Der Vorlesende
Er huschte von der Seite auf die Bühne und setzte sich ein wenig ungelenk an den Holztisch mit der Leselampe. Seltsamerweise wirkte er schüchtern und verloren dort oben auf der Bühne, obwohl er ein routinierter Schriftsteller war und dies sicher nicht seine erste Lesung. Es war kühl in diesem ungemütlichen, kaum beleuchteten Gewölbekeller, der sonst für Theateraufführungen genutzt wurde. Die Wände des Raumes hatte man teilweise mit schwarzen Tüchern behängt, an anderen Stellen schauten die düstergrauen Steinquader hervor. Vor solch trauriger Kulisse zu lesen war schon ein gewagtes Unterfangen, dachte ich.
Und dann begann er zu reden, bemerkte entschuldigend, er hätte sicher die falschen Stellen aus seinem Buch herausgesucht für diese Veranstaltung. Das sei meist so und das merke man erst hinterher. Seine Selbstironie war unüberhörbar. Er fühle sich grippig, fuhr er fort, sein Hals täte weh. Aber er würde das Beste daraus machen, versprach er. Wir lächelten wohlwollend. Er hielt sein Versprechen. Er redete deutlich, jedoch zu eilig, als ob alles, was er zu sagen hätte, unwesentlich sei und keine große Bedeutung hätte, nur wenig Raum bekommen sollte. Dann nahm er sein neuestes Buch zur Hand und begann vorzulesen. In schneller Folge setzte er ein Wort an das andere, einen Satz neben den nächsten, mal betont und mal weniger betont, mit angenehmer Stimme, begleitet von sparsamer Mimik und Gestik.
Ich sah sein zerfurchtes, hageres und blasses Gesicht, genauso knochig wie seine ganze Gestalt. Seine kräftigen Hände fielen mir auf, von denen ich erwartet hätte, dass sie schmal und empfindsam aussehen müssten, wenn sie einem künstlerisch begabten Mann wie ihm gehörten. Und erschreckt stellte ich fest: Er kaut anscheinend Nägel, als ob er sich durchbeißen müsste. Sein eigener Anspruch, der des Verlegers und derjenige der Leser fordern offensichtlich einen solchen Tribut. Er bezahlt einen hohen Preis für einen schwer erarbeiteten Erfolg, vermutete ich. An seine Augen kann ich mich allerdings nicht erinnern. Merkwürdig. Vielleicht hatte ich Furcht davor zuviel zu sehen?
Dabei gab es gar nichts zu fürchten. Im Gegenteil. Dem Publikum war zum Lachen zumute.
Auch ich amüsierte mich köstlich. Und Charlotte neben mir lachte aus vollem Halse. Was er uns vorlas, war brillant formuliert, messerscharf traf es die wunden Punkte einer unvollkommenen, nahezu kranken Gesellschaft, die sich in ihrer Blindheit jedoch völlig ernst nahm. Er ließ uns an einem lustvollen und klugen Auskosten von Einfällen teilhaben, mit denen er den Aberwitz menschlicher Unzulänglichkeiten und Abgründe beschrieb.
Charlotte flüsterte mir zu, sie habe bisher alle Bücher von ihm gelesen und könne gar nicht aufhören seine Literatur zu verschlingen. Sein neuestes Buch lag schon auf ihrem Schoß. Sie ließ es sich am Schluss der Lesung signieren. Ich finde so etwas immer peinlich.
Das Ende der Lesung kam überraschend. Jemand aus der Publikumsmitte klatschte einfach drauf los, als der Autor kurz Luft holte. Ein solches Verhalten fand ich ungehörig dem Vorlesenden gegenüber und deshalb klatschte ich erst mal nicht. Der Autor hielt inne, nickte stumm dankend ins applaudierende Publikum. Er wollte offensichtlich etwas sagen, aber es kam für eine Weile kein Laut über seine zitternden Lippen. Als ob er voller Anspannung nach Worten suchte und sie nicht herausbekam und gleich stottern würde. Mir tat das Leid.
Er nahm ein anderes Buch zur Hand, eine ältere Veröffentlichung, und kündigte an, er wolle aus seinem ersten Buch etwas vorlesen. Das habe er immer dabei, falls etwas schief gehen würde. War etwas schief gegangen? Und so hörten wir ein weiteres Text-Beispiel für seinen scharfsinnigen, bissigen Humor. Der Beifall war ihm sicher.
Auf dem Heimweg dachte ich daran, dass er einmal in einer Email an mich selbstironisch schrieb, er verstünde vom Fahrradfahren mehr als vom Schreiben. Auf durchschnittlich zehntausend, mit dem Rad gefahrene Kilometer käme er jedes Jahr. Fahrradfahren sei erfreulicher, als sich in einen Disput mit Lektoren oder anderen Autoren zu begeben. Er sei in einem Radfahrverein und könne nur jedem Autor raten, das Gleiche zu tun. Die Leute im Fahrradverein hätten einen netteren Umgangston untereinander als Lektoren und Autoren.
Außerdem sei ein freier Schriftsteller alles andere als frei. Es gäbe so viele private Einschränkungn, so viele Herausforderungen, denen er sich stellen müsse, dass es die Grenzen des Zumutbaren oft erreiche.
Wenig ermutigend, dachte ich.