Man schrieb den 23. Dezember, und am Vormittag hatte es geschneit. Weiße Weihnachten? Diesen Traum hatte der nachmittags einsetzende Nieselregen weggewaschen.
Dieter L. sah aus dem Fenster. Der Himmel war genauso verhangen wie seine Stimmung. Um Nikolaus herum hatte er noch versucht, die heraufziehende Gemütskrise, die ihn seit Jahren im Dezember überfiel, zu verharmlosen. Er hatte die Pfefferkuchen ignoriert und die Weihnachtsmänner, die Festbeleuchtung in den Straßen und die Weihnachtsbaumverkäufer. Stattdessen hatte er Akten aus der Firma mit nach Haus geschleppt. Dieter L. war Versicherungskaufmann. Kein unehrenhafter Beruf, gewiss nicht, aber auch nichts Schillerndes.
Er war um die vierzig, mittelgroß, hatte pfützenfarbenes Haar, Dackelaugen und einen weichen Mund. Ein Mann, den man übersah, was schließlich nicht nur Nachteile hatte, aber Dieter war schwul und das, was man eine Tunte nennt. Und weil es nun einmal so war, wäre Dieter gern schillernd gewesen. Nicht gerade eine Drag Queen, aber vielleicht Werbefachmann oder Maskenbildner.
Im Büro war er gelitten. Irgendwann hatte sich auch der letzte Tunten-Witz überlebt, und schwulenfeindlich war von den Herren Kollegen selbstverständlich niemand – ich bitte Sie! Man ist doch aufgeklärt heutzutage! Der Dieter ist ein richtig Netter, sagten sie, und Dieter war nett. Er passte auf Hund oder Katze auf, holte für Oma Lienau im vierten Stock die Zeitung – mache ich doch gern – und verschenkte massenhaft Zigaretten.
Dieter sah aus dem Fenster und wusste, dass er es nicht mehr verdrängen konnte, das Fest der Liebe. Unaufhaltsam schlitterte er hinein – genau genommen seit Mitte September, da lagen die ersten Lebkuchen in den Kaufhäusern. Dieter seufzte und zündete die vier Adventskerzen an. Es wurde jetzt ja so früh dunkel. Danach machte er sich einen Kaffee, und da waren sie alle: die Spekulatius, die Dominosteine und die Servietten mit Tannenzweigen und goldenen Engeln drauf. Wie war das bloß alles in sein Haus gekommen? Was für ein unwiderstehlicher Zwang hatte ihn da gestern Abend noch ins Kaufhaus getrieben, in das goldglitzernde, selige Weihnachtsgewühl, hatte ihn hastig zusammenraffen lassen, was irgendwie nach Weihnachten roch – und leise rieselten die Weihnachtslieder. Kinderseligkeit! Geborgenheit herüberretten aus einer verklärten Zeit. Illusionen. Aber wer brauchte sie nicht? Dieter brauchte eine Menge.
Nach dem Kaffee zog er seine gefütterte Windjacke an und ging ins Knossos. Es war schon dunkel, ein unangenehm kalter Wind blies ihm ins Gesicht. Zum Glück war das Knossos, ein Kaffeeklatschtreff für Lesben und Schwule, nicht weit. Dieter schlüpfte rasch ins Warme, murmelte „Mistwetter“ und nickte Jan, dem Wirt, flüchtig zu. Der nickte zurück. „Einen Milchkaffee wie immer?“
„Wie immer, heiß, aber nicht so süß.“
„Ein Stück Kuchen dazu? Ist schließlich Weihnachten.“
„Danke, danke. Ich muss auf meine Linie achten.“ Dieter sah sich um, aber niemand grinste, denn die Kontakttische gleich am Eingang waren leer. „Ist morgen geöffnet?“ fragte Dieter.
