Der Weihnachtsengel

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Midian

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Man schrieb den 23. Dezember, und am Vormittag hatte es geschneit. Weiße Weihnachten? Diesen Traum hatte der nachmittags einsetzende Nieselregen weggewaschen.
Dieter L. sah aus dem Fenster. Der Himmel war genauso verhangen wie seine Stimmung. Um Nikolaus herum hatte er noch versucht, die heraufziehende Gemütskrise, die ihn seit Jahren im Dezember überfiel, zu verharmlosen. Er hatte die Pfefferkuchen ignoriert und die Weihnachtsmänner, die Festbeleuchtung in den Straßen und die Weihnachtsbaumverkäufer. Stattdessen hatte er Akten aus der Firma mit nach Haus geschleppt. Dieter L. war Versicherungskaufmann. Kein unehrenhafter Beruf, gewiss nicht, aber auch nichts Schillerndes.
Er war um die vierzig, mittelgroß, hatte pfützenfarbenes Haar, Dackelaugen und einen weichen Mund. Ein Mann, den man übersah, was schließlich nicht nur Nachteile hatte, aber Dieter war schwul und das, was man eine Tunte nennt. Und weil es nun einmal so war, wäre Dieter gern schillernd gewesen. Nicht gerade eine Drag Queen, aber vielleicht Werbefachmann oder Maskenbildner.
Im Büro war er gelitten. Irgendwann hatte sich auch der letzte Tunten-Witz überlebt, und schwulenfeindlich war von den Herren Kollegen selbstverständlich niemand – ich bitte Sie! Man ist doch aufgeklärt heutzutage! Der Dieter ist ein richtig Netter, sagten sie, und Dieter war nett. Er passte auf Hund oder Katze auf, holte für Oma Lienau im vierten Stock die Zeitung – mache ich doch gern – und verschenkte massenhaft Zigaretten.
Dieter sah aus dem Fenster und wusste, dass er es nicht mehr verdrängen konnte, das Fest der Liebe. Unaufhaltsam schlitterte er hinein – genau genommen seit Mitte September, da lagen die ersten Lebkuchen in den Kaufhäusern. Dieter seufzte und zündete die vier Adventskerzen an. Es wurde jetzt ja so früh dunkel. Danach machte er sich einen Kaffee, und da waren sie alle: die Spekulatius, die Dominosteine und die Servietten mit Tannenzweigen und goldenen Engeln drauf. Wie war das bloß alles in sein Haus gekommen? Was für ein unwiderstehlicher Zwang hatte ihn da gestern Abend noch ins Kaufhaus getrieben, in das goldglitzernde, selige Weihnachtsgewühl, hatte ihn hastig zusammenraffen lassen, was irgendwie nach Weihnachten roch – und leise rieselten die Weihnachtslieder. Kinderseligkeit! Geborgenheit herüberretten aus einer verklärten Zeit. Illusionen. Aber wer brauchte sie nicht? Dieter brauchte eine Menge.
Nach dem Kaffee zog er seine gefütterte Windjacke an und ging ins Knossos. Es war schon dunkel, ein unangenehm kalter Wind blies ihm ins Gesicht. Zum Glück war das Knossos, ein Kaffeeklatschtreff für Lesben und Schwule, nicht weit. Dieter schlüpfte rasch ins Warme, murmelte „Mistwetter“ und nickte Jan, dem Wirt, flüchtig zu. Der nickte zurück. „Einen Milchkaffee wie immer?“
„Wie immer, heiß, aber nicht so süß.“
„Ein Stück Kuchen dazu? Ist schließlich Weihnachten.“
„Danke, danke. Ich muss auf meine Linie achten.“ Dieter sah sich um, aber niemand grinste, denn die Kontakttische gleich am Eingang waren leer. „Ist morgen geöffnet?“ fragte Dieter.
Jan nickte. „Wie immer.“
