Dann nahm er sein neuestes Buch zur Hand und begann vorzulesen. In schneller Folge setzte er ein Wort an das andere, einen Satz neben den nächsten, mal betont und mal weniger betont, mit angenehmer Stimme, begleitet von sparsamer Mimik und Gestik.

Ich sah sein zerfurchtes, hageres und blasses Gesicht, genauso knochig wie seine ganze Gestalt. Seine kräftigen Hände fielen mir auf, von denen ich erwartet hätte, dass sie schmal und empfindsam aussehen müssten, wenn sie einem künstlerisch begabten Mann wie ihm gehörten. Und erschreckt stellte ich fest: Er kaut anscheinend Nägel, als ob er sich durchbeißen müsste. Sein eigener Anspruch, der des Verlegers und derjenige der Leser fordern offensichtlich einen solchen Tribut. Er bezahlt einen hohen Preis für einen schwer erarbeiteten Erfolg, vermutete ich. An seine Augen kann ich mich allerdings nicht erinnern. Merkwürdig. Vielleicht hatte ich Furcht davor zuviel zu sehen?

Dabei gab es gar nichts zu fürchten. Im Gegenteil. Dem Publikum war zum Lachen zumute.
Auch ich amüsierte mich köstlich. Und Charlotte neben mir lachte aus vollem Halse. Was er uns vorlas, war brillant formuliert, messerscharf traf es die wunden Punkte einer unvollkommenen, nahezu kranken Gesellschaft, die sich in ihrer Blindheit jedoch völlig ernst nahm. Er ließ uns an einem lustvollen und klugen Auskosten von Einfällen teilhaben, mit denen er den Aberwitz menschlicher Unzulänglichkeiten und Abgründe beschrieb.

Charlotte flüsterte mir zu, sie habe bisher alle Bücher von ihm gelesen und könne gar nicht aufhören seine Literatur zu verschlingen. Sein neuestes Buch lag schon auf ihrem Schoß. Sie ließ es sich am Schluss der Lesung signieren. Ich finde so etwas immer peinlich.

Das Ende der Lesung kam überraschend. Jemand aus der Publikumsmitte klatschte einfach drauf los, als der Autor kurz Luft holte. Ein solches Verhalten fand ich ungehörig dem Vorlesenden gegenüber und deshalb klatschte ich erst mal nicht. Der Autor hielt inne, nickte stumm dankend ins applaudierende Publikum. Er wollte offensichtlich etwas sagen, aber es kam für eine Weile kein Laut über seine zitternden Lippen. Als ob er voller Anspannung nach Worten suchte und sie nicht herausbekam und gleich stottern würde. Mir tat das Leid.
Er nickte nur dankend und nahm ein anderes Buch zur Hand. Er wolle aus seinem ersten Buch etwas vorlesen, kündigte er an. Das habe er immer dabei, falls etwas schief gehen würde. Und so hörten wir ein weiteres Text-Beispiel für seinen scharfsinnigen, bissigen Humor. Der Beifall war ihm sicher.

Auf dem Heimweg dachte ich daran, dass er einmal in einem Artikel selbstironisch schrieb, er verstünde vom Fahrradfahren mehr als vom Schreiben. Auf durchschnittlich zehntausend, mit dem Rad gefahrene Kilometer käme er jedes Jahr. Das sei erfreulicher, als sich in einen Disput mit anderen Autoren zu begeben. Er sei in einem Radfahrverein und könne nur jedem Autor raten, das Gleich zu tun. Die Leute im Fahrradverein seien netter, als es Autoren untereinander sind.

Wie weit doch Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung auseinander klaffen können.
 

Mistralgitter

Mitglied
Der Vorlesende

Er huschte von der Seite auf die Bühne und setzte sich ein wenig ungelenk an den Holztisch mit der Leselampe. Seltsamerweise wirkte er schüchtern und verloren dort oben auf der Bühne, obwohl er ein routinierter Schriftsteller war und dies sicher nicht seine erste Lesung. Es war kühl in diesem ungemütlichen, kaum beleuchteten Gewölbekeller, der sonst für Theateraufführungen genutzt wurde. Die Wände des Raumes hatte man teilweise mit schwarzen Tüchern behängt, an anderen Stellen schauten die düstergrauen Steinquader hervor. Vor solch trauriger Kulisse zu lesen war schon ein gewagtes Unterfangen, dachte ich.