Jan nickte. „Wie immer.“
Dieter setzte sich in die Ecke, wo die Zeitschriften auslagen, und blätterte flüchtig in ihnen. Er kannte sie auswendig, aber so konnte er die anderen Besucher besser beobachten. Heute gab es nicht viel zu sehen. Am anderen Ende saßen zwei junge Burschen, die sich verliebt in die Augen sahen. Am Nebentisch trank Willi Wohlert, Hausmeister und hetero – ‚Eure Atmosphäre hat irgendwie Stil, Jungs’ – sein abendliches Helles. Als er Dieter bemerkte, kam er herüber. „Na Dietlinde? Schon alle Geschenke beisammen?“
Dieter störte es nicht, wenn man ihn Dietlinde nannte, nur bei Willi. Er führte die Hand theatralisch an die Stirn. „Gut, dass du mich erinnerst, die Batterien in meinem Dildo sind leer. Weißt du, wo man um diese Zeit noch Batterien bekommt? Diese starken, langlebigen Dinger, na du weißt schon.“
Willi wurde prompt rot. „Äh – du meinst - ?“
„Ja, für die machen sie doch im Fernsehen Reklame. Ich bin aber auch ein Vergesslicher! Immer auf den letzten Drücker – ah, da kommt mein Milchkaffee.“ Dieter strahlte Willi an. „Was wäre ein Weihnachtsfest ohne Dildo? Gleich morgen werde ich – „
Willi räusperte sich, erhob sich und rief zu Jan hinüber: „Du, ich muss dich mal wegen der Heizungsanlage sprechen.“
Dieter sah ihm nach, rümpfte die Nase, griff sich die Zeitschrift „Mannsbilder“ und las zum dritten Mal die Geschichte von Klaus, dem mutigen schwulen Bäckergehilfen, der ein kleines Mädchen aus dem Wasser gezogen hatte. Dieter seufzte und las weiter: Katholisch und schwul – na und? Schwule wehren sich – werden Skinheads jetzt zu ihren Opfern? Ein schwuler Männerchor sucht noch Mitglieder, eine schwule Fußballelf sucht noch Stürmer – „suche ich auch“, murmelte Dieter.
Morgen ist Weihnachten und du bist wieder allein.
‚Suche niedlichen Weihnachtsengel zum gemeinsamen Kerzenanzünden.’
‚Fessle mich an den Weihnachtsbaum! Bin unterwürfig, keine Tabus, mag Lebkuchen.’
Ich auch, dachte Dieter.
Morgen ist Weihnachten.
‚Weihnachten allein? Das muss nicht sein. Komme ins Haus – als Knecht Ruprecht oder als Christkind.’
Dieter schloss die Augen. Komme ins Haus –
Als er sie wieder öffnete, stand ein junger Mann vor ihm. Halblanges, blondes Haar, Augen so blau wie ein Frühlingshimmel, bekleidet mit Jeans und einem dunkelblauen Pulli. „Darf ich mich zu dir setzen?“
Dieter blinzelte. Das Café war fast leer, und dieser hübsche Junge – Dieter machte eine graziöse Handbewegung. „Mein Freund scheint sich zu verspäten, also – warum nicht?“
„Ich hoffe, er ist nicht eifersüchtig.“ Der junge Mann lächelte. „Ich bin Angelo. Ich sitze nicht gern allein herum, mag mich gern unterhalten.“
„Ich auch, oh, ich auch.“ Und das mit dir, dachte Dieter, ich bin ja ein richtiger Glückspilz. Wahrscheinlich ist ihm kurz vor dem Fest sein Freund weggelaufen. Auch den Jungen und Schönen kann das passieren. „Ich heiße Dieter. Bist du zum ersten Mal im Knossos? Ich kenne sonst jeden, der hierher kommt.“
„Das ist richtig, ich bin nicht von hier.“
„Möchtest du was trinken?“
„Ein Glühwein wäre gut. Es ist so kalt draußen.“
„Du hättest eine Jacke überziehen sollen.“ Dieter winkte. „Jan? Einen Glühwein für meinen jungen Freund hier und mir auch einen.“
Dann unterhielten sie sich. Sie redeten über die Arbeitslosigkeit, über Dieters schwulen Zahnarzt und über das schlechte Fernsehprogramm. Sie tranken noch einen Glühwein, Dieter war beschwipst. Sie sprachen über Musik, Bücher und Malerei, hier wusste Dieter Bescheid, Angelo auch, und sie hatten sogar die gleichen Vorlieben. Kennst du das? Hast du das gelesen? Muss man kennen. Muss man gelesen haben. Sie tranken einen dritten Glühwein, und es wurde sehr spät. Jan kam und kassierte. Dieter zahlte für beide.