Dieter setzte sich in die Ecke, wo die Zeitschriften auslagen, und blätterte flüchtig in ihnen. Er kannte sie auswendig, aber so konnte er die anderen Besucher besser beobachten. Heute gab es nicht viel zu sehen. Am anderen Ende saßen zwei junge Burschen, die sich verliebt in die Augen sahen. Am Nebentisch trank Willi Wohlert, Hausmeister und hetero – ‚Eure Atmosphäre hat irgendwie Stil, Jungs’ – sein abendliches Helles. Als er Dieter bemerkte, kam er herüber. „Na Dietlinde? Schon alle Geschenke beisammen?“
Dieter störte es nicht, wenn man ihn Dietlinde nannte, nur bei Willi. Er führte die Hand theatralisch an die Stirn. „Gut, dass du mich erinnerst, die Batterien in meinem Dildo sind leer. Weißt du, wo man um diese Zeit noch Batterien bekommt? Diese starken, langlebigen Dinger, na du weißt schon.“
Willi wurde prompt rot. „Äh – du meinst - ?“
„Ja, für die machen sie doch im Fernsehen Reklame. Ich bin aber auch ein Vergesslicher! Immer auf den letzten Drücker – ah, da kommt mein Milchkaffee.“ Dieter strahlte Willi an. „Was wäre ein Weihnachtsfest ohne Dildo? Gleich morgen werde ich – „
Willi räusperte sich, erhob sich und rief zu Jan hinüber: „Du, ich muss dich mal wegen der Heizungsanlage sprechen.“
Dieter sah ihm nach, rümpfte die Nase, griff sich die Zeitschrift „Mannsbilder“ und las zum dritten Mal die Geschichte von Klaus, dem mutigen schwulen Bäckergehilfen, der ein kleines Mädchen aus dem Wasser gezogen hatte. Dieter seufzte und las weiter: Katholisch und schwul – na und? Schwule wehren sich – werden Skinheads jetzt zu ihren Opfern? Ein schwuler Männerchor sucht noch Mitglieder, eine schwule Fußballelf sucht noch Stürmer – „suche ich auch“, murmelte Dieter.
Morgen ist Weihnachten und du bist wieder allein.
‚Suche niedlichen Weihnachtsengel zum gemeinsamen Kerzenanzünden.’
‚Fessle mich an den Weihnachtsbaum! Bin unterwürfig, keine Tabus, mag Lebkuchen.’
Ich auch, dachte Dieter.
Morgen ist Weihnachten.
‚Weihnachten allein? Das muss nicht sein. Komme ins Haus – als Knecht Ruprecht oder als Christkind.’
Dieter schloss die Augen. Komme ins Haus –
Als er sie wieder öffnete, stand ein junger Mann vor ihm. Halblanges, blondes Haar, Augen so blau wie ein Frühlingshimmel, bekleidet mit Jeans und einem dunkelblauen Pulli. „Darf ich mich zu dir setzen?“
Dieter blinzelte. Das Café war fast leer, und dieser hübsche Junge – Dieter machte eine graziöse Handbewegung. „Mein Freund scheint sich zu verspäten, also – warum nicht?“
„Ich hoffe, er ist nicht eifersüchtig.“ Der junge Mann lächelte. „Ich bin Angelo. Ich sitze nicht gern allein herum, mag mich gern unterhalten.“
„Ich auch, oh, ich auch.“ Und das mit dir, dachte Dieter, ich bin ja ein richtiger Glückspilz. Wahrscheinlich ist ihm kurz vor dem Fest sein Freund weggelaufen. Auch den Jungen und Schönen kann das passieren. „Ich heiße Dieter. Bist du zum ersten Mal im Knossos? Ich kenne sonst jeden, der hierher kommt.“
„Das ist richtig, ich bin nicht von hier.“
„Möchtest du was trinken?“
„Ein Glühwein wäre gut. Es ist so kalt draußen.“
„Du hättest eine Jacke überziehen sollen.“ Dieter winkte. „Jan? Einen Glühwein für meinen jungen Freund hier und mir auch einen.“
Dann unterhielten sie sich. Sie redeten über die Arbeitslosigkeit, über Dieters schwulen Zahnarzt und über das schlechte Fernsehprogramm. Sie tranken noch einen Glühwein, Dieter war beschwipst. Sie sprachen über Musik, Bücher und Malerei, hier wusste Dieter Bescheid, Angelo auch, und sie hatten sogar die gleichen Vorlieben. Kennst du das? Hast du das gelesen? Muss man kennen. Muss man gelesen haben. Sie tranken einen dritten Glühwein, und es wurde sehr spät. Jan kam und kassierte. Dieter zahlte für beide.