Und dann begann er zu reden, bemerkte entschuldigend, er hätte sicher die falschen Stellen aus seinem Buch herausgesucht für diese Veranstaltung. Das sei meist so und das merke man erst hinterher. Seine Selbstironie war unüberhörbar. Er fühle sich grippig, fuhr er fort, sein Hals täte weh. Aber er würde das Beste daraus machen, versprach er. Wir lächelten wohlwollend. Er hielt sein Versprechen. Er redete deutlich, jedoch zu eilig, als ob alles, was er zu sagen hätte, unwesentlich sei und keine große Bedeutung hätte, nur wenig Raum bekommen sollte. Dann nahm er sein neuestes Buch zur Hand und begann vorzulesen. In schneller Folge setzte er ein Wort an das andere, einen Satz neben den nächsten, mal betont und mal weniger betont, mit angenehmer Stimme, begleitet von sparsamer Mimik und Gestik.

Ich sah sein zerfurchtes, hageres und blasses Gesicht, genauso knochig wie seine ganze Gestalt. Seine kräftigen Hände fielen mir auf, von denen ich erwartet hätte, dass sie schmal und empfindsam aussehen müssten, wenn sie einem künstlerisch begabten Mann wie ihm gehörten. Und erschreckt stellte ich fest: Er kaut anscheinend Nägel, als ob er sich durchbeißen müsste. Sein eigener Anspruch, der des Verlegers und derjenige der Leser fordern offensichtlich einen solchen Tribut. Er bezahlt einen hohen Preis für einen schwer erarbeiteten Erfolg, vermutete ich. An seine Augen kann ich mich allerdings nicht erinnern. Merkwürdig. Vielleicht hatte ich Furcht davor zuviel zu sehen?

Dabei gab es gar nichts zu fürchten. Im Gegenteil. Dem Publikum war zum Lachen zumute.
Auch ich amüsierte mich köstlich. Und Charlotte neben mir lachte aus vollem Halse. Was er uns vorlas, war brillant formuliert, messerscharf traf es die wunden Punkte einer unvollkommenen, nahezu kranken Gesellschaft, die sich in ihrer Blindheit jedoch völlig ernst nahm. Er ließ uns an einem lustvollen und klugen Auskosten von Einfällen teilhaben, mit denen er den Aberwitz menschlicher Unzulänglichkeiten und Abgründe beschrieb.

Charlotte flüsterte mir zu, sie habe bisher alle Bücher von ihm gelesen und könne gar nicht aufhören seine Literatur zu verschlingen. Sein neuestes Buch lag schon auf ihrem Schoß. Sie ließ es sich am Schluss der Lesung signieren. Ich finde so etwas immer peinlich.

Das Ende der Lesung kam überraschend. Jemand aus der Publikumsmitte klatschte einfach drauf los, als der Autor kurz Luft holte. Ein solches Verhalten fand ich ungehörig dem Vorlesenden gegenüber und deshalb klatschte ich erst mal nicht. Der Autor hielt inne, nickte stumm dankend ins applaudierende Publikum. Er wollte offensichtlich etwas sagen, aber es kam für eine Weile kein Laut über seine zitternden Lippen. Als ob er voller Anspannung nach Worten suchte und sie nicht herausbekam und gleich stottern würde. Mir tat das Leid.
Er nickte nur dankend und nahm ein anderes Buch zur Hand. Er wolle aus seinem ersten Buch etwas vorlesen, kündigte er an. Das habe er immer dabei, falls etwas schief gehen würde. Und so hörten wir ein weiteres Text-Beispiel für seinen scharfsinnigen, bissigen Humor. Der Beifall war ihm sicher.

Auf dem Heimweg dachte ich daran, dass er einmal in einem Artikel selbstironisch schrieb, er verstünde vom Fahrradfahren mehr als vom Schreiben. Auf durchschnittlich zehntausend, mit dem Rad gefahrene Kilometer käme er jedes Jahr. Fahrradfahren sei erfreulicher, als sich in einen Disput mit Lektoren oder anderen Autoren zu begeben. Er sei in einem Radfahrverein und könne nur jedem Autor raten, das Gleiche zu tun. Die Leute im Fahrradverein hätten einen netteren Umgangston als Lektoren und Autoren.
Wenig ermutigend, dachte ich.
 

Mistralgitter

Mitglied
Der Vorlesende

Er huschte von der Seite auf die Bühne und setzte sich ein wenig ungelenk an den Holztisch mit der Leselampe. Seltsamerweise wirkte er schüchtern und verloren dort oben auf der Bühne, obwohl er ein routinierter Schriftsteller war und dies sicher nicht seine erste Lesung. Es war kühl in diesem ungemütlichen, kaum beleuchteten Gewölbekeller, der sonst für Theateraufführungen genutzt wurde. Die Wände des Raumes hatte man teilweise mit schwarzen Tüchern behängt, an anderen Stellen schauten die düstergrauen Steinquader hervor. Vor solch trauriger Kulisse zu lesen war schon ein gewagtes Unterfangen, dachte ich.

