Diarrhoe (Senryū)

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Mimi

Mitglied
Sieh an, James Blond, Dein Interesse für japanische Kurzlyrik scheint wohl doch geweckt worden zu sein...

Momentan scheint es so, als würde in der Lupe so etwas wie ein Haiku- und Senryū-Contest laufen...
und laufen musste der arme Pianist sicherlich auch in Deinem Senryū.
Na ja, solange das werte Publikum "nur" die Klospülung hören muss, geht's ja noch...
(Vielleicht ist die sogar "angenehmer" als sein Geklimper)

Gruß
Mimi
 

James Blond

Mitglied
Liebe Mimi,

mein Interesse daran besteht schon länger, allein die Skepsis gegenüber solchen verdeutschten Formen hat eher zugenommen. Man sollte vorsichtiger im Verständnis fremder Kulturen und eigener Sichtweisen darauf sein, sonst wird es schnell zur Dilettantenrutschbahn. Für mich ist dies eher Gedankenkunst denn Sprachkunst. Man merkt, dass sie den Verfassern deutscher Poesie eigentlich schwer fällt, weil sie mit ihrem üblichen Sprachinstrumentarium daran nur scheitern.

Erinnerst du dich an unser Gespräch über Parodien und die Frage, ob und wie man dergleichen parodieren kann?
Dies hier sollte nun (m)ein erster Versuch sein. Senryūs sollen ja humorvoll sein, die Naturbeobachtung wurde dabei in den Darm verlegt, bleibt unsichtbar – aber hörbar präsent.

Aber vielleicht ist es ja ein avantgardistisches Stück und der Titel bezieht sich - wörtlich übersetzt - auf eine klangvolle Leckage ... ;)

Grüße
JB
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Man sollte vorsichtiger im Verständnis fremder Kulturen und eigener Sichtweisen darauf sein, sonst wird es schnell zur Dilettantenrutschbahn. Für mich ist dies eher Gedankenkunst denn Sprachkunst.
Goldene Worte, James. Zumindest bedenkenswert, gründlich und grammfein zu erwägen.

Zum Bedenken (in positiver Bedeutung des Infinitivs) gehört gewiß auch: Daß Denken und Sprechen so ineinander verhakt sind, daß eine Sprachkunst ohne Gedankenkunst im ersten Ansatz nicht möglich zu sein scheint. Ach ja, es gibt pure Klanggedichte. Also vielleicht umgekehrt: "Gedankenkunst geht nicht ohne Sprachkunst." Das hieße: Die Gedankenkunst der logischen und mathematischen Antinomienforschung und Pi-Spekulationen usw. gestaltet sich immer, ganz von alleine, auch an der Oberfläche, in einer Form, die, weil sie bis in die Feinheiten ihrer Formulierung durchdacht ist, Sprachkunst ist.

Das geht über Ironie und Persiflage weit hinaus.

grusz, hansz
 

James Blond

Mitglied
"Gedankenkunst geht nicht ohne Sprachkunst."
Nun ja, das stimmt natürlich. Und auch jenseits mathematischer Antinomienforschungen oder Pi-Spekulationen.

Selbst wer eine (brauchbare) Gebrauchsanleitung verfasst, betreibt Sprachkunst, indem er eine Sprache entwickelt, die diesem Zweck angemessen ist. Und das gilt selbstverständlich auch für Haikus & Co. Worauf ich dennoch hinweisen wollte, ist, dass hier allein die Gedankenkunst im Vordergrund steht, der die Sprache möglichst widerstandslos zu folgen hat. Das ist in der westlichen Tradition der Lyrik nicht unbedingt so. Hier führt auch gern die Sprache Regie über die absichtsvollen Gedanken, denen es zukommt, aus den Sprachkapriolen etwas Zusammenhängendes zu basteln. Ein Blick auf deine Texte bestätigt mir dies.

...scheint nicht nur so, ist so.
Ich hatte schon immer ein Faible für Fettnäpfchen ...

Grüße
JB
 
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Ja, James.
Der Haiku-Wettbewerb kommt lansam in Sicht.
Und es ist bestimmt schon der sinnvolle Blick auf den Fluchtpunkt im Horizont, sich über das Verhältnis von Sprachkunst und Gedankenkunst im Feld der Zen-Ästhetik Gedanken zu machen.
Zunächst würde ich den Grundgedanken kurz so fassen: Der Haiku ist nicht Gedankenkunst in dem Sinne des pointierten Witzes. Deshalb hast Du Dein Exemplar hier oben ja auch nicht als "Haiku" in strengen Sinne, sondern als "Senryû" spezifiziert.