„Ich habe noch kein Zimmer gefunden“, gestand Angelo.
Dieters Augen glänzten wie Tannenbaumkugeln. „Macht doch nichts, du kannst bei mir übernachten.“
„Frohe – Weihnachten, Jan“, stammelte er, als er mit unsicheren Schritten hinaus wankte. „Angelo und ich müssen jetzt in die Heia, aber nicht, was du denkst, nicht was du – oh!“ Dieter hielt sich am Tresen fest. „Nicht, was du denkst, Jan.“
„Frohes Fest, Dieter.“ Jan sah ihm nach und kratzte sich an der Augenbraue.
Der Morgen des 24. Dezember war genauso grau wie der gestrige, aber für Dieter schien die Sonne. Die Sonne, das war der junge, schlanke Angelo, neben dem er erwacht war. Leise erhob sich Dieter und schlich in die Küche. Etwas brummte sein Schädel, das war der Glühwein, aber das machte nichts. Ein starker Kaffee würde helfen, wenn Angelo nur zum Frühstück blieb!
Dieter machte ein Frühstück, das auch den hartnäckigsten Schläfer aus dem Bett trieb. Toast, gebratener Schinken, Eier, Butter, Marmelade, Cornflakes, Orangensaft, Kaffee und Sahne. Dieter hörte Angelo im Bad, bald darauf kam er, den bernsteinfarbenen Körper in Dieters Bademantel gehüllt, mit noch feuchtem Haar, duftend nach Dieters Shampoo, und er begrüßte Dieter mit einem Kuss auf die Wange. „Toll, dein Frühstück. Wer soll das bloß alles aufessen?“
„Nun sag nicht, diese kleine Aufmerksamkeit sei der Rede wert“, sagte Dieter und machte eine Handbewegung, als scheuche er Fliegen dort. „Hoffentlich schmeckt es dir.“
Es schmeckte Angelo, und sie dehnten das Frühstück lange aus. Dieter erzählte Schwänke aus dem Büroalltag, Angelo lachte herzlich darüber. Angelo ging in die Küche und machte neuen Toast, er brühte neuen Kaffee auf, er schenkte Dieter ein. „Noch etwas Sahne?“
„Ja bitte.“ Dieters Stimme zitterte. Geh noch nicht, dachte er. Geh bitte noch nicht. Nur ein Stündchen noch. O Gott, wie die Zeit rast. Da legte sich eine warme Hand auf seinen Arm. „Darf ich heute hier bleiben?“
„Du willst – ?“
„Ich würde gern mit dir Heiligabend verbringen, Dieter.“
Jesus, Maria und Josef! dachte Dieter. „Ich habe aber keinen Baum“, stotterte er.
Es war eine seiner dümmsten Antworten, aber es wurde einer der schönsten Abende seines Lebens. Die goldenen Engel auf den Weihnachtsservietten lächelten, die Kerzen auf dem Adventskranz strahlten wie eine Monstranz. Dieter hatte eine CD mit Weihnachtsliedern eingeschoben. Sie saßen auf dem Sofa, Arm in Arm, und es war ein tiefer Frieden in Dieter.
„Jetzt ist eigentlich Bescherung“, flüsterte Dieter, „und ich habe nichts für dich.“
„Du hast mich aufgenommen. Ist das nichts? Ich bin ein Fremder, könnte drogenabhängig sein oder ein Stricher.“
„Das bist du nicht. Du bist – „ Dieter suchte nach Worten.
„Ich bin Angelo“, lächelte er. „Und ich will dir etwas zu Weihnachten schenken.“ Er langte in seine Jeanstasche und holte eine Münze hervor.
Dieter betrachtete sie andächtig. „Sie ist schön, aber woher ist sie? Ich kenne sie nicht.“
Angelo lächelte spitzbübisch. „Ich habe sie auf dem Flohmarkt erstanden. Ich glaube, sie ist wertvoll.“
Dieters Hand schloss sich darum. „Das Wertvollste“, murmelte er.