„Ich habe noch kein Zimmer gefunden“, gestand Angelo.
Dieters Augen glänzten wie Tannenbaumkugeln. „Macht doch nichts, du kannst bei mir übernachten.“
„Frohe – Weihnachten, Jan“, stammelte er, als er mit unsicheren Schritten hinaus wankte. „Angelo und ich müssen jetzt in die Heia, aber nicht, was du denkst, nicht was du – oh!“ Dieter hielt sich am Tresen fest. „Nicht, was du denkst, Jan.“
„Frohes Fest, Dieter.“ Jan sah ihm nach und kratzte sich an der Augenbraue.
Der Morgen des 24. Dezember war genauso grau wie der gestrige, aber für Dieter schien die Sonne. Die Sonne, das war der junge, schlanke Angelo, neben dem er erwacht war. Leise erhob sich Dieter und schlich in die Küche. Etwas brummte sein Schädel, das war der Glühwein, aber das machte nichts. Ein starker Kaffee würde helfen, wenn Angelo nur zum Frühstück blieb!
Dieter machte ein Frühstück, das auch den hartnäckigsten Schläfer aus dem Bett trieb. Toast, gebratener Schinken, Eier, Butter, Marmelade, Cornflakes, Orangensaft, Kaffee und Sahne. Dieter hörte Angelo im Bad, bald darauf kam er, den bernsteinfarbenen Körper in Dieters Bademantel gehüllt, mit noch feuchtem Haar, duftend nach Dieters Shampoo, und er begrüßte Dieter mit einem Kuss auf die Wange. „Toll, dein Frühstück. Wer soll das bloß alles aufessen?“
„Nun sag nicht, diese kleine Aufmerksamkeit sei der Rede wert“, sagte Dieter und machte eine Handbewegung, als scheuche er Fliegen dort. „Hoffentlich schmeckt es dir.“
Es schmeckte Angelo, und sie dehnten das Frühstück lange aus. Dieter erzählte Schwänke aus dem Büroalltag, Angelo lachte herzlich darüber. Angelo ging in die Küche und machte neuen Toast, er brühte neuen Kaffee auf, er schenkte Dieter ein. „Noch etwas Sahne?“
„Ja bitte.“ Dieters Stimme zitterte. Geh noch nicht, dachte er. Geh bitte noch nicht. Nur ein Stündchen noch. O Gott, wie die Zeit rast. Da legte sich eine warme Hand auf seinen Arm. „Darf ich heute hier bleiben?“
„Du willst – ?“
„Ich würde gern mit dir Heiligabend verbringen, Dieter.“
Jesus, Maria und Josef! dachte Dieter. „Ich habe aber keinen Baum“, stotterte er.
Es war eine seiner dümmsten Antworten, aber es wurde einer der schönsten Abende seines Lebens. Die goldenen Engel auf den Weihnachtsservietten lächelten, die Kerzen auf dem Adventskranz strahlten wie eine Monstranz. Dieter hatte eine CD mit Weihnachtsliedern eingeschoben. Sie saßen auf dem Sofa, Arm in Arm, und es war ein tiefer Frieden in Dieter.
„Jetzt ist eigentlich Bescherung“, flüsterte Dieter, „und ich habe nichts für dich.“
„Du hast mich aufgenommen. Ist das nichts? Ich bin ein Fremder, könnte drogenabhängig sein oder ein Stricher.“
„Das bist du nicht. Du bist – „ Dieter suchte nach Worten.
„Ich bin Angelo“, lächelte er. „Und ich will dir etwas zu Weihnachten schenken.“ Er langte in seine Jeanstasche und holte eine Münze hervor.
Dieter betrachtete sie andächtig. „Sie ist schön, aber woher ist sie? Ich kenne sie nicht.“
Angelo lächelte spitzbübisch. „Ich habe sie auf dem Flohmarkt erstanden. Ich glaube, sie ist wertvoll.“
Dieters Hand schloss sich darum. „Das Wertvollste“, murmelte er.