Und dann begann er zu reden, bemerkte entschuldigend, er hätte sicher die falschen Stellen aus seinem Buch herausgesucht für diese Veranstaltung. Das sei meist so und das merke man erst hinterher. Seine Selbstironie war unüberhörbar. Er fühle sich grippig, fuhr er fort, sein Hals täte weh. Aber er würde das Beste daraus machen, versprach er. Wir lächelten wohlwollend. Er hielt sein Versprechen. Er redete deutlich, jedoch zu eilig, als ob alles, was er zu sagen hätte, unwesentlich sei und keine große Bedeutung hätte, nur wenig Raum bekommen sollte. Dann nahm er sein neuestes Buch zur Hand und begann vorzulesen. In schneller Folge setzte er ein Wort an das andere, einen Satz neben den nächsten, mal betont und mal weniger betont, mit angenehmer Stimme, begleitet von sparsamer Mimik und Gestik.

Ich sah sein zerfurchtes, hageres und blasses Gesicht, genauso knochig wie seine ganze Gestalt. Seine kräftigen Hände fielen mir auf, von denen ich erwartet hätte, dass sie schmal und empfindsam aussehen müssten, wenn sie einem künstlerisch begabten Mann wie ihm gehörten. Und erschreckt stellte ich fest: Er kaut anscheinend Nägel, als ob er sich durchbeißen müsste. Sein eigener Anspruch, der des Verlegers und derjenige der Leser fordern offensichtlich einen solchen Tribut. Er bezahlt einen hohen Preis für einen schwer erarbeiteten Erfolg, vermutete ich. An seine Augen kann ich mich allerdings nicht erinnern. Merkwürdig. Vielleicht hatte ich Furcht davor zuviel zu sehen?

Dabei gab es gar nichts zu fürchten. Im Gegenteil. Dem Publikum war zum Lachen zumute.
Auch ich amüsierte mich köstlich. Und Charlotte neben mir lachte aus vollem Halse. Was er uns vorlas, war brillant formuliert, messerscharf traf es die wunden Punkte einer unvollkommenen, nahezu kranken Gesellschaft, die sich in ihrer Blindheit jedoch völlig ernst nahm. Er ließ uns an einem lustvollen und klugen Auskosten von Einfällen teilhaben, mit denen er den Aberwitz menschlicher Unzulänglichkeiten und Abgründe beschrieb.

Charlotte flüsterte mir zu, sie habe bisher alle Bücher von ihm gelesen und könne gar nicht aufhören seine Literatur zu verschlingen. Sein neuestes Buch lag schon auf ihrem Schoß. Sie ließ es sich am Schluss der Lesung signieren. Ich finde so etwas immer peinlich.

Das Ende der Lesung kam überraschend. Jemand aus der Publikumsmitte klatschte einfach drauf los, als der Autor kurz Luft holte. Ein solches Verhalten fand ich ungehörig dem Vorlesenden gegenüber und deshalb klatschte ich erst mal nicht. Der Autor hielt inne, nickte stumm dankend ins applaudierende Publikum. Er wollte offensichtlich etwas sagen, aber es kam für eine Weile kein Laut über seine zitternden Lippen. Als ob er voller Anspannung nach Worten suchte und sie nicht herausbekam und gleich stottern würde. Mir tat das Leid.
Er nahm ein anderes Buch zur Hand, eine ältere Veröffentlichung, und kündigte an, er wolle aus seinem ersten Buch etwas vorlesen. Das habe er immer dabei, falls etwas schief gehen würde. War etwas schief gegangen? Und so hörten wir ein weiteres Text-Beispiel für seinen scharfsinnigen, bissigen Humor. Der Beifall war ihm sicher.

Auf dem Heimweg dachte ich daran, dass er einmal in einer Email an mich selbstironisch schrieb, er verstünde vom Fahrradfahren mehr als vom Schreiben. Auf durchschnittlich zehntausend, mit dem Rad gefahrene Kilometer käme er jedes Jahr. Fahrradfahren sei erfreulicher, als sich in einen Disput mit Lektoren oder anderen Autoren zu begeben. Er sei in einem Radfahrverein und könne nur jedem Autor raten, das Gleiche zu tun. Die Leute im Fahrradverein hätten einen netteren Umgangston untereinander als Lektoren und Autoren.

Außerdem sei ein freier Schriftsteller alles andere als frei. Es gäbe so viele private Einschränkungn, so viele Herausforderungen, denen er sich stellen müsse, dass es die Grenzen des Zumutbaren oft erreiche.

Wenig ermutigend, dachte ich.
 



 
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