Um Mitternacht hörten sie die Glocken läuten. Die Kerzen waren niedergebrannt, und sie gingen zu Bett. „Gute Nacht“, sagte Dieter. „Gute Nacht“, sagte Angelo. Er legte sich auf das Sofa, und Dieter ging ins Schlafzimmer. Aber er konnte nicht einschlafen. Da hörte er die Tür gehen. Angelo stand auf der Schwelle, und er hatte rein gar nichts an. „Dieter?“ flüsterte er. „Glaubst du, dass es sich schickt in dieser heiligen Nacht?“
Dieter konnte darauf rein gar nichts antworten.
In der Nacht hatte es geschneit. Nicht viel, aber es reichte, die graue Welt ein bisschen freundlicher zu machen. Angelo stand schon in der Küche und pfiff Stille Nacht, heilige Nacht. Er schnitt den Christstollen auf. Dieter rieb sich die Augen. Angelo war also immer noch da.
Nach dem Frühstück machten sie einen Spaziergang im Stadtpark, am Nachmittag zeigte Dieter Angelo seine Bücher und seine CDs, abends sahen sie zusammen fern. Sie redeten und lachten miteinander, sie küssten sich, und sie liebten sich. Und nie fragte Dieter: Wann musst du gehen?
Am Morgen des dritten Tages erwachte Dieter in einem leeren Bett. Angelo war fort. Ohne Abschied, ohne Kuss, ohne eine Botschaft. Dieter blieb wie niedergeschmettert liegen. Was hast du denn erwartet? schalt er sich. Dass dieser Junge bei dir bleibt, dass du mit ihm Pläne schmieden kannst? Er hat vorübergehend eine Bleibe gesucht, und nun ist es vorbei. Vorbei, Dieter.
Die Zeit zwischen den Jahren ist geheimnisvoll, die wilde Schar treibt ihr Unwesen, man darf keine Wäsche waschen. Für Dieter war es einfach eine beschissene Zeit. Während das Lametta in aller Eile gegen Knallfrösche und Luftschlangen ausgetauscht wurde, saß er im Knossos auf seinem Stammplatz hinter den ausgelesenen Zeitschriften und starrte in seinen Milchkaffee.
Willi, der Hausmeister, stand am Tresen und unterhielt sich mit Jan, dem Wirt. Sie sahen hinüber zu Dieter. „Was hat er denn?“ fragte Willi. „Der Junge sieht gar nicht gut aus.“
Jan machte eine deutliche Handbewegung. „Dieter, der spinnt in letzter Zeit. Die Einsamkeit macht ihn fertig.“
„Aber mir hat er erzählt, er habe einen neuen Freund. Mit dem hat er auch Weihnachten verbracht.“
„Einen, den er Angelo nennt?“
„Genau.“
„Nun ja – „ Jan kratzte sich den kahl geschorenen Schädel. Dann beugte er sich zu dem Hausmeister und flüsterte: „Das ist es eben. Am Tag vor Heiligabend saß Dieter bis nach Mitternacht ganz allein da drüben und führte Selbstgespräche. Er bestellte immer zwei Glühweine auf einmal, und als er ging, war er total blau. Er sagte, er gehe jetzt mit seinem Freund Angelo nach Hause. Ich habe nur keinen gesehen, verstehst du?“
Willi nickte besorgt. „Klar. Weihnachten drehen ja manche durch. Armer Kerl.“
Dieter kam mit seiner leeren Tasse und stellte sie auf den Tresen. „Ich gehe jetzt, Jan. Ach noch etwas.“ Er kramte umständlich in seiner Hosentasche und legte eine Münze auf den Tresen. „Die hat mir Angelo geschenkt. Ich habe sie einem Fachmann gezeigt. Stellt euch vor, sie wurde sechshundert vor Christus in Lydien geprägt. Eine Rarität, damals gab es nämlich noch kein geprägtes Geld. König Kroisos hatte – was ist denn? Was guckt ihr so? Ach, von Geschichte habt ihr beiden doch keine Ahnung.“ Dieter umschloss die Münze mit seiner Faust. „Die ist tausend Euro wert, aber ich verkaufe sie nicht. Niemals.“
 