Um Mitternacht hörten sie die Glocken läuten. Die Kerzen waren niedergebrannt, und sie gingen zu Bett. „Gute Nacht“, sagte Dieter. „Gute Nacht“, sagte Angelo. Er legte sich auf das Sofa, und Dieter ging ins Schlafzimmer. Aber er konnte nicht einschlafen. Da hörte er die Tür gehen. Angelo stand auf der Schwelle, und er hatte rein gar nichts an. „Dieter?“ flüsterte er. „Glaubst du, dass es sich schickt in dieser heiligen Nacht?“
Dieter konnte darauf rein gar nichts antworten.
In der Nacht hatte es geschneit. Nicht viel, aber es reichte, die graue Welt ein bisschen freundlicher zu machen. Angelo stand schon in der Küche und pfiff Stille Nacht, heilige Nacht. Er schnitt den Christstollen auf. Dieter rieb sich die Augen. Angelo war also immer noch da.
Nach dem Frühstück machten sie einen Spaziergang im Stadtpark, am Nachmittag zeigte Dieter Angelo seine Bücher und seine CDs, abends sahen sie zusammen fern. Sie redeten und lachten miteinander, sie küssten sich, und sie liebten sich. Und nie fragte Dieter: Wann musst du gehen?
Am Morgen des dritten Tages erwachte Dieter in einem leeren Bett. Angelo war fort. Ohne Abschied, ohne Kuss, ohne eine Botschaft. Dieter blieb wie niedergeschmettert liegen. Was hast du denn erwartet? schalt er sich. Dass dieser Junge bei dir bleibt, dass du mit ihm Pläne schmieden kannst? Er hat vorübergehend eine Bleibe gesucht, und nun ist es vorbei. Vorbei, Dieter.
Die Zeit zwischen den Jahren ist geheimnisvoll, die wilde Schar treibt ihr Unwesen, man darf keine Wäsche waschen. Für Dieter war es einfach eine beschissene Zeit. Während das Lametta in aller Eile gegen Knallfrösche und Luftschlangen ausgetauscht wurde, saß er im Knossos auf seinem Stammplatz hinter den ausgelesenen Zeitschriften und starrte in seinen Milchkaffee.
Willi, der Hausmeister, stand am Tresen und unterhielt sich mit Jan, dem Wirt. Sie sahen hinüber zu Dieter. „Was hat er denn?“ fragte Willi. „Der Junge sieht gar nicht gut aus.“
Jan machte eine deutliche Handbewegung. „Dieter, der spinnt in letzter Zeit. Die Einsamkeit macht ihn fertig.“
„Aber mir hat er erzählt, er habe einen neuen Freund. Mit dem hat er auch Weihnachten verbracht.“
„Einen, den er Angelo nennt?“
„Genau.“
„Nun ja – „ Jan kratzte sich den kahl geschorenen Schädel. Dann beugte er sich zu dem Hausmeister und flüsterte: „Das ist es eben. Am Tag vor Heiligabend saß Dieter bis nach Mitternacht ganz allein da drüben und führte Selbstgespräche. Er bestellte immer zwei Glühweine auf einmal, und als er ging, war er total blau. Er sagte, er gehe jetzt mit seinem Freund Angelo nach Hause. Ich habe nur keinen gesehen, verstehst du?“
Willi nickte besorgt. „Klar. Weihnachten drehen ja manche durch. Armer Kerl.“
Dieter kam mit seiner leeren Tasse und stellte sie auf den Tresen. „Ich gehe jetzt, Jan. Ach noch etwas.“ Er kramte umständlich in seiner Hosentasche und legte eine Münze auf den Tresen. „Die hat mir Angelo geschenkt. Ich habe sie einem Fachmann gezeigt. Stellt euch vor, sie wurde sechshundert vor Christus in Lydien geprägt. Eine Rarität, damals gab es nämlich noch kein geprägtes Geld. König Kroisos hatte – was ist denn? Was guckt ihr so? Ach, von Geschichte habt ihr beiden doch keine Ahnung.“ Dieter umschloss die Münze mit seiner Faust. „Die ist tausend Euro wert, aber ich verkaufe sie nicht. Niemals.“
Dieter L. sah aus dem Fenster. Der Himmel war genauso verhangen wie seine Stimmung. Um Nikolaus herum hatte er noch versucht, die heraufziehende Gemütskrise, die ihn seit Jahren im Dezember überfiel, zu verharmlosen. Er hatte die Pfefferkuchen ignoriert und die Weihnachtsmänner, die Festbeleuchtung in den Straßen und die Weihnachtsbaumverkäufer. Stattdessen hatte er Akten aus der Firma mit nach Haus geschleppt. Dieter L. war Versicherungskaufmann. Kein unehrenhafter Beruf, gewiss nicht, aber auch nichts Schillerndes.