Es wird darum gehen müssen, die "Dilettantenrutschbahn" zu vermeiden. Oder, umgestülpt, es kann darauf ankommen, aus den vielen dilettierenden Vorschlagen die herauszufischen und hoch zu bewerten, die der Zenästhetik entsprechen. Na, das wird noch was.

grusz, hansz
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Worauf ich dennoch hinweisen wollte, ist, dass hier allein die Gedankenkunst im Vordergrund steht, der die Sprache möglichst widerstandslos zu folgen hat. Das ist in der westlichen Tradition der Lyrik nicht unbedingt so.
sehr schwierig ... die sprache ist jedenfalls nüchterner und erscheint uns "westlern" vielleicht nur als zweitrangig, andererseits die hinwendung zu bestimmten (eingedeutscht) schlagworten und redewendungen im haiku ... auch der gewissen epigonalität der haiku tradition in japan, wo lange zeit derjenige ein besonders guter dichter war, der bis zu einem gewissen grad kopieren konnte ...

was aber eigentlich viel interessanter ist, ist die art der gedankenkunst, ihre darstellung. wir sind es im westen ja gewohnt analytisch zu denken. ein problem wird in seine einzelteile zerlegt und vom kleinsten atom aus, auf die gesammte struktur rückgeschlossen, während lange zeit (heute ja auch nicht mehr ...) in dem buddhistisch geprägten japan, das ganze als ganzes, als einheit, im vordergrund stand, das es anzudeuten, nicht aber zu zerlegen gilt. kein wunder, bei einer kultur, deren kulturell-religiöse nahrung die einigkeit des seins war. das sieht man an deinem senryu auch sehr gut; hier mal das berühmteste haiku der welt;

uralter teich
ein frosch springt hinein
o das geräusch des wassers

basho soll dieses gedicht direkt nach der frage, wie weit er bei seiner meditation gekommen sei, geschrieben haben. und so erschein es mir direkt, es scheint auf der hand zu liegen; aha - ein moment, wie es ihn tausende male gab, gibt, geben wird - das ewig gleiche im augenblick, das ganze im augenblick, - im augenblick das ganze, das sein, - erleuchtung. da muss man nicht drüber nachdenken, der sinn erscheint, man entdeckt ihn nicht, zumindest dann, wenn man aus zen sicht an den text geht.

bei deinem senryu ist das ganz anders; hier wird im gegensatz zu basho kein entindividualisierter moment beschrieben, sondern, in westlicher manier, ein individuell aufgeladener moment. die erste frage, die ich mir nach dem lesen stelle, ist - was will der james damit sagen, will er überhaupt etwas sagen und wenn ja, warum dann gerade dieses bild ... und das zerlegen beginnt.

lg
patrick
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 15780

Gast
Es geht bei James' Senryu, Patrick,

vielleicht weniger um ein Zerlegen in logische Schritte, sondern um den Witz in der Spannung (und Sprengung) der Erwartung der Hörer.
Und dadurch ist es kein Haiku, denn ein Haiku ist erwartungslos.

grusz, hansz
 

Patrick Schuler

Foren-Redakteur
Teammitglied
Und dadurch ist es kein Haiku, denn ein Haiku ist erwartungslos.
guter einwand, und damit verwoben - es ist pointenlos, feststellend und damit festgestellt, aber nicht überraschend überrumpelnd (wie bei james). ob das bei einem senryu durchgeht? keine ahnung, aber das entscheidet ja der leser, also ... why not?
 

James Blond

Mitglied
Ihr lauft euch schon warm für den anstehenden Contest, gell? :)

Und zeigt damit schon mal auf, mit welchen Schwierigkeiten die Jury zu kämpfen haben wird.
Mir diente als Anlass zu dieser Parodie ein modernes Zweizeilen-Haiku, an dem mich nach der Aufhebung der Heiligen Haiku-Dreizeiligkeit die Paradoxie der formlosen festen Form faszinierte, die nunmehr dank eines päpstlichen Beschlusses der Deutschen Haiku Gesellschaft nicht mehr als Häresie geahndet wird.

Demgegenüber lässt sich auch ganz ohne die Bemühung von geistlichen Autoritäten mit hoher Sicherheit feststellen, dass ein Haiku (oder Senryū) erwartungslos ist, denn derartige Eigenschaften besitzen Texte eigentlich nie. Man ist im Allgemeinen schon zufrieden, wenn sie lesbar sind. Die Erwartungen des Lesers lassen sich allerdings schwer prognostizieren. Wer allerdings verstehend liest, wird um Erwartungen, das Nachfolgende betreffend, nicht ganz herum kommen.

Eine Pointe spielt mit der Erwartung, die überraschend anders aufgelöst wird und die Frage, ob Überraschung zum Wesen eines Haiku gehört, wird ziemlich oft bejaht: Überraschung: Eine Erwartung wird geweckt, damit Spannung aufgebaut – dann wird überraschend aufgelöst.

Für meine Parodie war eine Pointe unverzichtbar und ich bin Patrick sehr dankbar, dass er das berühmte Froschtümpelplumps-Haiku zitiert hat, in dem es ebenfalls um ein Wassergeräusch ging, das dem meditierenden Ich die Ganzheitlichkeit Welt erfahren lässt. Hier steht das 'o' im 3. Vers für die Überraschung einer offenbarten Erkenntnis: Das Ewigganze erfahrbar in einem Augenblick, wie es Patrick nannte.

Wie eben auch beim Lauschen der Wasserspülung. Denn sind wir Menschen nicht so geartet, dass wir, aufbrechend zu ästhetischen Höhenflügen, ständig wieder zurückgerufen werden in die Niederungen unseres physischen Seins? Spiegelt sich darin nicht die ganze Ambivalenz unserer Existenz? Nichts anderes versucht uns dieses Senryū auf humorvolle Weise zu vermitteln. Schlicht, aber genial ... ;)

Gern geantwortet.

Liebe Grüße
JB
 



 
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