S

suzah

Gast
hallo midian,

"Angelo und ich müssen jetzt in die Heia, aber nicht, was du denkst, nicht was du – oh!“
wieso? alle wissen doch, dass er schwul ist.

" Er sagte, er gehe jetzt mit seinem Freund Angelo nach Hause. Ich habe nur keinen gesehen, verstehst du?“
Willi nickte besorgt. „Klar. Weihnachten drehen ja manche durch. Armer Kerl.“

irgendwie ist dieser schluß rätslhaft, oder verstehe nur ich das nicht?

liebe grüße suzah
 

Midian

Mitglied
Hallo Suzah
Danke für deine Antwort auf den Weihnachtsengel. Diesen Angelo hat es niemals gegeben. Dieter hat ihn sich in seiner Einsamkeit entweder ausgedacht oder eingebildet, das überlasse ich dem Leser.
 
S

suzah

Gast
hallo midan,
dass er sich angelo nur in seiner fantasie erdacht hatte, darauf kam ich nicht, geht kaum aus dem text hevor. liegt aber vielleicht an mir. bin gespannt, wie andere das sehen.

liebe grüße suzah
 
D

Dominik Klama

Gast
Besser als Dominosteine

Das ist jetzt eine sehr schöne Geschichte, gefällt mir.

Wie in midians Roman „Der Duft des Fremden“ (siehe: „Lange Texte“) kommt hier ein schwules Café von einer Art vor, die ich überhaupt nicht kenne. Ich war aber schon zehn Jahre in keinem schwulen Café mehr. Dieses midian-Café geht anscheinend so, dass es da, ähnlich wie früher Tische für Nichtraucher und Raucher, verschiedene Tische gibt für Leute, die allein bleiben wollen, und solche, die Kontakt suchen. Außerdem, das aber nur in erwähntem Roman, gibt es Tische, wo auf der Speisekarte steht, dass sie für Schwule (also nicht für Frauen, Lesben, hereingeschneite Heteros) reserviert seien. Die Cafés, die ich kenne, sind ganz genau so wie jedes andre Café, bloß, dass mehr Männer drin sitzen (aber nicht ausschließlich), dass die Bedienung hübscher und schwuchteliger ist und dass vielleicht ein Herb-Ritts-Poster an der Wand hängt.

Suzahs Verwunderung darüber, dass er glaubt, sich vor dem Personal rechtfertigen zu müssen, nein, er nehme den jetzt zwar mit, sie gingen schlafen, aber, nein, doch nicht miteinander, und Suzah sagt dann: „Wieso? Wissen doch alle, dass er schwul ist“, die erinnert mich an das, was mich zu Beginn von „Der Duft des Fremden“ auch bei midian selbst gestört hatte. Beide Frauen, also sowohl midian wie Suzah, scheinen zu glauben, dass Schwule, die sich irgendwo neu kennen lernen und sich sympathisch finden und dann gemeinsam weggehen von dem Ort, an dem sie sich getroffen haben, jetzt ganz schnell miteinander ins Bett gehen und Sex haben werden. Das ist exakt das, was auch jeder Schwule denkt, der so eine Begegnung zufällig mitbekommen hat, also auch die Wirte, die Kellner in solchen Lokalen. Es ist auch immer wieder mal der Fall. Aber so sicher, dass man davon ausgehen kann, „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ liege diesbezüglich vor, ist es überhaupt nicht. Schwule sind auch nur Menschen. Und Menschen verbindet manchmal auch etwas anderes als Sex. Er zeigt ihm vielleicht ja nur seine Münzensammlung.

Im Gegensatz zu „Der Duft des Fremden“, wo ich sagte, das wird schwierig, das richtige Publikum für das gibt es eigentlich nirgends, ist „Der Weihnachtsengel“ eine Sache, an der sowohl schwule Männer wie Frauen wie sogar auch heterosexuelle Männer ihre Freude finden könnten. Allerdings darf midian, wenn sie sich bei schwulen Lesern Liebkind machen wollte, nicht mehr lange so weiterschreiben. An ihre Einsamkeit, die für sehr viele Schwule, vielleicht sogar die Mehrheit, einen ständigen Begleiter darstellt, möchten die Schwulen nämlich nicht allzu oft erinnert werden.

Wobei diese Einsamkeit ja (unter manchem anderem) auch damit etwas zu tun hat, dass Schwule sich so sehr für sich selbst und so wenig für andere Menschen interessieren. Nehmen wir einfach mal an, dieser Angelo sei real und suchte tatsächlich den Kontakt zu Dieter... Aber da fängt es schon an. Selbstverständlich ist die Welt voll mit Schwulen von Dieters Art. Das sind dann auch die, die kaum jemandem je als Schwule ins Auge stechen. Obwohl hier ja schon drauf abgehoben wird, er sei auffallend feminin. Aber, nehmen wir mal an, er sei es nicht. Die meisten Schwulen von Dieters Alter, Beruf und Lebensstil sind es nicht. Dann sieht ihn einfach niemand. Und da ihn niemand sieht, sieht ihn auch niemand als Schwulen. Auch die Schwulen nicht. Jedoch sieht ihn natürlich jeder als Schwulen, sobald er in so einem Lokal sitzt. Aber die Angelos dieser Welt sind Meister darin, ihn auch dort keine einzige Sekunde zu sehen. Also, sollte so ein Angelo so einen Dieter tatsächlich mal ansprechen, dann hat Dieter sofort folgendes Problem: „Aha. Das ist ein Stricher. Der will was verdienen an mir. Aber, will ich denn einen Stricher? Hab ich das denn nötig?“