Er war um die vierzig, mittelgroß, hatte pfützenfarbenes Haar, Dackelaugen und einen weichen Mund. Ein Mann, den man übersah, was schließlich nicht nur Nachteile hatte, aber Dieter war schwul und das, was man eine Tunte nennt. Und weil es nun einmal so war, wäre Dieter gern schillernd gewesen. Nicht gerade eine Drag Queen, aber vielleicht Werbefachmann oder Maskenbildner.
Im Büro war er gelitten. Irgendwann hatte sich auch der letzte Tunten-Witz überlebt, und schwulenfeindlich war von den Herren Kollegen selbstverständlich niemand – ich bitte Sie! Man ist doch aufgeklärt heutzutage! Der Dieter ist ein richtig Netter, sagten sie, und Dieter war nett. Er passte auf Hund oder Katze auf, holte für Oma Lienau im vierten Stock die Zeitung – mache ich doch gern – und verschenkte massenhaft Zigaretten.
Dieter sah aus dem Fenster und wusste, dass er es nicht mehr verdrängen konnte, das Fest der Liebe. Unaufhaltsam schlitterte er hinein – genau genommen seit Mitte September, da lagen die ersten Lebkuchen in den Kaufhäusern. Dieter seufzte und zündete die vier Adventskerzen an. Es wurde jetzt ja so früh dunkel. Danach machte er sich einen Kaffee, und da waren sie alle: die Spekulatius, die Dominosteine und die Servietten mit Tannenzweigen und goldenen Engeln drauf. Wie war das bloß alles in sein Haus gekommen? Was für ein unwiderstehlicher Zwang hatte ihn da gestern Abend noch ins Kaufhaus getrieben, in das goldglitzernde, selige Weihnachtsgewühl, hatte ihn hastig zusammenraffen lassen, was irgendwie nach Weihnachten roch – und leise rieselten die Weihnachtslieder. Kinderseligkeit! Geborgenheit herüberretten aus einer verklärten Zeit. Illusionen. Aber wer brauchte sie nicht? Dieter brauchte eine Menge.
Nach dem Kaffee zog er seine gefütterte Windjacke an und ging ins Knossos. Es war schon dunkel, ein unangenehm kalter Wind blies ihm ins Gesicht. Zum Glück war das Knossos, ein Kaffeeklatschtreff für Lesben und Schwule, nicht weit. Dieter schlüpfte rasch ins Warme, murmelte „Mistwetter“ und nickte Jan, dem Wirt, flüchtig zu. Der nickte zurück. „Einen Milchkaffee wie immer?“
„Wie immer, heiß, aber nicht so süß.“
„Ein Stück Kuchen dazu? Ist schließlich Weihnachten.“
„Danke, danke. Ich muss auf meine Linie achten.“ Dieter sah sich um, aber niemand grinste, denn die Kontakttische gleich am Eingang waren leer. „Ist morgen geöffnet?“ fragte Dieter.
Jan nickte. „Wie immer.“
Dieter setzte sich in die Ecke, wo die Zeitschriften auslagen, und blätterte flüchtig in ihnen. Er kannte sie auswendig, aber so konnte er die anderen Besucher besser beobachten. Heute gab es nicht viel zu sehen. Am anderen Ende saßen zwei junge Burschen, die sich verliebt in die Augen sahen. Am Nebentisch trank Willi Wohlert, Hausmeister und hetero – ‚Eure Atmosphäre hat irgendwie Stil, Jungs’ – sein abendliches Helles. Als er Dieter bemerkte, kam er herüber. „Na Dietlinde? Schon alle Geschenke beisammen?“
Dieter störte es nicht, wenn man ihn Dietlinde nannte, nur bei Willi. Er führte die Hand theatralisch an die Stirn. „Gut, dass du mich erinnerst, die Batterien in meinem Dildo sind leer. Weißt du, wo man um diese Zeit noch Batterien bekommt? Diese starken, langlebigen Dinger, na du weißt schon.“
Willi wurde prompt rot. „Äh – du meinst - ?“
„Ja, für die machen sie doch im Fernsehen Reklame. Ich bin aber auch ein Vergesslicher! Immer auf den letzten Drücker – ah, da kommt mein Milchkaffee.“ Dieter strahlte Willi an. „Was wäre ein Weihnachtsfest ohne Dildo? Gleich morgen werde ich – „
Willi räusperte sich, erhob sich und rief zu Jan hinüber: „Du, ich muss dich mal wegen der Heizungsanlage sprechen.“
Dieter sah ihm nach, rümpfte die Nase, griff sich die Zeitschrift „Mannsbilder“ und las zum dritten Mal die Geschichte von Klaus, dem mutigen schwulen Bäckergehilfen, der ein kleines Mädchen aus dem Wasser gezogen hatte. Dieter seufzte und las weiter: Katholisch und schwul – na und? Schwule wehren sich – werden Skinheads jetzt zu ihren Opfern? Ein schwuler Männerchor sucht noch Mitglieder, eine schwule Fußballelf sucht noch Stürmer – „suche ich auch“, murmelte Dieter.
Morgen ist Weihnachten und du bist wieder allein.
‚Suche niedlichen Weihnachtsengel zum gemeinsamen Kerzenanzünden.’
‚Fessle mich an den Weihnachtsbaum! Bin unterwürfig, keine Tabus, mag Lebkuchen.’
Ich auch, dachte Dieter.
Morgen ist Weihnachten.
‚Weihnachten allein? Das muss nicht sein. Komme ins Haus – als Knecht Ruprecht oder als Christkind.’
Dieter schloss die Augen. Komme ins Haus –
Als er sie wieder öffnete, stand ein junger Mann vor ihm. Halblanges, blondes Haar, Augen so blau wie ein Frühlingshimmel, bekleidet mit Jeans und einem dunkelblauen Pulli. „Darf ich mich zu dir setzen?“
Dieter blinzelte. Das Café war fast leer, und dieser hübsche Junge – Dieter machte eine graziöse Handbewegung. „Mein Freund scheint sich zu verspäten, also – warum nicht?“
„Ich hoffe, er ist nicht eifersüchtig.“ Der junge Mann lächelte. „Ich bin Angelo. Ich sitze nicht gern allein herum, mag mich gern unterhalten.“
„Ich auch, oh, ich auch.“ Und das mit dir, dachte Dieter, ich bin ja ein richtiger Glückspilz. Wahrscheinlich ist ihm kurz vor dem Fest sein Freund weggelaufen. Auch den Jungen und Schönen kann das passieren. „Ich heiße Dieter. Bist du zum ersten Mal im Knossos? Ich kenne sonst jeden, der hierher kommt.“
„Das ist richtig, ich bin nicht von hier.“
„Möchtest du was trinken?“
„Ein Glühwein wäre gut. Es ist so kalt draußen.“
„Du hättest eine Jacke überziehen sollen.“ Dieter winkte. „Jan? Einen Glühwein für meinen jungen Freund hier und mir auch einen.“
Dann unterhielten sie sich. Sie redeten über die Arbeitslosigkeit, über Dieters schwulen Zahnarzt und über das schlechte Fernsehprogramm. Sie tranken noch einen Glühwein, Dieter war beschwipst. Sie sprachen über Musik, Bücher und Malerei, hier wusste Dieter Bescheid, Angelo auch, und sie hatten sogar die gleichen Vorlieben. Kennst du das? Hast du das gelesen? Muss man kennen. Muss man gelesen haben. Sie tranken einen dritten Glühwein, und es wurde sehr spät. Jan kam und kassierte. Dieter zahlte für beide.