Es kommt natürlich schon vor, so ähnlich wie hier. Hab ich selber schon öfter erlebt. Man ist dann sehr verwundert, sehr verwirrt und auch irgendwie sehr beglückt, wenn einem als Dieter so etwas zuteil wird. (Gibt eine Geschichte von mir, in der das so ähnlich ist: „Manchmal schon auch etwas verwöhnt sein“.)

Ja, aber wenn das so kommt, dann stellt sich die Schicksalsfrage, schläft der Knabe auf dem Sofa oder schläft er bei mir im Bett, natürlich sogleich am ersten Abend, nicht erst am zweiten. Bei mir haben schon Leute gleich neben meinem Bett auf dem Teppichboden geschlafen, obwohl das Bett recht breit ist. Ich hatte ihnen die Entscheidung ein wenig schwerer machen wollen, zu meinen Gunsten, indem ich behauptet hatte, ich verfügte weder über einen Schlafsack noch über eine Luftmatratze. Obwohl ich beides habe. Dass ich kein Sofa habe, konnten sie sehen. Da sie sich dann für den Boden und Schlafen in vollständiger Bekleidung entschieden, konnte ich schlecht doch noch mit der Luftmatratze kommen, fand ich.

Nun mögen sich die beiden also und sie wollen dann auch ein wenig reden miteinander. Da erzählt Dieter Schwänke aus dem Büroalltag. Das geht gar nicht. Weil nämlich so ein Angelo todsicher nicht auch so einen Arbeitsplatz hat wie Dieter. Und, weil Schwule sich vor allem für sich interessieren und ständig von sich erzählen wollen und wollen, dass man dann gebannt zuhört, darum mag so ein Angelo es gar nicht, wenn so ein Dieter von etwas wie Büro erzählt. Das wird Dieter schnell merken. Er wird ihn unterbrechen und von ganz etwas anderem anfangen.

Auch kenne ich überhaupt keine Schwulen, die sich über Arbeitslosigkeit unterhalten. Entweder einer von ihnen ist es, das wäre in diesem Fall Angelo, dann hakt man das kurz mal ab und sagt etwas Nettes, das ihn freut, aber man vertieft das auf keinen Fall, sonst würde es entweder so rauskommen, dass man selber sich vielleicht irgendwann verpflichten müsste, dem Arbeitslosen in seiner Not zu helfen, was nicht unbedingt das ist, was Schwule sich von einem neuen Freund erwarten, oder aber, viel wahrscheinlicher, es würden sich sehr schnell gewaltige Unterschiede auftun, wie der mit der Arbeit und der ohne sie über Arbeitslosigkeit und Arbeitslose denken. Schwule aber suchen nicht den Streit, die Debatte, die wirklich um was geht, sondern die Harmonie, das legere Geplauder. Wären sie aber nun beide in Arbeit, dann würde sie Arbeitslosigkeit als Schwule in etwa so interessieren wir Fußball, Genforschung, die Beschneidung der Frauen in Afrika, die Fischfangquoten rund um Island.

Kicher, kicher. Ja, der Dildo. Ich liebe diese midian. Die bringt mich auf Sachen, über die ich von mir ganz alleine aus nie sprechen würde. Eine solche Gerätschaft besaß ich über Jahrzehnte hinweg niemals. Ich hielt das immer für widerlich. Angesichts eines speziellen Lovers ließ ich mich eines Tages eines Besseren belehren. Dildo, das ist ein sehr nützliches, große Freude spendendes Instrument. Vor allem, wenn man alleine ist wie Dieter. Jedoch, will mir scheinen, sind automatisch sich bewegende Geräte, solche, für die man Batterien braucht, absolut unnötig. Dies scheint mir etwas zu sein, was eher Frauen benötigen. Warum auch immer. Ich kenne mich da nicht so aus. Ansonsten: Wir wissen ja, zwischenzeitlich hat Media Markt den Elektromarkt mehr oder weniger unter sich verteilt. Hier in der Gegend haben die vor Weihnachten nicht grade lange geöffnet. Dann geht man halt zum Türken. Die haben notfalls alles.
 



 
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