„Ich habe noch kein Zimmer gefunden“, gestand Angelo.
Dieters Augen glänzten wie Tannenbaumkugeln. „Macht doch nichts, du kannst bei mir übernachten.“
„Frohe – Weihnachten, Jan“, stammelte er, als er mit unsicheren Schritten hinaus wankte. „Angelo und ich müssen jetzt in die Heia, aber nicht, was du denkst, nicht was du – oh!“ Dieter hielt sich am Tresen fest. „Nicht, was du denkst, Jan.“
„Frohes Fest, Dieter.“ Jan sah ihm nach und kratzte sich an der Augenbraue.
Der Morgen des 24. Dezember war genauso grau wie der gestrige, aber für Dieter schien die Sonne. Die Sonne, das war der junge, schlanke Angelo, neben dem er erwacht war. Leise erhob sich Dieter und schlich in die Küche. Etwas brummte sein Schädel, das war der Glühwein, aber das machte nichts. Ein starker Kaffee würde helfen, wenn Angelo nur zum Frühstück blieb!
Dieter machte ein Frühstück, das auch den hartnäckigsten Schläfer aus dem Bett trieb. Toast, gebratener Schinken, Eier, Butter, Marmelade, Cornflakes, Orangensaft, Kaffee und Sahne. Dieter hörte Angelo im Bad, bald darauf kam er, den bernsteinfarbenen Körper in Dieters Bademantel gehüllt, mit noch feuchtem Haar, duftend nach Dieters Shampoo, und er begrüßte Dieter mit einem Kuss auf die Wange. „Toll, dein Frühstück. Wer soll das bloß alles aufessen?“
„Nun sag nicht, diese kleine Aufmerksamkeit sei der Rede wert“, sagte Dieter und machte eine Handbewegung, als scheuche er Fliegen dort. „Hoffentlich schmeckt es dir.“
Es schmeckte Angelo, und sie dehnten das Frühstück lange aus. Dieter erzählte Schwänke aus dem Büroalltag, Angelo lachte herzlich darüber. Angelo ging in die Küche und machte neuen Toast, er brühte neuen Kaffee auf, er schenkte Dieter ein. „Noch etwas Sahne?“
„Ja bitte.“ Dieters Stimme zitterte. Geh noch nicht, dachte er. Geh bitte noch nicht. Nur ein Stündchen noch. O Gott, wie die Zeit rast. Da legte sich eine warme Hand auf seinen Arm. „Darf ich heute hier bleiben?“
„Du willst – ?“
„Ich würde gern mit dir Heiligabend verbringen, Dieter.“
Jesus, Maria und Josef! dachte Dieter. „Ich habe aber keinen Baum“, stotterte er.
Es war eine seiner dümmsten Antworten, aber es wurde einer der schönsten Abende seines Lebens. Die goldenen Engel auf den Weihnachtsservietten lächelten, die Kerzen auf dem Adventskranz strahlten wie eine Monstranz. Dieter hatte eine CD mit Weihnachtsliedern eingeschoben. Sie saßen auf dem Sofa, Arm in Arm, und es war ein tiefer Frieden in Dieter.
„Jetzt ist eigentlich Bescherung“, flüsterte Dieter, „und ich habe nichts für dich.“
„Du hast mich aufgenommen. Ist das nichts? Ich bin ein Fremder, könnte drogenabhängig sein oder ein Stricher.“
„Das bist du nicht. Du bist – „ Dieter suchte nach Worten.
„Ich bin Angelo“, lächelte er. „Und ich will dir etwas zu Weihnachten schenken.“ Er langte in seine Jeanstasche und holte eine Münze hervor.
Dieter betrachtete sie andächtig. „Sie ist schön, aber woher ist sie? Ich kenne sie nicht.“
Angelo lächelte spitzbübisch. „Ich habe sie auf dem Flohmarkt erstanden. Ich glaube, sie ist wertvoll.“
Dieters Hand schloss sich darum. „Das Wertvollste“, murmelte er.
Um Mitternacht hörten sie die Glocken läuten. Die Kerzen waren niedergebrannt, und sie gingen zu Bett. „Gute Nacht“, sagte Dieter. „Gute Nacht“, sagte Angelo. Er legte sich auf das Sofa, und Dieter ging ins Schlafzimmer. Aber er konnte nicht einschlafen. Da hörte er die Tür gehen. Angelo stand auf der Schwelle, und er hatte rein gar nichts an. „Dieter?“ flüsterte er. „Glaubst du, dass es sich schickt in dieser heiligen Nacht?“
Dieter konnte darauf rein gar nichts antworten.
In der Nacht hatte es geschneit. Nicht viel, aber es reichte, die graue Welt ein bisschen freundlicher zu machen. Angelo stand schon in der Küche und pfiff Stille Nacht, heilige Nacht. Er schnitt den Christstollen auf. Dieter rieb sich die Augen. Angelo war also immer noch da.
Nach dem Frühstück machten sie einen Spaziergang im Stadtpark, am Nachmittag zeigte Dieter Angelo seine Bücher und seine CDs, abends sahen sie zusammen fern. Sie redeten und lachten miteinander, sie küssten sich, und sie liebten sich. Und nie fragte Dieter: Wann musst du gehen?
Am Morgen des dritten Tages erwachte Dieter in einem leeren Bett. Angelo war fort. Ohne Abschied, ohne Kuss, ohne eine Botschaft. Dieter blieb wie niedergeschmettert liegen. Was hast du denn erwartet? schalt er sich. Dass dieser Junge bei dir bleibt, dass du mit ihm Pläne schmieden kannst? Er hat vorübergehend eine Bleibe gesucht, und nun ist es vorbei. Vorbei, Dieter.
Die Zeit zwischen den Jahren ist geheimnisvoll, die wilde Schar treibt ihr Unwesen, man darf keine Wäsche waschen. Für Dieter war es einfach eine beschissene Zeit. Während das Lametta in aller Eile gegen Knallfrösche und Luftschlangen ausgetauscht wurde, saß er im Knossos auf seinem Stammplatz hinter den ausgelesenen Zeitschriften und starrte in seinen Milchkaffee.
Willi, der Hausmeister, stand am Tresen und unterhielt sich mit Jan, dem Wirt. Sie sahen hinüber zu Dieter. „Was hat er denn?“ fragte Willi. „Der Junge sieht gar nicht gut aus.“
Jan machte eine deutliche Handbewegung. „Dieter, der spinnt in letzter Zeit. Die Einsamkeit macht ihn fertig.“
„Aber mir hat er erzählt, er habe einen neuen Freund. Mit dem hat er auch Weihnachten verbracht.“
„Einen, den er Angelo nennt?“
„Genau.“
„Nun ja – „ Jan kratzte sich den kahl geschorenen Schädel. Dann beugte er sich zu dem Hausmeister und flüsterte: „Das ist es eben. Am Tag vor Heiligabend saß Dieter bis nach Mitternacht ganz allein da drüben und führte Selbstgespräche. Er bestellte immer zwei Glühweine auf einmal, und als er ging, war er total blau. Er sagte, er gehe jetzt mit seinem Freund Angelo nach Hause. Ich habe nur keinen gesehen, verstehst du?“
Willi nickte besorgt. „Klar. Weihnachten drehen ja manche durch. Armer Kerl.“
Dieter kam mit seiner leeren Tasse und stellte sie auf den Tresen. „Ich gehe jetzt, Jan. Ach noch etwas.“ Er kramte umständlich in seiner Hosentasche und legte eine Münze auf den Tresen. „Die hat mir Angelo geschenkt. Ich habe sie einem Fachmann gezeigt. Stellt euch vor, sie wurde sechshundert vor Christus in Lydien geprägt. Eine Rarität, damals gab es nämlich noch kein geprägtes Geld. König Kroisos hatte – was ist denn? Was guckt ihr so? Ach, von Geschichte habt ihr beiden doch keine Ahnung.“ Dieter umschloss die Münze mit seiner Faust. „Die ist tausend Euro wert, aber ich verkaufe sie nicht. Niemals.“